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Wissenschaft – das sind wir alle

Ausgaben

#15 Wissen
2021

Text

Florian Aigner

Fotos

Shiwen Sven Wang

Wer Wissenschaft für die Arbeit einsamer Genies hält, die sich in Studierzimmern verkriechen und ganz alleine revolutionäre Gedanken schmieden, liegt völlig falsch. Echte Wissenschaft entsteht, indem viele Menschen ihre Talente zusammenfügen – weltumspannend.

Wenn mitten im Wald ein Baum umfällt und niemand es hört – macht er dann ein Geräusch? Ja, natürlich. Das Umfallen des Baums erzeugt Schallwellen, die sich durch die Luft ausbreiten. Physikalisch gesehen ist die Sache klar: Das Geräusch ist da, egal ob es gehört wird oder bloß im Dickicht verhallt. Aber was ist, wenn jemand etwas erforscht und niemand davon erfährt – ist das dann Wissenschaft? Diese Frage ist etwas komplizierter. Ein Forschungsergebnis alleine ist nämlich noch keine Wissenschaft. Die entsteht erst dann, wenn wir Menschen es schaffen, unsere Gedanken in die Köpfe anderer Leute zu übertragen, um gemeinsam etwas Größeres daraus zu machen. So knüpfen wir aus vielen kleinen Beobachtungen, Erkenntnissen und Ideen ein tragfähiges Netz, auf das wir uns verlassen können. Das ist Wissenschaft.

Evolutionstheorie – ein Netz aus Fakten
In den 1830erjahren segelte der junge Charles Darwin mit der HMS Beagle über die Weltmeere. Er freute sich über allerlei exotisches Getier, das ihm auf seinen Reisen über den Weg lief, und wunderte sich über die seltsamen Schnabelformen der Galapagos-Finken. Als der Naturforscher später darüber nachdachte, wie sich eine Spezies im Lauf der Zeit einfach durch natürliche Selektion verändern kann, war seine Evolutionstheorie noch keine wissenschaftliche Gewissheit. Sie war bloß eine neue, verrückte Idee im Kopf eines neugierigen Menschen.

Heute sieht die Sache anders aus: Unzählige Experimente, Thesen und Forschungsprojekte bauen inzwischen auf der Evolutionstheorie auf, knüpfen an ihr an und verbinden sie mit anderen Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Evolutionstheorie wurde so oft mit unterschiedlichsten Methoden bestätigt, dass man längst nicht mehr an ihr zweifeln kann. In der Paläontologie untersucht man Fossilien und stellt fest, dass sich Tier- und Pflanzenarten im Lauf der Zeit tatsächlich kontinuierlich verändern. Diese Ergebnisse passen wunderbar zu den Beobachtungen, die man beim Züchten vom Pflanzen und Tieren macht. Die moderne Genetik kann uns heute erklären, was diese Phänomene mit der DNA zu tun haben, mit mathematischen Modellen kann man berechnen, wie rasch sich Veränderungen in der DNA ausbreiten. Und im Labor kann man diese Berechnungen dann überprüfen, etwa indem man Bakterien untersucht, die sich besonders schnell vermehren.

Alleine können wir falsch liegen – gemeinsam haben wir Recht
All diese Ergebnisse fügen sich zu einem stimmigen Gebilde zusammen – und genau deswegen können wir uns darauf verlassen. Was würde geschehen, wenn sich nun herausstellen würde, dass sich irgendjemand mal beim Auswerten eines gentechnischen Experiments verrechnet hat, oder dass irgendwo ein Dinosaurierknochen falsch datiert wurde? Gar nichts. Unser Glaube an die Evolutionstheorie würde dadurch nicht erschüttert werden. Wissenschaft lebt davon, dass viele verschiedene Menschen, die über viele verschiedene Dinge sorgfältig nachgedacht haben, ihre Gedanken austauschen, diskutieren und vielleicht auch ein bisschen streiten.

Die komplexeste Maschine der Welt
Ein eindrucksvolles Symbol für die Kraft menschlicher Zusammenarbeit ist der Large Hadron Collider am CERN in Genf – der größte Teilchenbeschleuniger der Welt, die wohl komplizierteste Maschine, die je auf unserem Planeten konstruiert wurde. Einen kreisrunden Tunnel mit einer Länge von über sechsundzwanzig Kilometern hat man in den Boden gegraben, genau an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz. Durch diesen Tunnel verläuft eine Röhre aus Stahl, in der fast perfektes Vakuum herrscht – eine Leere wie in den Tiefen des Weltalls. Winzige Teilchen rasen durch diesen Röhrenkreis, sie werden von gewaltigen Elektromagneten auf ihrer Bahn gehalten, bis sie schließlich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit kollidieren und dabei ein Gewimmel neuer Teilchen erzeugen, die dann in hochkomplizierten Teilchendetektoren gemessen werden. Dabei entstehen Daten, die man sorgfältig analysieren und auswerten muss, um den fundamentalsten Geheimnissen der Materie auf die Spur zu kommen.

Dazu braucht man unzählige Leute aus ganz unterschiedlichen Forschungsbereichen: Aus der Experimentalphysik, um passende Detektoren zu entwickeln. Aus der Elektrotechnik, um leistungsfähige Elektromagneten zu konstruieren. Aus der Informatik, um Methoden zu finden, die gewaltige Datenflut zu bändigen und die interessante Information herauszufiltern. Außerdem muss jemand die Tunnel graben, die Metallteile verschweißen und die Kabel richtig einstecken. Jemand muss die Gebäude sauber halten und in der Kantine Essen kochen, damit die Nobelpreisträger nicht hungern. Ein solches Großprojekt ist also nicht die Glanztat einzelner Genies, sie sind eine Menschheitsleistung. Wir Menschen sind die einzige Spezies auf diesem Planeten, die diese Art von Kooperation zustande bringt.

Wissenschaft und Ameisenhaufen
Wichtig ist: Es geht dabei nicht bloß um Arbeitsteilung. Wissenschaft funktioniert nicht wie Fließbandarbeit, wo man einfach deshalb viele Menschen braucht, weil in kurzer Zeit viel zu erledigen ist. Die Zusammenarbeit in der Wissenschaft ist komplexer – eher wie die Arbeit an einem Ameisenhaufen: Aus einem scheinbar chaotischen, unkoordinierten Gewimmel entsteht am Ende etwa Großes, von dem alle etwas haben. Keine einzige Ameise versteht, was da geschieht.

Keine von ihnen hat einen Bauplan des fertigen Ameisenhaufens im Kopf. Aber das Ameisenvolk insgesamt hat ihn errichtet. Mit der Wissenschaft ist es genauso: Kein Mensch auf der Welt hat die gesamte Wissenschaft im Kopf, mit all ihren Gesetzen, Effekten und Phänomenen. Aber die Menschheit insgesamt, als Spezies, hat sie verstanden.

Wir vergeben Nobelpreise an geniale Forscherinnen und Forscher. Wir benennen Straßen nach ihnen und stellen ihre Büsten in den Arkadenhöfen der Universitäten auf. Und das ist auch gut so. Aber wir dürfen nicht vergessen: Im Grunde ist Wissenschaft keine Leistung herausragender Einzelpersonen, sondern eine Leistung der Menschheit insgesamt. Wir alle sind daran beteiligt – ganz egal, ob wir uns selbst mit Wissenschaft beschäftigen oder nicht. Und daher dürfen wir auch alle mit Recht gemeinsam stolz sein: auf die großartigen Ideen, die wir als Menschheit hervorgebracht haben.


Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftspublizist und lebt in Wien.

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