Reformation und Wirtschaftsboom
Gespaltene Geister, gemeinsame Geschäfte
Das Zeitalter der Reformation war für Europa und die Welt ein bewegtes, nicht nur was Religion betrifft: Vormals im Glauben vereinte Menschen gingen nun getrennte Wege, alte Beziehungen in der Welt wurden neu geordnet, unbekannte Bande geknüpft und die Basis für die globalisierte Wirtschaft geschaffen. Entstand der moderne Kapitalismus gar aus dem Geist der Glaubensspaltung?
Reformation
Als Martin Luther im Herbst 1517 seine 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg anschlug, landeten - rund 9000 Kilometer weiter westlich – gerade die ersten Spanier an der mexikanischen Küste, und portugiesische Händler erreichten Taiwan. Zwei Jahre später, Luther trieb die Kirchenspaltung weiter voran, eroberte Hernán Cortés in Mexiko das Aztekenreich. Bald darauf errichteten die Europäer ein gewaltiges Kolonialsystem – und Bodenschätze aus Amerika und Asien ließen den Welthandel erblühen. Historiker sind sich einig, dass im 16. Jahrhundert wichtige Grundsteine für die Globalisierung gelegt wurden. Doch gibt es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang zwischen der Reformation und dem Aufschwung der Weltwirtschaft?
Die Überlegungen des berühmten deutschen Soziologen Max Weber (1864-1920) gehen in diese Richtung. In seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ vertrat er 1904 die These, dass zwischen dem Kapitalismus und der calvinistischen Ausprägung des Protestantismus eine „innere Verwandtschaft“ bestehe: Protestanten haben, so Weber, eine „spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus“ - was den Unternehmergeist fördere. Als Beleg führte er an, dass sich der Kapitalismus in protestantisch geprägten Ländern wie den Niederlanden, England und den USA besonders früh und erfolgreich entwickelt hat. Vor allem Calvins Leitgedanke: „Wer Erfolg hat, ist von Gott auserwählt“ habe dem Gewinnstreben Vorschub geleistet – als Ausdruck der Gottgefälligkeit. Das Provinzstädtchen Genf, wo der Kirchenreformator ab 1541 als Prediger wirkte, verwandelte sich in wenigen Jahrzehnten in eine pulsierende Wirtschaftsmetropole. Und die ganze Schweiz erlebte im Zuge der Reformation einen Aufschwung. Neben der Uhrenindustrie zeugt besonders das international verzweigte Schweizer Bankwesen bis heute davon.
Dennoch ist Webers These umstritten. Immerhin war in der frühen Neuzeit ja gerade die – erzkatholische – Handelshochburg Venedig das Paradebeispiel einer blühenden Businessmetropole. Auch der katholische Jesuitenstaat in Südamerika prosperierte. Und in Augsburg, wo die Reformation im frühen 16. Jahrhundert besonders viele Anhänger fand, blieb ausgerechnet Jakob Fugger, der Chef des weltweit führenden Bankhauses und Pionier der internationalen Handels- und Finanzwirtschaft, katholisch. Martin Luther dagegen, der wichtigste Kirchenreformator, tat sich als Bremser der Globalisierung hervor. Als er von der Entdeckung neuer Länder in Übersee hörte, interessierten ihn diese ausschließlich als Wirkungsfelder für die christliche Mission. Den internationalen Finanz- und Warenverkehr hielt er für Teufelszeug. Denn durch den Import fremdländischer Luxusgüter wie Goldschmuck, Samt und Seide werde das Geld wie auf einem „grossen schiff ausz deutschen landen gefuret“. Luther fürchtete eine Deflation (sinkendes Preisniveau aufgrund einer zu geringen verfügbaren Geldmenge) in der Heimat und plädierte für den Verzicht auf jegliche exotische Kostbarkeiten. Die Zukunft sah er in der bäuerlichen Tradition, nicht im globalen Handel. Der Bankiersfamilie Fugger aus Augsburg und „dergleychen geselschafften“ („ähnlichen Gesellschaften“) wollte er „ein zawm ynsz maul legen“ („einen Zaum ins Maul legen“).
