Hamburger Hafen

Alles fließt

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#15 Wissen
2021

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Oliver Driesen

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Patrick Ohligschläger

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Air & Sea
Logistik
Reportage

Der Hamburger Hafen ist ein maritimes Gesamtkunstwerk. Geschaffen wird es jeden Tag neu – als Collage aus Geschäften, Gezeiten und Gesichtern. Mit schöpferischer Energie passt sich Deutschlands wichtigster Handelshafen seit Jahrhunderten dem Wind des Wandels an. Doch die Corona-Pandemie hat auch im Schatten der Containerbrücken Spuren hinterlassen.

Normalerweise mehr unterwegs: Barkassen an den St. Pauli-Landungsbrücken am Nordrand des Hafens.

Kurz vor Mitternacht am letzten Tag des Jahres 2020 fährt ein fast leerer Zug der Hamburger Hochbahn in die Station Baumwall am Hafen ein. Hier, wo sich normalerweise Zehntausende zum Silvesterfeuerwerk an der Waterkant drängen, steigt mit wenigen anderen Fahrgästen ein mittelaltes Ehepaar aus – und zögert auf dem Bahnsteig nach wenigen Schritten. Von der Uferstraße her, auf der statt Menschenmassen nur Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht unterwegs sind, empfängt eine Lautsprecherdurchsage die Neuankömmlinge: »Hier spricht die Polizei Hamburg! Im Rahmen der Corona-Maßnahmen gilt im Bereich Elbufer Versammlungs- und Alkoholverbot! Das Abbrennen von Feuerwerkskörpern ist untersagt!«

Das Paar wechselt Blicke, wandert dann aber weiter in Richtung Elbphilharmonie. Hinunter zum Fluss, der sich dunkel unter einem schwarzen Himmel dahinwälzt. Als es Zwölf schlägt, flüchten sich die beiden in die tiefsten Schatten des verwaisten Traditionsschiffhafens in der HafenCity, um auf dem sacht schaukelnden Ponton verstohlen mit Sekt aus Plastikbechern anzustoßen. Plötzlich kommt aus einem der umliegenden Wohnblocks ein junger Mann hinzu. Einen gehörigen Abstand wahrend stellt er sich fast schüchtern vor: »Hallo, ich bin Linus. Hättet ihr was dagegen, wenn ich hier eine Rakete steigen lasse?« Nein, hätten sie ganz und gar nicht. Wenige Sekunden später erblüht hoch über den Masten der alten Segler mit poetischer Pracht eine einzelne, orangegelbe Riesenblume. So begrüßt doch noch ein Funke Lebensfreude das neue Jahr an der Elbe.

Über Jahrhunderte gewachsen Der Hamburger Hafen hat allerdings schon viel dunklere Zeiten überstanden. Wann immer es nötig war, trotzte er bis dahin unbekannten Herausforderungen und erfand sich einfach neu. Zum Beispiel 1862, als die Welt sich durch den Siegeszug der Dampfmaschine radikal verändert hatte: Nicht nur bot sich nun die Eisenbahn für den Güter-Austausch mit dem Hinterland an, auch immer mehr Dampfschiffe kamen vom Meer her die Elbe hinauf. Das erforderte eine ganz andere Infrastruktur für den Güterumschlag als die alten Handelssegler aus den Zeiten des Barock. Aber welche? Einen Dockhafen nach dem Vorbild Londons, mit gemauerten Schleusenbecken zum Ausgleich der wechselnden Wasserstände? Hamburg entschied sich lieber für etwas viel Großzügigeres: einen offenen Tidehafen. Ohne enge Schleusen, dafür mit Schuppen, Kränen – und Gleisanschluss direkt am Kai. Eine Einladung für weiteres Wachstum in alle Himmelsrichtungen.

Selbst die katastrophale Bombardierung im Zweiten Weltkrieg war nicht der Untergang des Hafens. Obwohl bei Kriegsende 1945 etwa 3.000 Schiffswracks die Hafengewässer fast unpassierbar machten und die zu 90 Prozent zerstörten Anlagen auf die Leistungsfähigkeit vor Einführung des Tidehafens zurückgebombt worden waren, ließ der Wiederaufbau nicht lange auf sich warten. Auch dank neu eingeführter Umschlagtechnik wie dem Gabelstapler und Tausender kräftiger Hände von Tagelöhnern war der Hafen schon ein Jahrzehnt danach bestens auf die große Zeit der Stückgutfrachter eingerichtet. Mit Säcken und Kisten voller Gewürze, Kaffee oder Bananen in den Frachträumen setzten sie auf allen Weltmeeren Kurs Richtung Hamburg.

