Janosch Schobin im Gespräch

Zusammen überleben

In der Europäischen Union ist die Zahl der Eheschließungen seit Jahren schon im Sinkflug während die Zahl der Scheidungen steigt. Wo Paarbeziehungen, die eigentlich auf Dauer angelegt waren, scheitern, wo Familienbande loser werden und an Bedeutung verlieren, da entsteht eine Lücke, von der Freundschaften möglicherweise profitieren. Schließlich können sich Freunde doch genauso gut umeinander kümmern wie Ehepartner - oder? Darf man von Freunden überhaupt erwarten, dass sie uns nützlich sind? Janosch Schobin hat sich mit solchen und ähnlichen Fragstellungen befasst.

(Bild: Stocksy / Cactus Blai Baules)

Kühle Berechnung und tiefe Zuneigung – ist das ein Widerspruch oder lässt sich in einer Freundschaft beides auch zusammen denken?
Historisch betrachtet ist die Idee, dass Freundschaften nicht unbedingt an einen konkreten Zweck gebunden sind und man zwischen Freunden und Geschäftspartnern unterscheiden sollte, relativ neu. Man kann ihren Ursprung in der schottischen Aufklärung im 18. Jahrhundert verorten. Im heutigen Alltagsleben ist es so, dass sich Freundschaft und Nutzen ergänzen, dass man also beispielsweise seinen Freunden durchaus auch Geld leiht. Konsequenter sind wir in der Regel eher in der Umkehrung: Es gibt eine Übereinkunft, dass man seine Freunde nicht nur deshalb haben sollte, weil man sich einen konkreten Nutzen von ihnen verspricht – und das ist universal gültig. Im internationalen Vergleich wurde einmal die Frage gestellt, ob es in Ordnung sei, eine Freundschaft nur deshalb einzugehen, weil der Freund einen ganz bestimmten Gewinn bringt. Dafür wurden Menschen in 28 Ländern befragt, darunter Südafrika, Japan, Neuseeland, Europa, USA, Chile – eine sehr globale Studie also. Die Zustimmung war überall niedrig, nimmt allerdings in reicheren Gesellschaften noch einmal ab. Und das ist ja auch sinnvoll. Wenn du in deinen Lebenszusammenhängen darauf angewiesen bist, dass andere dir helfen, weil zum Beispiel der Staat, in dem du lebst, dir nicht hilft, dann bist du etwas eher geneigt, nützliche, hilfreiche Freundschaften eingehen.

Aber sind Freundschaften nicht immer von Eigennutz -getrieben? Wir haben unsere Freunde doch nicht nur zum Spaß!
Natürlich spielen unsere Freunde im Hinblick auf unsere Existenz eine wichtige Rolle. Es gibt in der Freundschaftsethik seit der Antike das klassische Bild der doppelten Geiselgabe, oft dargestellt als zwei Krieger, die Rücken an Rücken stehen. Und diese beiden können nur überleben, wenn sie sich gegenseitig Deckung geben und keiner den anderen übers Ohr haut. Das heißt, man kann nur zusammen überleben und muss für dieses Überleben ständig Opfer bringen. Das ist das Grundbild. Darin eingelagert ist das, was Freundschaften kennzeichnet: Dass man sich füreinander verletzbar macht und dass man existenzielle Risiken, die der andere hat, für ihn absichert, weil er die nicht selber absichern kann. Die Frage ist allerdings: Hat dieses Bild in der Moderne noch einen Ort? Ich meine: ja. In dem Maße, wie das Leben nicht mehr durch Zugehörigkeiten zu sozialen Klassen und durch die Eingebundenheit in soziale Strukturen vorherbestimmt ist, in dem Maße also, wie wir frei sind, das eigene Leben zu wählen und zu gestalten, stellt sich die Frage: Wie soll ich das eigentlich tun? Was sind meine Möglichkeiten? Und das machen Menschen gerne in Gesprächen mit ihren Freunden aus, die dabei eine wichtige Rolle als Ratgeber und kompetente Bezugspersonen haben. Salopp gesagt: Fast jeder hat Seiten, die er an sich selber nicht sehen kann, man hält sich beispielsweise für sehr bescheiden, ist aber eigentlich total auftrumpfend, man hält sich für einen guten Zuhörer, bekommt in Wahrheit aber sehr wenig mit im Gespräch – hier sind Freunde bedeutsam, weil sie Informationen über uns sammeln, die für uns selbst unverfügbar sind. Und sie weisen auf diese Informationen hin und machen dadurch die Gestaltung des eigenen Lebens möglich. Was will ich? Was treibt mich an? Für diese Fragen brauchen wir Freunde. Sie helfen uns dabei, die eigene Existenz zu begreifen.