Viele Experten glauben denn auch, dass der Aufstieg der Schweiz und vieler weiterer Länder zu Wirtschafts- und Handelsmächten im 16. Jahrhundert weniger mit neuen theologischen Überzeugungen durch die Reformation zu tun hatte. Entscheidend sei vielmehr die Masseneinwanderung von Fachkräften gewesen – ein indirekter Einfluss der Kirchenspaltung: Hunderttausende Protestanten flohen im 16. und 17. Jahrhundert im Zuge blutiger Glaubenskriege, die durch die Reformation entfesselt worden waren, aus Frankreich, Italien und weiteren Ländern Europas - und viele suchten in der Schweiz Schutz. Ein Großteil der Flüchtlinge war gebildet und hoch qualifiziert. Insbesondere Calvinisten aus Frankreich (Hugenotten) gaben dem Schweizer Wirtschaftsleben neue Impulse.
In Nordamerika, Schweden, den Niederlanden, Großbritannien, Deutschland, Russland und Südafrika siedelten sich ebenfalls gut ausgebildete protestantische Flüchtlinge an. Und manche Historiker glauben, dass sich ohne die Einwanderung von Hugenotten das unbedeutende Ackerbaustädtchen Berlin nie zur späteren deutschen Metropole entwickelt hätte.
Nicht immer war es allerdings die Glaubensspaltung, die sich auf die Wirtschaft auswirkte. Manchmal führten wirtschaftliche Gegebenheiten auch zur Annahme eines anderen Glaubens: Ins österreichische Salzkammergut etwa brachten Salzhändler die Schriften Martin Luthers schon, als sein Name in vielen anderen Gebieten des heutigen Österreich noch kaum bekannt war. Der Lohn der Knappen im Salzbergwerk war so niedrig, dass kein Geld übrig blieb, um Ablassbriefe zu erwerben. Luther, der die Käuflichkeit des Seelenheils ablehnte, wurde unter den Bergarbeitern schnell populär und der Protestantismus etablierte sich in der Gegend um Hallstatt daher bereits in den 1520er Jahren. Weil die Salzindustrie die Arbeitskräfte dringend brauchte, blieben die katholischen Habsburger jahrzehntelang tolerant gegen die „protestantischen Umtriebe“ im Salzkammergut.
Theologische Streitigkeiten hin oder her: Menschen, mit denen man Geschäfte machen kann, sind zumindest keine Feinde. So ließ zwar die Stadtverwaltung von Venedig 1527 Luthers Schriften öffentlich verbrennen. In der Fondaco dei Tedeschi am Canale Grande aber, der Niederlassung der deutschen Kaufleute, durften weiter protestantische Gottesdienste gefeiert werden. Und die venezianischen Kollegen behandelten die Händler aus dem Norden beinahe freundschaftlich. Die Geschäfte gingen eben vor.
Chance ergriffen
Auch die frühe Firmengeschichte von Gebrüder Weiss fällt in die Zeit der Reformation. Und was sich damals am Bodensee zutrug, verdeutlicht, wie unternehmerisches Denken mitunter die verbissensten (theologischen) Grabenkämpfe zu umschiffen vermag: Das Unternehmen ging aus dem Expressdienst „Mailänder Bote“ hervor, der durch die Via Malaschlucht und über den 2100 Meter hohen Splügenpass zwischen Lindau und Mailand Briefe, Waren und Passagiere beförderte. Ab dem 16. Jhd. waren nicht mehr Bürger aus Lindau, sondern vereidigte Fuhrleute vom gegenüberliegenden Ufer des Bodensees aus Fußach – darunter die Familien Spehler und die Vis (Weiss) – als Boten im Einsatz.
Das kam so: Im Zuge der Reformation wurde die Stadt Lindau 1528 protestantisch. Die katholischen Mailänder aber akzeptierten keine „Ketzer“ als Boten. Durch die Inquisition in Mailand kam es zu Schwierigkeiten für Bürger aus Lindau. Daher gingen die Lindauer Handelsherren dazu über, statt (protestantische) Mitarbeiter aus ihrer Stadt Katholiken aus dem nahen Fußach in Vorarlberg als Kuriere nach Italien zu schicken. Diese Chance wiederum nutzte unter anderem die katholische Familie Vis (Weiss) – Urahnen der heutigen Eigentümerfamilie von Gebrüder Weiss – um sich durch Generationen im Transportwesen über die Alpen verantwortlich zu engagieren.
Till Hein, geboren 1969, ist freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.