Axel Mattern sieht dem Aufschwung entgegen

Die Blechboxen-Revolution
Um 1970 folgten ihnen die ersten Containerschiffe. Das sorgte für eine weitere Revolution der Logistik: keine Lagerschuppen mehr, dafür »Terminals«. Auf diesen Stellflächen am Kai stapeln sich seither die Blechboxen, die auf immer größeren Containerriesen in die Hansestadt einlaufen. Der offene Tidehafen hat sich historisch als die richtige Wahl erwiesen, während in London 1980 der Dockhafen sein letztes Schleusenbecken schließen musste: Die neue Frachtschiffgeneration passte nicht mehr hinein.

Hamburg ist und bleibt Deutschlands mit Abstand wichtigster Handelshafen: 8,5 Millionen TEU – die Abkürzung für 20-Fuß-Standardcontainer – hat Hamburg 2020 umgeschlagen. Das waren nur 7,9 Prozent weniger als im Jahr zuvor, trotz des vorübergehenden Einbruchs durch Corona. Im Wettbewerb der Welthäfen allerdings verliert die Hansestadt mehr und mehr an Boden, seit Asien mit China an der Spitze zur Werkbank der Welt und damit zur globalen Container-Drehscheibe aufstieg. Zuletzt lag Hamburg im Weltmaßstab noch auf Platz 14. Auch in Europa mussten Marktanteile an die führenden Häfen Rotterdam und Antwerpen abgegeben werden. »Das hängt damit zusammen, dass die Reedereien dort anders als in Hamburg im großen Stil an den Terminals beteiligt sind. Je größer und mächtiger die Reeder werden, desto mehr Container lassen sie über diese Terminals und Häfen laufen«, erklärt Axel Mattern. Als einer der beiden Vorstände des Vereins Hafen Hamburg Marketing spricht er für fast 300 Mitgliedsunternehmen, die zwischen Containerbrücken und Hafenkränen aktiv sind.

Es ist ein eiskalter Februartag, als Mattern vor dem Hintergrund majestätisch vorbeiziehender Containerriesen mit den Logos chinesischer Reedereien die wirtschaftliche Lage erläutert. Von niemandem sei Hamburg so abhängig wie von China, erklärt er. Jeder dritte Container im Hafen komme von dort oder fahre dorthin. Die Pandemie war daher ein harter Schlag für die Hanseaten. Weil aber Chinas dynamische Wirtschaft Corona schon seit einiger Zeit abgehakt habe, spüre auch Hamburg nun wieder deutlich den Aufschwung, sagt Mattern.

Ein einziger Containerriese wie die Matz Maersk kann bereits mehr als 18.000 Container laden.
Vom Schiff direkt auf die Schiene – oder umgekehrt. Im Hamburger Hafen ist es möglich.

In der Sprache von Hafenveteranen seines Schlages sind Containerschiffe »Eimer«, während Ladung aus »Büchsen« besteht. Seit der jüngsten Vertiefung der Fahrrinne in der Elbe, die nach satten 19 Jahren Planungs- und Baggerzeit baulich abgeschlossen ist, können sich in Matterns Worten künftig zwei Eimer mit jeweils bis zu 24.000 Büchsen aneinander vorbeizwängen. Dafür gibt es im Flussbett eigens eine »Begegnungsbox« mit passenden Maßen für die bis zu 400 Meter langen und bis zu 65 Meter breiten Ungetüme. Begegnungsbox – dieser Fachbegriff wiederum ist eine Blüte, die Bauingenieure zur blumigen Hafensprache des 21. Jahrhunderts beigesteuert haben.

Trumpfkarte Schienenanschluss
Noch größer werden die Containergiganten hier wohl nicht mehr werden, eine weitere multimillionenteure Elbvertiefung in der Zukunft ist damit unwahrscheinlich. Die Statik und Manövrierfähigkeit der Schiffe würde an Grenzen stoßen, der Trend geht derzeit eher zu energieeffizienteren und flexibler einsetzbaren, also kleineren Schiffen. Aber Hamburgs Stärke als 90 Kilometer tief im Elbstrom platzierter Hafen liegt sowieso nicht in der Anziehungskraft für die größten Ozeanriesen der Welt – da sind Tiefwasserhäfen am oder im Meer im Vorteil. Nein, es ist die Eisenbahn. Denn ab einem bestimmten Punkt geht es für Seecontainer nur über Straßen oder eben Schienen weiter ans Ziel, und umgekehrt in Richtung Meer. Der Hamburger Hafen besticht wie seit den Anfängen im späten 19. Jahrhundert durch sein immer komplexeres, heute bis nach Asien reichendes Netzwerk an Güterbahnverbindungen und Hinterland-Containerterminals. »Für Logistiker in meeresfernen Ländern wie Österreich ist das sehr attraktiv«, sagt Mattern. Insgesamt sind es 132 Containerzugverbindungen pro Woche, die Österreichische Wirtschaftsregionen mit Hamburg verbinden. Dadurch lässt sich für die Alpenrepublik deutlich mehr bewegen als mit vielleicht zwei Zügen pro Woche zu einem Mittelmeerhafen.

