Roland Imhoff im Gespräch

»Wir brauchen eine Übereinkunft, wann etwas stimmt und wann nicht«

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#15 Wissen
2021

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Frank Haas

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Shiwen Sven Wang

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Wissenschaft
Interview

Frank Haas im Gespräch mit dem Sozialpsychologen Roland Imhoff

Herr Professor Imhoff, Sie haben doch einen recht guten Überblick: Was ist denn momentan die gängigste Verschwörungstheorie?
Das kommt darauf an, wonach wir sortieren. Wenn wir schauen, welche Verschw.rungstheorie in den sozialen Medien am meisten Traffic bekommt, dann sind das gerade mit Sicherheit die verschiedenen auf die Pandemie bezogenen Theorien – dass Covid nur eine Erfindung sei oder im Labor gezüchtet, oder dass Impfungen der Gedankenkontrolle dienen. So etwas ist derzeit sehr populär. Aber man kann das auch anders betrachten und sich anschauen, welche Theorien die stärkste Zustimmung in Umfragen bekommen. In den USA ist das zum Beispiel die Idee, dass Lee Harvey Oswald nicht alleine gehandelt hat, um John F. Kennedy zu töten. Davon sind in den meisten Umfragen über 50 Prozent der Amerikaner überzeugt.

Das scheint ein Evergreen zu sein.
Genau. Die Todesumstände von Prominenten funktionieren generell immer ganz gut.

Wie schaut es mit Elvis Presley aus?
Dem wird eher unterstellt, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, weil er den Trubel um seine Person nicht mehr ertragen konnte. Und nur ganz wenige Theorien zu Elvis Presley treffen eine Aussage darüber, ob er das mit sich selber ausgemacht hat oder ob tatsächlich eine Gruppe dahintersteckt. Wenn er ganz alleine beschlossen hat, sich einen Bart wachsen zu lassen und ein Schustergeschäft auf den Bahamas zubetreiben, dann ist es der Definition nach gar keine Verschwörung. Denn mit wem will sich Elvis da verschworen haben? Es war dann vielmehr einfach nur seine eigene Entscheidung. Deswegen taucht diese Elvis-Idee nicht so häufig bei Verschwörungstheorien auf. Bei den Evergreens haben wir noch die verschiedenen Verschwörungen um die Mondlandung und um die Area 51 – von den Amerikanischen Geheimdiensten eingelagerte Außerirdische und so.

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Roland Imhoff forscht neben Verschwörungsmentalität auch zu Vorurteilen und Stereotypen, Repräsentation von Geschichte, sexueller Devianz oder indirekten Messverfahren. Er ist Professor an der Universität Mainz. (Bild: Privat)

Welche Erzählung ist denn in Bezug auf die aktuelle Pandemie besonders beliebt? Ist es die Idee, dass Corona ein Fake ist, den es eigentlich gar nicht gibt, oder mehr die Vorstellung, dass Corona mit Absicht verbreitet wurde?
Aus Deutschland gibt es relativ gute Umfragen zu diesen beiden Verschwörungstheorien. Sie sind mit etwa 16 bis 19 Prozent Zustimmung der Befragten ungefähr gleichauf. In den verschiedenen Netzwerken wird aber eher die Fake-Idee weitergetragen. Denn was viele dieser Protest- und Verschwörungstheorien antreibt, ist die Unzufriedenheit mit der Politik zur Infektionseindämmung. Wenn ich behaupte, das Virus sei im Labor absichtlich gezüchtet worden, dann ist das kein gutes Argument dafür, dass ich wieder auf Konzerte gehen und meinen Laden wieder aufmachen will. Denn dann ist das Virus doch sicher gefährlich. Um meine persönliche Freiheit zurückzubekommen, ist die Behauptung, Corona gebe es gar nicht, rein instrumentell viel besser geeignet.

Und doch klingt es für vernünftige Menschen angesichts der ganz realen Sterbefälle doch eher absurd. Gibt es denn im Unterschied dazu auch Theorien, die so plausibel klingen, dass Sie ins Zweifeln kommen?
(lacht) Na ja, ich mach es mir ja bequem. Ich definiere Verschwörungstheorien nicht so, dass sie notwendigerweise falsch sein müssen. Denn wenn ich Verschwörungstheorie als Chiffre für »Lüge« verwende, dann kann ich mich gar nicht mehr ernsthaft drüber unterhalten. Meine Definition ist deshalb so: Eine Verschwörungstheorie ist, wenn jemand glaubt, dass sich Menschen oder Gruppen zu etwas verschworen haben, und diese Theorie kann auch wahr sein. Eine bewiesene Verschwörung ist immer noch eine Verschwörung.