Das heißt, unsere Freunde nehmen uns bestimmte Illusionen, die wir von uns haben. Ist das angenehm, wollen wir das wirklich?
Die Statistik sagt, dass die Bereitschaft, enge Freundschaften einzugehen in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft ein wenig zugenommen hat: Seit Mitte der 80er Jahre gibt es einen leichten Anstieg der Anzahl an Menschen, die mindestens einen engen Freund haben, mit dem sie wichtige Dinge besprechen. Es sind aber insgesamt immer noch eher wenig Menschen, in Deutschland etwa jeder Dritte. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch gefragt, von wem man sich eine unangenehme Wahrheit sagen lassen würde. Hier ist der Anteil der Menschen, die so jemandem haben, zumindest in den letzten 10 Jahren stabil. Interessant ist dabei, wie das in der Praxis funktioniert, denn das hängt stark von der jeweiligen Beziehung ab. Ich selbst habe Freunde, von denen ich mir tatschlich alles Mögliche sagen lassen würde, aber es gibt auch Menschen, die so eine direkte Ansprache nicht mögen. Und deshalb haben Freundschaften immer beziehungsspezifische Kommunikationsformen, das heißt, der eine weiß, wie eine bestimmte, möglicherweise heikle Information verpackt sein muss, damit der andere sie auch annehmen kann. Es gibt in Freundschaften diesen Moment der Offenbarung, in dem man etwas über die Wahrheit des anderen erfährt. Um damit umzugehen entwickeln Freunde eine vertrauliche Art, über Schwächen und Verletzlichkeiten zu reden, ohne, dass diese direkt thematisiert werden müssen. Das ist dann eine Art Geheimniskommunikation, die von Außenstehenden nicht verstanden werden kann und soll.

Vielleicht braucht man diese Art des verschlüsselten Sprechens auch, damit es etwas leichter wird, über die eigene Bedürftigkeit zu sprechen und sich vor einem anderen Menschen angreifbar zu machen.
Das ist psychologisch sicherlich richtig. Freundschaften basieren darauf, dass man sich voreinander verletzbar macht. Allerdings sind die meisten Freundschaften nicht besonders intim, sondern auf bestimmte Lebensaspekte beschränkt. Dann ist auch die Verletzbarkeit, die man dem anderen zeigt, an diese eine Sache gebunden und leichter zu ertragen. Richtig heikel wird es tatsächlich erst bei Intimfreundschaften. Denn natürlich ist es schwer, sich angreifbar zu machen, das muss man lernen. Und zugleich muss man umgekehrt in der Lage sein, dem Freund etwas von dieser Last abzunehmen, es ihm leichter zu machen, seine Verletzlichkeit zu präsentieren.

Wenn Freundschaften nützlich sind und uns bei der Gestaltung unseres Lebens helfen, sollte ich mir dann nicht vielleicht ab der Mitte des Lebens jüngere und fittere Freunde suchen, die mir auch dann noch zur Seite stehen können, wenn ich alt und gebrechlich werde?
Solche Überlegungen haben in der Praxis tatsächlich eine gewisse Logik, weil Pflege meist erst in den letzten Lebensjahren eine Rolle spielt. Freunde sind aber oft etwa gleich alt. Dadurch ergibt sich ein Problem, das sich auch unter miteinander alt gewordenen Lebenspartnern stellt: dass man gemeinsam in eine Bedürftigkeit hinein altert. Man braucht schon einen größeren Altersunterschied, damit das statistisch nicht zu oft passiert. Allerdings ist Pflege nicht ganz einfach und in der Regel noch sehr weiblich dominiert, d.h. Männer wissen oft gar nicht, wie man das macht, die haben keine Erfahrung damit. Wenn Männer also pflegende Aufgaben füreinander übernehmen wollen – und die Freunde von Männern sind eben häufiger Männer – dann stehen weniger Leute zur Verfügung, die überhaupt über das entsprechende Know-How verfügen. Frauen sind da privilegierter, die haben eher andere Frauen, mit denen sie eng befreundet sind. Ein weiteres Problem ist, dass Freundschaften eigentlich auf das Möglichmachen der Autonomie des anderen hinauslaufen. Und Pflege passt in dieses Spiel nicht hinein. Pflege im hohen Alter ist meistens unumkehrbar und einseitig, das heißt, ich werde das, was ich an Pflege erhalten habe, vermutlich nicht zurückgeben können, zumindest nicht der gleichen Person. Trotzdem wird jeder, der schon einmal ein Altenheim von innen gesehen hat, wissen, warum man über so etwas nachdenken sollte.