Ein endloses Netzwerk aus Schienen und Straßen, aus Güter- und Datenverbindungen, aus Lieferketten und Nachrichtenkanälen zu Wasser und zu Lande verbindet die Hamburger Waterkant mit dem Festland. Das Netz wird unermüdlich immer weiter ausgebaut und auf Effizienz getrimmt. An diesen kleinteiligen Verbesserungen, aber auch an kühnen Visionen zum Hafenbetrieb von übermorgen arbeitet an Dutzenden Orten in der Stadt ein Heer von Forschungs- und Entwicklungsfachleuten aus Bereichen wie Schiffstechnologie oder Logistik-Menschen wie Robert Grundmann, Diplom-Ingenieur und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Center für Maritime Logistik und Dienstleistungen (CML).

Seebär digital: der Ingenieur Robert Grundmann vom Fraunhofer Center für Maritime Logistik und Dienstleistungen.

Die Zukunft im Testlauf
Obwohl er sich in seinem Labor am Harburger Binnenhafen nicht von der Stelle bewegt, steuert Grundmann wie ein alter Seebär auf der Brücke wahlweise ein voll beladenes Containerschiff oder einen der bullenstarken Schlepper, die den Koloss durch das Labyrinth der Hafengewässer bugsieren. Seine klobige Datenbrille macht es möglich: Am digitalen Schiffssimulator des CML führt sie Grundmann als virtuelle Realität vor Augen, was in nicht allzu ferner Zukunft einmal Arbeitsalltag im Hafen sein könnte.

»Wir wollen Hafenschlepper bei An- und Ablegemanövern großer Schiffe fernsteuern«, beschreibt Grundmann das von der Bundesregierung geförderte Projekt FernSAMS. »Die Arbeit der Schlepperbesatzungen ist nicht ungefährlich. Die Fernsteuerung von Land aus macht sie sicherer und ermöglicht einen effizienteren Personaleinsatz der nautischen Spezialisten.»Wäre Corona nicht dazwischengekommen, hätte das CML-Team bereits im Herbst 2020 versuchsweise einen realen Schlepper fernsteuern können. Der Test wurde auf dieses Jahr verschoben, aber immerhin: Im Schäferhauser See in der Nähe von Stuttgart manövrierte bereits ein echter Schlepperkapitän ein Drei-Meter-Modell erfolgreich mit Datenbrille und Steuerkonsole durchs Wasser.

Das Fernziel sind Schiffe, die teilweise oder völlig autonom fahren. Künstliche Intelligenz soll auf stürmischer See und in Hafengewässern irgendwann einmal jene Entscheidungen treffen, für die heute noch menschliches Fachwissen, Erfahrung und Bauchgefühl zuständig sind: Ausweichmanöver bei Kollisionskurs, das Umschiffen von Eisbergen – oder eben sicheres Anlegen am Kai. Die Forschenden in Hamburg arbeiten schon an unbemannten Arbeitsbooten, die gemeinsam mit autonomen Miniatur-U-Booten oder Flugdrohnen beispielsweise Schiffsrümpfe im Hafenbecken inspizieren oder das Flussbett in Echtzeit vermessen. Was morgen möglich ist, wird im Hamburger Hafen jeden Tag neu definiert.

Zwischen den Barkassen schwimmt das Gotteshaus.

Engagement für Traditionen
Im selben Maß drohen allerdings die Traditionen der Vergangenheit auszusterben; sie müssen mit viel Engagement lebendig erhalten werden. Im geräumigen Bauch der Flussschifferkirche bereitet Christel Zeidler die sonntägliche Andacht vor. Hier ist der Begriff »Kirchenschiff« einmal wörtlich zu nehmen: Ein mehr als 115 Jahre alter Frachtkahn mit Liegeplatz zwischen den Touristen-Barkassen fungiert seit 1952 als schwimmendes Gotteshaus der Binnenschiffer im Hamburger Hafen – die einzige aktive Kirche auf Kiel in ganz Europa. Auch getauft und geheiratet wird an Bord.

Zeidler, ehrenamtliche evangelische Diakonin und Seelsorgerin beim Förderverein der Flussschifferkirche, entzündet unter Deck die Kerzen am rückwärtigen Altar. Dann durchquert sie den großen, mit dunklem Holz getäfelten Schiffsrumpf und läutet elektrisch die Glocke im kleinen Turm am Bug. In Zeiten der Pandemie wurde aus dem evangelischen Gottesdienst mit bis zu 90 Gläubigen das Angebot einer »offenen Kirche« für eine Stunde pro Woche. Sechs überwiegend ältere Herrschaften haben sich an Bord eingefunden – zur Einkehr mit Schutzmaske.

