Vulkanausbrüche

Das große Zittern

In Teilen Südeuropas stehen gewaltige Erdbeben und Vulkanausbrüche bevor. Millionen Menschenleben sind in Gefahr. Obwohl die Daten eine klare Sprache sprechen, haben Expertinnen und Experten alle Mühe, ihren Warnungen Gehör zu verschaffen.

Drohend dampft der Vesuv hinter Neapel. (Bild: iStock)

Die drei europäischen Metropolen Neapel, Lissabon und Istanbul eint das gleiche Schicksal: Sie werden ihre Bewohner zu Tausenden unter sich begraben und die Überlebenden in einen Horror stürzen. Jede dieser Städte wird von einem Erdbeben oder Vulkanausbruch verwüstet werden. Vielleicht sind die jetzigen Bewohner dann ohnehin schon lange nicht mehr am Leben. Vielleicht trifft es sie aber auch schon morgen.

Unsere oberirdische Welt ruht auf riesigen Kontinentalplatten, die auf einer zähflüssigen Schicht schwimmen. Wenn sich die Platten ineinander verkeilen, wird es gefährlich. Um zu verstehen, was dann passiert, können wir einfach mit den Fingern schnippen: Zwischen Daumen und Mittelfinger entsteht Druck, bis der Mittelfinger ruckartig nachgibt und wegrutscht – »Schnipp«. So ähnlich verhalten sich auch die Platten tief in der Erde. Nur dass dieser »Schnipp« die Kraft hat, alles mit sich zu reißen. Häuser, Büros, Schulen, Fabriken, Kraftwerke, Brücken, Krankenhäuser, alles.

Die größte Gefahr droht in Europa am südlichen Rand, wo die eurasische auf die afrikanische Platte stößt und die anatolische Platte von Osten herandrängt. Dort leben in den Städten Neapel, Lissabon und Istanbul Millionen Menschen. Wie schützen die Verantwortlichen die Bewohner vor der drohenden Katastrophe?

Neapel
Einer der möglichen Schuldigen für Neapels künftige Zerstörung ist der Vesuv. »Wenn er morgen ausbräche, gäbe es keine Strategie, um die Menschen zu retten«, sagt Giuseppe Mastrolorenzo, Vulkanologe am Osservatorio Vesuviano. Unter dem Vulkan schiebt sich die afrikanische unter die eurasische Platte, schmilzt und schießt irgendwann durch den Schlund des Vesuvs als Magma zurück zur Oberfläche – nur weiß niemand, wann. Und mit Wahrscheinlichkeiten lässt sich nur schwer vor Gefahren warnen.

Jahrzehntelang hatten Seismologen gehofft, allgemeingültige Vorläuferphänomene für Erdbeben und Vulkanausbrüche zu finden, die eindeutige Vorhersagen möglich machen würden. Sie haben sie nicht gefunden. Bis heute ist ihr einziger Anhaltspunkt die Statistik, und die ist bei der Berechnung von großen Zeitabständen extrem fehleranfällig. Und Fehler haben Folgen: Warnen die Forscher vorschnell, lösen sie Chaos und teure Evakuierungen aus. Warnen sie verspätet, riskieren sie viele Todesopfer. Darum halten sich Experten zumeist bedeckt. Mit seinen harschen Aussagen ist Mastrolorenzo ein Außenseiter. Auch er kennt das Datum des nächsten großen Vesuv-Ausbruchs nicht, aber er weiß, er wird kommen. »Was in der Vergangenheit passiert ist, wird auch in der Zukunft passieren«, sagt er.

So wie vor rund 4.000 Jahren, als der Ausbruch alles in der Region auslöschte und die zurückbleibende Ascheschicht menschliches Leben für 230 Jahre unmöglich machte. Und so wie 1.900 Jahre später, als der Vesuv Pompeji zerstörte und tausende Menschen tötete. Heute leben mehr als drei Millionen Menschen rund um den Vulkan. Bis 1995 hatte es für sie nicht einmal einen Notfallplan gegeben, erst 2001 zog der Zivilschutz eine rote Zone um den Vesuv und erweiterte diese 2014. Für die 700.000 Menschen darin herrscht im Falle eines Ausbruchs Todesgefahr. Kündigt sich ein Ausbruch an, will der Zivilschutz sie binnen 72 Stunden mit Bussen in Sicherheit bringen. Giuseppe Mastrolorenzo hält das für unrealistisch, auch, weil der Plan von einer relativ kleinen Eruption ausgeht. »Dafür gibt es keinen wissenschaftlichen Grund«, sagt der Vulkanologe. Vulkane könnten außerdem jederzeit ausbrechen – dass dem Zivilschutz 72 Stunden für die Evakuierung der roten Zone bleiben, ist eine Hoffnung, keine Gewissheit.