Allerdings sind Freunde mit größerem Altersunterschied nicht gerade häufig.
Stimmt, und sie sind besonders selten, was Intimfreundschaften angeht. Pflege ist aber eine sehr intime Tätigkeit, weswegen häufig Ehepartner eher dafür akzeptiert werden als eigene Kinder oder Freunde. Die Art und Weise, wie wir unsere Freunde finden, ist einfach nicht darauf ausgelegt, dass wir altersdifferente Intimfreundschaften schließen: In der Schule und im Studium ist man mit Gleichaltrigen zusammen, der Arbeitsplatz später ist dann schon nicht mehr unbedingt der Ort, wo man wirklich intime Freundschaften pflegt.

Und ist es nicht auch so, dass altersdifferente Menschen sich eben nicht so ähnlich sind, es aber einer bestimmten Ähnlichkeit bedarf, um miteinander intim sein zu können?
Freunde sind sich in der Tat meistens ähnlich, die Frage ist aber: Waren sie das von vornherein oder sind sie mit der Zeit ähnlich geworden? Wir wissen, dass beides passiert, dass sich beispielsweise gerne Menschen mit ähnlicher Herkunft und vergleichbarem sozio-ökonomischen Hintergrund anfreunden. Dazu kommen Annährungen in Bereichen, die veränderbar sind, zum Beispiel die politische Einstellung, bestimmte Konsumvorlieben, der Musikgeschmack – all das wird von Freundschaften sehr stark beeinflusst. Das heißt, die Ähnlichkeit von Freunden erklärt sich auch durch den Prozess der Freundschaft selbst und dabei spielt dann ein Altersunterschied keine entscheidende Rolle mehr.

Gibt es etwas wie einen globalen Kern von Freundschaft? Bestimmte Ansprüche, die überall auf der Welt gestellt oder eingelöst werden?
Das grundlegende Schema von Freundschaften ist immer gleich: Man übergibt eine Form von Information, durch die man sich selbst verletzbar oder die eigene Existenz angreifbar macht. Das ist seit der Antike DER Bindungsmechanismus, der Freundschaft überall kennzeichnet, eine gesellschaftliche Universalie, über Zeit und Raum hinweg. Unterschiedlich ist, wie wir dieses Schema gestalten, was das Lebenspfand ist, das wir einsetzen. In der Antike war es Blut als Zeichen der Ehre, als Sitz der Seele, das zieht sich auch durch die europäische Geschichte. Die Symbolik ist immer: Wir überleben nur zusammen, ich mache mich für dich verletzbar und du machst dich für mich verletzbar. Wie ich eine Freundschaft ausgestalte, hängt also immer von der eigenen Existenz ab und was meine individuellen Risiken dabei sind.

Gibt es einen Klassiker, woran Freundschaften scheitern?
Oft ist es Geheimnisverrat. Noch üblicher aber ist, dass Freundschaften einfach einschlafen. Sie sind nämlich nicht unbedingt auf ewige Dauer angelegt, sondern basieren darauf, immer wieder durch Rituale reproduziert zu werden. Das heißt, man muss immer wieder über intime Dinge sprechen, man muss sich immer wieder offenbaren, damit die Freundschaft weiter existiert. Bei uns sind Freundschaften aber keine Primärstruktur der Gesellschaft, nach der wir unser Leben ausrichten, sie sind im Allgemeinen zum Beispiel nicht einmal so wichtig wie der Beruf. Viele würden wohl für einen Job umziehen, nicht aber hinterhergehen, wenn ein Freund wegzieht. Und so trennen sich Lebenswege und Freundschaften hören auf. Ich könnte mir aber vorstellen, dass sich da etwas ändert. Einen Freundeskreis aufzugeben und nur mit dem Partner an einen anderen Ort zu gehen kann unter Umständen nämlich mehr Steinchen ins Rollen bringen, als einem lieb ist. Beispielsweise zieht das etwas von der sekundären Stabilisierung einer Liebesbeziehung ab, die dann vielleicht gefährdet ist. Und vieles im Leben hängt ganz eng organisch zusammen, wir wissen zum Beispiel, dass sich Scheidungen in einem Freundeskreis oft epidemisch ereignen. Für eine vermeintlich lebenspraktische Entscheidung wie ein etwas höheres Einkommen das soziale Netz aufs Spiel zu setzen, ist deshalb riskant. Ab einem gewissen Alter würde ich das nicht mehr empfehlen – aber das ist jetzt sehr normativ, so sehe ich das einfach ganz persönlich.

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Janosch Schobin untersucht als Soziologe unter anderem die gesellschaftliche Bedeutung von Freundschaften. Von 2006 bis 2015 war er am Hamburger Institut für Sozialforschung, in dieser Zeit ist sein Buch "Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel" erschienen, danach der Titel "Freundschaft heute: Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie". Derzeit leitet er die Nachwuchsgruppe "Gamifizierung als soziologisches Problem" an der Universität Kassel.

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