Haben Sie persönlich eine liebste Theorie? Vielleicht eine, die besonders unterhaltsam, besonders langlebig oder einfach besonders absurd ist?
Es gibt schon so einige, bei denen ich mich manchmal frage, ob die tats.chlich irgendjemand ernsthaft glaubt. Oder ob diejenigen, die als Befragte in diesen Umfragen zustimmen, sich nur einen Jux machen. Zum Beispiel das mit den Nazis, die auf der inneren Seite des Mondes leben. Es fällt mir wirklich sehr schwer, mir das vorzustellen. Und dann gibt es aber Theorien, die irgendwie outrageous sind, aber immer noch interessant. Etwa diese Echsenmenschen-Theorie, also dass wir beherrscht werden von einer Elite von Eidechsen in Menschengestalt, die morgens ihre Menschenhüllen überziehen. Ich finde es faszinierend, dass wirklich viele Menschen ihre Zeit damit verbringen, auf Bildern gelbe Eidechsen-Augen bei Politikern, aber eben auch bei Wissenschaftlern zu entdecken.

Was für ein Typ Mensch glaubt so etwas? Lässt sich das beschreiben?
Man kann das versuchen, allerdings haben wir es hier nicht mit einer distinkten Sorte Mensch zu tun, sondern mit wahrscheinlichen Zusammenh.ngen. Dass zum Beispiel Menschen, die das Gefühl haben, nur wenig Kontrolle über ihr Leben zu haben, eher Verschw.rungstheorien zustimmen. Dass Menschen, die von sich sagen, dass es ihnen sehr wichtig ist, einzigartig zu sein und aus der grauen Masse herauszustechen, eher Verschwörungstheorien zustimmen. Und einen der stärksten Zusammenhänge gibt es mit dem, was in der Psychologie der Religion »hyperactive-agency-detection« heißt. Das beschreibt das Ausmaß, in dem man Absicht und Willen unterstellt, wo sie objektiv vermutlich gar nicht vorhanden sind. Und auch das kann man mit Fragebögen erfassen. Das sind dann Menschen, die Aussagen zustimmen wie »Der Wind weht da hin, wo er will« und »Wenn der Fernseher ausgeht, dann hat er keine Lust mehr«. Eine Absicht entdecken – das passt gut zu Verschwörungstheorien, die nämlich genauso operieren. Sie legen nahe, dass nichts aus Zufall passiert, sondern nur weil jemand wollte, dass es passiert.

Welche Rolle spielen denn die sozialen Medien bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien?
Also, in den sozialen Medien blühen Verschw.rungstheorien natürlich. Aber da blühen auch Katzenvideos und koreanische Kochrezepte mehr als jemals zuvor. Das Internet hat jeglichen Informationsfluss beschleunigt und auch die Informationsmenge akkumuliert. Wenn ich die Wikipedia ausdrucken würde, dann würde die Menge gar nicht mehr in mein Brockhaus-Regal passen. Die interessante Frage, die eigentlich dahintersteht, ist die: Haben Verschwörungstheorien einen asymmetrischen Vorteil, mit dem sie sich in dieser Menge besser durchsetzen können? Dafür gibt es theoretisch einen guten Grund. Verschwörungstheorien erzählen nämlich zu egal welchem Ereignis die bessere Geschichte. Und die ist einfach interessanter zu lesen als irgendeine offizielle Presseerklärung.

Verschwörungstheorien sind also die spannenderen Lagerfeuergeschichten?
Ja, das ist eine Option. Eine andere Option speist sich aus dem, was in der Psychologie »error management theory« heißt. Die grobe Idee dahinter: Im alltäglichen Leben, aber eben auch evolutionär, kann man bei Bedrohung immer zwei Fehler machen. Man kann erstens falschen Alarm schlagen und zum Beispiel einmal zu oft die Leute in der Höhle aufscheuchen, weil angeblich ein Mammut kommt. Oder man kann zweitens das Mammut verpassen. Die Logik bei dieser »error management theory« ist, dass der Fehler, einmal zu viel Alarm zu schlagen, immer billiger war, als eine Gefahr zu übersehen. Mit anderen Worten: Evolutionär gesehen zahlt sich Argwohn aus.

Aber erreicht dieser Argwohn nicht manchmal auch ein Ausmaß, wo er gefährlich wird?
Ich glaube, Verschwörungstheorien sind potenziell immer brandgefährlich. Wenn wir uns Einzeltäter, Attentäter anschauen, egal ob religiös-extremistisch oder neonazistisch, dann sind deren Pamphlete nahezu immer schonvoll von Verschwörungstheorien. Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 überwiegend junge Menschen ermordet hat, spielt auf der Klaviatur der Verschwörungstheorien genauso rauf und runter wie die Hamas, der Attentäter von Hanau oder sonst irgendwer. Da koppeln sich Individuen ab von einem epistemischen Gesellschaftsvertrag, also von einer gesellschaftlichen übereinkunft darüber, wie wir Wahrheit herstellen, wie wir Wissen generieren, wem wir vertrauen. 99,8 Prozent von dem, was wir wissen, haben wir nicht selbst erfahren. Die newtonschen Fallgesetze kann ich anhand eines Apfels noch nachvollziehen. Aber der weitaus größte Teil meines Wissens über die Welt stammt aus dem Internet, aus Schulbüchern, von jemandem, der es mir erzählt hat, er stammt aus der Presse, aus dem Fernsehen, von YouTube. Das ist alles sekundäre Information, und ich muss bestimmten Instanzen vertrauen, um sie glauben zu können. Aber dieses Vertrauen ist halt notwendig, um als Gesellschaft übereinkunft darüber zu erzielen, wie die Welt ist oder was Wissen ist. Wenn ich mich als Verschwörungstheoretiker so weit abkapsle, dass ich diesen epistemischen Gesellschaftsvertrag aufkündige, dann gebe ich sämtliches Wissen der Beliebigkeit preis. Und damit stimmt eigentlich alles, was ich glauben möchte oder auch nicht – genau darin sehe ich eine große Gefahr. Wir müssen es als Gesellschaft hinkriegen, Übereinkunft zu erzielen, wann etwas wirklich stimmt und wann nicht. Dafür braucht es eine ganz grundsätzliche Diskussion.

