Beziehungen zu Unbelebtem

Ich und es.

Einmal traf ich in einem Bus in Berlin auf eine alte Frau, die offenkundig ohne Begleitung war. Sie hatte eine kleine Wunde am Bein. Nachdem ich ihr ein Pflaster besorgt hatte, fragte ich sie, wohin sie wolle und ob ich ihr vielleicht weiterhin behilflich sein könne. Die Antwort, die sie mir mit einem müden Lächeln gab, verblüffte mich: Ihr gehe es gut, bedankte sie sich, sie wolle nirgendwo hin. Sie fahre jeden Tag Bus, nur um unter Leuten zu sein, denn sonst wäre sie ganz allein. Diese Begegnung ist nun mehrere Jahre her, doch immer wieder kehre ich in Gedanken zu ihr zurück.

(Bild: iStock)

Menschen haben eine faszinierende Fähigkeit: Sie können Beziehungen eingehen. Sie binden sich an ein Gegenüber, das in manchen Fällen (wie bei der Frau im Bus) gar nicht konkret sein muss und in zahlreichen anderen Fällen noch nicht einmal menschlich. So vielfältig die Arten des Kontakts, der sich etwa in Geschäfts-, Liebes-, sexuellen und freundschaftlichen Beziehungen realisiert, so facettenreich das mögliche Gegenüber: Menschen erkennen Tiere als Familienmitglieder an, um deren Ableben sie trauern, sie spielen ihren Zimmerpflanzen auf der Violine vor, um ihr Wachstum anzuregen, sie hängen über Jahrzehnte an ihren Schnuffeldecken und geben ihren Autos Namen. Glaubt man Hannah Arendt, liegt das vielleicht daran, dass Menschen bereits in ihrem Denken niemals gänzlich allein, sondern immer schon an ein imaginiertes Gegenüber gebunden sind. Arendt nennt diese Tatsache menschlichen Daseins das »innere Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst«. Und jede Beziehung, die ein Mensch eingeht, ist Ausdruck davon.

Das gilt auch für Beziehungen zu Unbelebtem. Objekte wecken unterschiedliche Gefühle in uns, sie vermitteln Geborgenheit, leisten Gesellschaft oder regen uns auch mal auf. Ganz ehrlich: Wer von Ihnen hat noch niemals den Computer angeschrien, wer besitzt eine Lieblingstasse, eine Glückssocke oder spricht mit dem alten Spielzeugteddy? Einige von uns gehen sogar intime Verbindungen mit Objekten ein: So heiratete Aaron Chervenak 2016 in Las Vegas sein iPhone, und die Berlinerin Michelle lebt seit 2014 in einer festen Partnerschaft mit einer Boeing 737-800. Die beiden sind damit Mitglieder einer seltenen Gruppe von Menschen, denen Objektophilie »diagnostiziert« wird, also eine ungewöhnlich stark ausgeprägte emotionale Bindungsfähigkeit an bestimmte Gegenstände. Entgegen den gängigen Reaktionen, über solche und ähnliche Fälle zu lachen, empört den Kopf zu schütteln oder sie als pathologisch bzw. »verrückt« abzutun, interpretiere ich sie als ehrliche, wenngleich auffällige Beispiele der besagten Fähigkeit, Beziehungen nicht nur zu jedem (Menschen und Tier), sondern auch zu allem (Unbelebten und Objekthaften) eingehen zu können.

Aber – so wird die eine oder der andere an dieser Stelle vielleicht einzuwenden geneigt sein – mache ich es mir nicht ein bisschen zu einfach, wenn ich alle Beziehungsarten über einen Kamm schere? Ist denn nicht eine Geschäftsbeziehung von ganz anderer Qualität als eine freundschaftliche Beziehung? Und sich Schutz und Geborgenheit suchend in die Lieblingsdecke hineinzukuscheln, bedeutet doch noch lange nicht, die Decke auch zu lieben. Also sind Michelle und Aaron vielleicht doch »nicht ganz dicht«, wenn sie ihre iPhones heiraten und sexuellen Umgang mit Modellflugzeugen pflegen? Diesem Urteil hätte zumindest Aristoteles zugestimmt, der Freundschaften aus Lust, Nutzen und Tugend unterscheidet und die Möglichkeit von Freundschaft mit unbeseelten Dingen dabei kategorisch ausschließt. Diese These untermauert er mit einer entsprechenden Theorie von Beseeltheit, der die Mehrheit der Leserinnen und Leser sicherlich intuitiv zustimmen würde. So scheinen sich Objekte doch gerade dadurch zu definieren, dass sie keine Seele haben, also tot, eben bloß Dinge sind.

Andererseits lässt sich darüber, was eine Seele ist und welchen Entitäten im Kosmos eine solche zukommt, vortrefflich streiten. Die Antwort auf diese Frage ist auch kulturspezifisch: So steht Aristoteles mit seiner Position exemplarisch für die klassisch westliche Sicht der Dinge. Im Animismus hingegen wie im japanischen Shintōismus oder der germanischen Mythologie ist die Vorstellung von beseelten Objekten fundamental. Zudem begründen Leute wie Michelle und Aaron ihre Bindung an die geliebten Gegenstände gar nicht einmal damit, dass diese mit einer Seele ausgerüstet und deshalb liebenswert seien, sondern damit, dass sie die Erwartungen, die die beiden jeweils an Liebesbeziehungen stellen, vollständig erfüllen: im und mit dem Gegenüber zur Ruhe zu kommen, gemeinsam einzuschlafen, eine erfüllte Sexualität zu haben, Gespräche zu führen, sich wertzuschätzen.