Die Flussschiffergemeinde – liebevoll »Flusi« genannt – existiert in Hamburg seit rund 70 Jahren. Mit den ein- und auslaufenden Binnenschiffern in Kontakt zu bleiben, erfordert vom Kirchenpersonal viel Mobilität. Dazu dient die Barkasse »Johann Hinrich Wichern«. Mit ihr fahren eine Seelsorgerin, ein Steuermann und ein Festmacher in eisfreien Zeiten regelmäßig durch den Hafen, um bei Binnenschiffen längsseits zu gehen. Von Bordwand zu Bordwand wird dann geschnackt. »Die allermeisten freuen sich sehr, wenn wir kommen«, sagt Zeidler. »Wir bringen die Tageszeitung mit, Obst, etwas Schokolade. Und wir bieten Gespräche an.«

Die allerdings können auch mal sehr traurig verlaufen: Ein Binnenschiffer, dessen Hochzeitstermin an Bord der schwimmenden Kirche bereits feststand, musste beim Besuch der Barkasse berichten, dass seine Braut überraschend verstorben war. Wenn solche Schicksalsschläge auch selten sind: »Den Binnenschiffern geht es im Hamburger Hafen gar nicht gut«, weiß Zeidler. Der Hafen sei nun mal auf die dicken Hochsee-Pötte fixiert, die Flussschiffer würden demgegenüber an den Rand gedrängt. »Wir versuchen, in den Hafengremien ihr Sprachrohr zu sein.« Eine mächtige Stimme dringt an diesem Sonntag nicht aus dem Kirchenschiff an der Hohen Brücke, das Singen entfällt wegen Corona.

Beten an Bord – nicht nur für Seeleute. Seelsorgerin Christel Zeidler kümmert sich.
Lichtkünstler Michael Batz beobachtet Kommen und Gehen in der Speicherstadt.

Massen-Events und Verlärmung
Am Ende ist es wieder Nacht geworden im Hamburger Hafen. Nur punktuell beleuchtet, ragt die Silhouette der im Jahr 1888 eingeweihten Speicherstadt vor dem dunklen Himmel auf. Einer, der den Charakter eines historischen Ortes lesen kann, ist der Hamburger Lichtkünstler und Theatermacher Michael Batz. Seine behutsame Illuminierung der kilometerlangen, bis dahin nachts fast unsichtbaren Backsteinhäuserzeile setzte vor genau 20 Jahren auf wenige Akzente aus neutralweißem Licht. Das ehrwürdige Ensemble sollte nicht überstrahlt, sondern zum Erzählen gebracht werden. Mit grandiosem Erfolg: Aus der Aktion ging eine bis heute anhaltende Dauerereuchtung hervor.

Ein ebenso regelmäßiges Lichterfest ist der Blue Port, den Batz alle zwei Jahre parallel zur Kreuzfahrtschiff Parade der Hamburger Cruise Days inszeniert. Im September wäre es wieder so weit. Doch Corona verhindert das Massenevent, bei dem blaue Neonlichter auf Schiffen, Kränen und Dächern bis zu 400.000 dicht gedrängte Menschen in ihren Bann ziehen. Blue Port ist modernes Stadtmarketing, ein optisches Knallbonbon und ungeheuer populär. Das steht in einem gewissen Gegensatz zum künstlerischen Anspruch, mit dem sich Batz von den Tourismusklischees des Hafens abheben möchte: »Es gibt zwei Welten hier, die Nord -und die Südseite. Am Nordufer ist die Spaßwelt mit der Gastronomie, den Barkassen und Reisebussen. Auf dem Südufer ist die Arbeitswelt. Dort würde niemand auf die Idee kommen, den Hafen als Sehnsuchtsort zu bezeichnen.«

Doch seit der Einweihung der Elbphilharmonie 2017 hat der Hafentourismus eine neue Dimension erreicht. Entlang der Speicherstadt dröhnten im Sommer Reisebuskolonnen und Korsos schwerer Motorräder. Unter anderem die zunehmende Verlärmung des Ortes beendete 2018 nach einem Vierteljahrhundert das von Batz geschaffene Open-Air Theaterfestival Hamburger Jedermann im historischen Ambiente. Verliert der Künstler da nicht allmählich das Interesse am Hamburger Hafen? »Nein, aber ich brauche manchmal Urlaub von ihm. Den Hafen darf man nicht stationär betrachten. Hafen ist Kommen und Gehen.« Was zum Glück meist auch bedeutet: Wiederkehr.

Oliver Driesen ist Journalist und Schriftsteller aus Hamburg.

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