Und das ist nicht mal Neapels größtes Problem: Im Westen der Stadt kochen unter der Erde die Phlegräischen (altgriechisch: brennenden) Felder, ein mächtiger Supervulkan. »Die Gefahr ist Teil unserer Identität«, sagt Giuseppe Di Roberto, einer der vielen Menschen, die in dessen riesigem Krater wohnen. Vor 15.000, 29.000 und 39.000 Jahren brachen die Phlegräischen Felder zehn- bis achtzigmal stärker aus, als es dem Vesuv möglich ist. Die Ausbrüche begruben die gesamte Region unter sich, die Aschepartikel in der Atmosphäre lösten in weiten Teilen der Erde einen jahrelangen vulkanischen Winter aus, was zum Aussterben der Neandertaler beigetragen haben könnte. Brächen die Phlegräischen Felder erneut in einer solchen Größenordnung aus, wären die Leben von rund drei Millionen Menschen am Golf von Neapel in Gefahr. Trotzdem plant der Zivilschutz auch bei dem Supervulkan mit einer eher kleinen Eruption und brächte im Ernstfall nur 450.000 Menschen fort.

1755 von einem gewaltigen Erdbeben zerstört, könnte Lissabons Altstadt bald wieder erschüttert werden. (Bild: iStock)

Lissabon
Dabei könnte die Vergangenheit uns Mahnung sein, die Erdkräfte nicht zu unterschätzen. An Allerheiligen im Jahr 1755 drängen sich die Bewohner Lissabons in den Kirchen, als die Erde zu zittern beginnt. Ein Beben der Stärke 8,5 bis 9 auf der Momentmagnitudenskala: Die Erschütterungen sind so gewaltig, dass die meisten Gotteshäuser auf die Betenden niederstürzen. Viele fliehen zum Ufer des Tejo, doch dort rast ein Tsunami den Fluss hinauf. Die Stadt steht eine Woche lang in Flammen – es ist der perfekte Albtraum. Der Philosoph Immanuel Kant schreibt danach: »Es war nöthig, daß Erdbeben bisweilen auf dem Erdboden geschähen; aber es war nicht nothwendig, daß wir prächtige Wohnplätze darüber erbaueten. Der Mensch muß sich in die Natur schicken lernen, aber er will, daß sie sich in ihn schicken soll.«

Auch, wenn seither mehr als 250 Jahre vergangen sind: Noch immer fehlt ein Frühwarnsystem vor der Küste Portugals. Und: »Wir kennen den Ursprung des Bebens von 1755 immer noch nicht sicher«, räumt João Duarte ein. Immerhin ist dem Geologen nun vermutlich der Durchbruch bei der Suche gelungen. Seinen Untersuchungen zufolge bildet sich vor der Küste Portugals eine neue Subduktionszone: Die eurasische Kontinentalplatte bricht entzwei und die beiden Teile beginnen, sich übereinander zu schieben. Der Atlantik hat sich bislang immer weiter ausgebreitet, Duartes Entdeckung könnte bedeuten, dass er von nun an zu schrumpfen beginnt.

Das versetzt Wissenschaftler weltweit in Aufruhr. Das Problem ist nur: Über diesen kleinen Kreis hinaus ist kaum jemand davon beunruhigt. Laien verstehen die Entdeckung schlichtweg nicht. Die Wissenschaft täte gut daran, sie den Lissabonnern begreiflich zu machen. Denn die neue Erkenntnis bedeutet auch: »Es wird wieder ein großes Erdbeben geben, und es wird viele Menschen töten«, sagt Duarte. Wie sich die Stadt darauf vorbereitet, dazu will sich Lissabons Katastrophenschutzbeauftragter auf Anfrage nicht äußern.