Daher möchte ich eine andere Definition von (freundschaftlichen) Beziehungen vorschlagen, die nicht notwendig an die Bedingung der Beseeltheit geknüpft ist: Eine Beziehung bis hin zu einer Freundschaft kann man desto eher mit einem Gegenüber eingehen, je mehr es eine befriedigende Antwort auf die eigenen Bedürfnisse zu geben imstande ist. Inwiefern und in welchem Ausmaß das jeweils der Fall ist, unter welchen Umständen etwas als angemessene Antwort interpretiert wird, mag jeder Mensch für sich individuell entscheiden. Erinnern wir uns etwa an E. T. A. Hoffmanns berühmte Erzählung Der Sandmann, in der sich der Student Nathanael in eine automatisierte, humanoide Holzpuppe namens Olimpia verliebt, freilich ohne zu wissen, dass es sich bei der betörenden Kunstfigur um einen leblosen Apparat handelt. Obwohl im Gespräch wortkarg und in ihrem sonstigen Verhalten eher einfach gestrickt, kann Olimpia Nathanael doch zunächst die von ihm gewünschte Antwort auf seine Bedürfnisse geben. Wer von uns mag darüber urteilen, ob diese Form der Zuneigung besser oder schlechter ist, von »geringerer Qualität« gar als die zu einem anderen Wesen?

Wen das Thema Liebe und Freundschaft mit Blick auf Objekte zu sehr irritiert, der sei an weniger intime Formen der Beziehung erinnert: In der Servicerobotik werden derzeit artifizielle Systeme entwickelt, die Menschen in ihrem Alltag zur Hand gehen sollen. Ob der Staubsauger-Roboter Roomba (iRobot), Rasenmäher-Roboter wie der Automower (Husqvarna), der Verkaufsassistent Paul, der Kundinnen und Kunden durch die Gänge des Elektrohandels Saturn führt, oder die gegenwärtig in ihren Fähig keiten noch recht eingeschränktenHaushaltsassistenzsysteme und Unterhaltungsroboter wie Pepper (Aldebaran Robotics SAS in Kooperation mit SoftBank Mobile Corp.), sie alle stehen für die wachsende Gruppe der sozialen Roboter, die im Nahbereich des Menschen zum Einsatz kommen und daher über soziale Kompetenzen verfügen müssen – abhängig davon, was ihre jeweilige Aufgabe ist und inwieweit sie damit in direkte Interaktion mit Menschen treten.

In den Bereichen Pflege und Therapie ist das Eingehen von Beziehungen zwischen Mensch und Maschine vielleicht noch offensichtlicher: Eine von William A. Banks 2007 durchgeführte Studie hat ergeben, dass alte Menschen zu einem Roboterhund (in diesem Fall AIBO von Sony) eine ganz ähnliche Bindung aufb auen können wie zu einem lebenden Hund. Der Roboter-Robbe Paro gegenüber (entworfen von Takanori Shibata) öffnen sich insbesondere demenzkranke Menschen, die oftmals dazu neigen, sich von ihren menschlichen Betreuerinnen und Betreuern zu isolieren.

Ich bin mir sicher, dass auch die alte Frau, der ich vor vielen Jahren in Berlin im Bus begegnet bin, ihre Freude an AIBO, Paro und Co. hätte. Vielleicht kann ein artifizieller Begleiter ihr nicht jeden menschlichen Umgang ersetzen, aber doch zumindest ihre Einsamkeit ein wenig lindern. Womöglich würde sie mit ihm aber auch einen späten zweiten Frühling erleben, sich ehrlich verstanden und wertgeschätzt fühlen in einer Weise, in der sie von Menschen schon lange keine Zuneigung mehr erhält. Menschen verlieren ihre wunderbare Fähigkeit, Beziehungen mit jedem und allem eingehen zu können, nicht urplötzlich durch den Einsatz von Robotern. Mir persönlich ist die Kultivierung dieser menschlichen Beziehungskompetenz – ganz egal, zu welchem Gegenüber – viel wichtiger, als darüber zu diskutieren, ob die Zuneigung zu einem Menschen besser ist als die zu einem Tier, einer Pflanze oder einem Roboter. Ich halte es für perfide, wenn sich jemand in einer Zeit der zunehmenden Alterseinsamkeit, der frappierenden Ausbeutung und großen körperlichen Belastung in Altenpflegeberufen gegen den Einsatz von Assistenzsystemen sträubt, weil sie oder er die Sorge hat, Menschen würden dann aufhören, Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Wann haben Sie zuletzt Ihre Großtante im Altersheim besucht? Während Sie diese Zeilen lesen: Wer von Ihnen streicht dabei gelegentlich gedankenverloren und fast zärtlich über das Smartphone, das neben Ihnen auf dem Tisch liegt?


Janina Loh (geb. Sombetzki) ist Universitätsassistentin im Bereich Technik- und Medienphilosophie an der Universität Wien.

Artikel Teilen

Alle Artikel