Wer muss diese Diskussion führen? Ist das Privatsache?
Privat über so etwas zu diskutieren, ist natürlich eine Möglichkeit. Aber ich glaube, dass es auch eine pädagogische Aufgabe ist. Im Zusammenhang mit Schule wird immer über Medienkompetenz geredet – da geht es aber überwiegend darum, selber Fact-Checking zu machen, weitere Quellen zu suchen und so weiter. Das ist gut und schön und auch sinnvoll, aber es trainiert Schülerinnen und Schüler vor allem darin, skeptisch zu sein. Daran ist nichts falsch, aber wir müssen zugleich auch lernen zu vertrauen. Sonst glaubt man irgendwann gar nichts mehr. Meines Erachtens braucht man schon an Schulen das, was man bislang eigentlich erst im Studium bekommt: solide Grundlagen in Erkenntnisphilosophie oder in kritischer Diskussion darüber, was eigentlich Wissen ist.

Das heißt also, wir müssen unser Bewusstsein dafür schärfen, was wirklich wahr ist. Lässt sich denn auch das Bewusstsein für Verschwörungen schärfen? Mit anderen Worten: Gibt es typische Begriffe, die immer wieder vorkommen und an denen man eine Verschwörungstheorie erkennen kann?
(lacht) Gute Frage. Ich sage mal, wenn »Rothschild« vorkommt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um eine Verschwörungstheorie handelt. Und bei »Geheimdienste« sicherlich auch.

Wo sehen Sie den Wendepunkt zwischen amüsant und gefährlich?
Wenn jemand sich abkapselt und in einer Parallelrealität lebt und es nicht so scheint, als ob er oder sie da so einfach wieder rauskommt. Ich rate aber von zwei Dingen ab: Erstens davon, in Alarmismus zu verfallen, dass jetzt alles den Bach runtergeht und jeder nur noch glaubt, was er will. Wir haben bevölkerungsrepräsentative Stichproben, die nicht zeigen, dass die Zustimmung zu diesen Theorien zugenommen hat, auch in dieser Pandemie jetzt nicht. Sie werden vielleicht sichtbarer, sie werden lauter und möglicherweise organisierter – was auch eine Gefahr sein kann –, aber sie erfahren nicht grundsätzlich mehr Zustimmung in der Breite. Zweitens tun wir uns keinen Gefallen damit, jede Mutmaßung über eine Verschwörung gleich zu verteufeln. Sich einfach mal etwas vorzustellen, kann interessant sein, und manchmal ist auch tatsächlich was dran. Wenn ich dann Belege finde, heißt es nicht mehr Verschwörungstheorie, sondern investigativer Journalismus. Solange sich Menschen nur die Offenheit bewahren, im Lichte der Evidenz eine Vermutung auch wieder fallen zu lassen, ist noch kein Schaden geschehen.

Das führt mich zu einer letzten, ganz praktischen Frage: Wenn ich in meinem näheren Umfeld jemanden habe, der einer absurden Theorie anhängt – was soll ich tun? Dagegen argumentieren? Oder den Menschen lieber lassen?
Die Meinung von jemandem ändern zu können, ist eine Illusion, von der man sich verabschieden sollte. Das schaffen wir nie. Wir können überzeugende Argumente bringen, aber eine Meinung .ndern kann jeder nur bei sich selbst. Im Hinblick auf andere kann man entweder einen Burgfrieden schließen und sagen: Darüber reden wir jetzt nicht. Oder man geht all-in, dann wird es anstrengender. Und ich würde eine Diskussion darüber, wie es denn tatsächlich war, ob jetzt Stahl bei 2.000 oder 4.000 Grad Celsius schmilzt, vermeiden. Sondern lieber darüber sprechen, wem wir eigentlich glauben können und warum. Die meisten Menschen wenden sich Verschwörungstheorien nicht aus Langeweile zu, sondern aus einem Grund, aus einem bestimmten Bedürfnis heraus, etwa, nicht irrelevant oder einsam zu sein. Und vielleicht kann ich so ein Bedürfnis einfach mal direkt adressieren und damit helfen, dass eine Verschw.rungstheorie irgendwann gar nicht mehr gebraucht wird.


Frank Haas ist Leiter Markenstrategie und Kommunikation bei Gebrüder Weiss – und als Chefredakteur verantwortlich für den ATLAS.

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