Mit großer Wahrscheinlichkeit erlebt die Stadt am Bosporus in den nächsten Jahrzehnten ein verheerendes Erdbeben. (Bild: iStock)

Istanbul
In der türkischen Metropole Istanbul ist es die nordanatolische Verwerfung, die das Potenzial hat, die Millionenstadt in Schutt und Asche zu legen. An einem unbekannten Tag in der Zukunft wird sich eine 51.000 Kubikkilometer große Landmasse mit einem Ruck fünf Meter Richtung Westen schieben. Das Beben wird vermutlich kaum mehr als eine Minute dauern aber 30.000 bis 90.000 Menschen töten.

Die Wahrscheinlichkeit für ein Beben der Stärke 7,4 direkt vor der Küste Istanbuls liegt bei mehr als sechzig Prozent für die kommenden dreißig Jahre. Im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten gibt es zwei Arten von Menschen: jene, die bei einer sechzigprozentigen Chance auf Regen den Schirm einpacken, und jene, die es nicht tun – nicht mal, wenn statt des Regens der Untergang droht. Nusret Suna ist ein Mann, der seine Mitmenschen vom Sinn des Regenschirms überzeugen will. Der 64-Jährige ist der Präsident der Kammer der Bauingenieure in Istanbul. „Wir fühlen uns manchmal wie die Kassandra von Istanbul“, sagt er. „Wir mahnen, aber niemand will die Mahnung hören.“ Sie lautet: Istanbul ist nicht bereit für das kommende Erdbeben. Nach Schätzungen der Bauingenieurs-Kammer sind die Hälfte der Häuser illegal gebaut und entsprechen wahrscheinlich nicht den Sicherheitsvorgaben, bis zu 50.000 werden bei einem Beben massiv beschädigt werden, bis zu 6000 werden ihre Bewohner unter sich begraben.

Ob er selbst Vorkehrungen für das Erdbeben trifft, seine Wohnung erdbebensicher einrichtet oder Wasservorräte anlegt? Suna schüttelt den Kopf. In der Risikoforschung nennt man dieses Phänomen das Wahrnehmungs-Paradox: Menschen sind sich des Ausmaßes der Gefahr bewusst, aber sie haben kein Vertrauen, dass sie von den Obrigkeiten beschützt werden. Die Gefahr wirkt unabwendbar, individuelle Maßnahmen scheinen aussichtslos. Und so bleiben die Menschen trotz der drohenden der Katastrophe tatenlos.

Ein Menschenleben ist nur ein Wimpernschlag im Angesicht der langsam knirschenden Bewegungen der Kontinentalplatten. Forscher haben ermittelt, dass das Gefühl für Risiko nur kurz nach einer Katastrophe klar erfasst wird, so lange die Erinnerung der Menschen an den Schaden und das Leid noch präsent ist. 25 Jahre hält diese Erinnerung bei Flutkatastrophen, wie eine Studie der Universität Prag zeigte, innerhalb dieses Zeitraums siedeln die Menschen nur in vorsichtigem Abstand zu den übergetretenen Wasserläufen. Nach zwei Generationen hat ein Ereignis dann seine Wirkung verloren. Es fehlt ein dauerhafter Lerneffekt, der lange genug weitergetragen wird, um sich auf die nächste Katastrophe in der Zukunft vorzubereiten.

Das Wissen über die drohenden Katastrophen ist also da, aber wie schafft man es, das auch in wirksame Handlungen umzusetzen? Die Wissenschaft warnt seit Jahrzehnten vor einer globalen Pandemie – darauf adäquat vorbereitet hat sich niemand. Die globale Erwärmung verwüstet schon heute große Regionen – doch die Treibhausgasemissionen senken wir trotzdem nicht schnell genug. Das massive Artensterben droht langfristig auch das Überleben der Menschheit in Frage zu stellen – unsere heutige Lebensweise wollen wir dennoch nicht ändern. Und so warnen auch die Experten in Neapel, Lissabon und Istanbul unablässig vor der Gefahr aus der Tiefe, ohne das nötige Gehör zu finden. Fachleute der Risikokommunikation sagen, für ein besseres Gefahrenbewusstsein müsse man die physischen und psychischen Auswirkungen der Katastrophen unmittelbar erfahrbar machen – indem man die Geschichten davon weitererzähle, je emotionaler, desto besser. Eine Mahnung, dass wir durchaus auf natürliche Katastrophen reagieren können, noch ehe sie passieren.


Svenja Beller arbeitet als freie Journalistin für diverse Magazine und Zeitungen. Sie lebt und arbeitet in Hamburg und Lissabon.
Julia Lauter lebt in Hamburg und arbeitet als Journalistin und Autorin.

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