Strategien für wachsende Städte
Zu Fuß zum Hochgeschwindigkeitszug
Die Welt ist urban. Etwa in Brasilien, wo 88 Prozent der Bevölkerung im städtischen Raum leben. Oder in der Schweiz, wo fast 85 Prozent der Menschen in städtischen Gebieten wohnen. Oder in China, dort wohnen und arbeiten knapp heute über 60 Prozent der Leute in urbanen Regionen, vor 40 Jahren waren es noch etwas weniger als 20 Prozent. Diese Aufzählung könnte man nun fast beliebig für den ganzen Erdball fortführen, der Anteil der städtischen Bevölkerung ist insgesamt rasant gestiegen.
Lediglich bei der Betrachtung des afrikanischen Kontinents werden zwei Aspekte ins Auge fallen. Zum einen ist der Anteil der ländlichen Bevölkerung dort noch relativ hoch. So leben in Äthiopien aktuell nur knapp über 17 Prozent der Menschen in städtischen Agglomerationen, in Nigeria sind es allerdings mittlerweile schon etwas über 50 Prozent. Da Nigeria und Äthiopien mit je circa 200 respektive 100 Millionen Einwohner die beiden bevölkerungsreichsten Länder Afrikas sind, sind diese Zahlen wichtig. Außerdem leiten sie zu einem interessanten Aspekt über: Das Wachstum der Weltbevölkerung findet vor allem in den Städten statt, sei es natürlich über die Geburtenrate, sei es durch Zuzug aus ländlichen Gebieten – oder durch den Zusammenschluss von Dörfern und Kleinstädten zu Großstädten. In hochurbanisierten Regionen wie der Schweiz oder Brasilien liegen die jährlichen Zuwachsraten in Städten zwischen 0,5 und 1 Prozent. In vielen Ländern Afrikas südlich der Sahara beträgt dieser Zuwachs aber 3 bis 7 Prozent. Diese kleinen, in ihrer Wirkung aber gigantischen Zahlen bestimmen, in welchem Tempo neue Städte entstehen – geplant, ungeplant, halb geplant. Und in all diesen Städten müssen die Menschen leben können, sie sind angewiesen auf eine sozial- und klimaverträgliche Infrastruktur zum Wohnen und Arbeiten. Damit umzugehen und mit der Geschwindigkeit Schritt zu halten, ist die Herausforderung von Stadtentwicklung und Raumplanung der nächsten Jahre.
Drei Lösungsideen
Natürlich gibt es für die weltweiten Probleme nicht eine Lösung. Aber es gibt drei globale Strategien, die vor Ort Fortschritte erzielen: Erstens die Umwandlung oder Weiterentwicklung bestehender Strukturen, zweitens das sogenannte Leap-Frogging Development, bei dem einige Entwicklungsschritte übersprungen werden um zukunftsfähige Modelle zu erproben, sowie drittens strategischer Städtebau anstelle der Entwicklung von klassischen Masterplänen.
Transformation und Wandel
Städte, Gebäude und Infrastrukturen neu zu bauen, sondern mit dem zu arbeiten, was bereits da ist. Dies betrifft den süd- und nordamerikanischen Kontinent ebenso wie große Teile Europas. In den beiden Amerikas geht es in vielen Städten darum, die soziale Ungerechtigkeit zu beheben, die sich auch darin zeigt, dass nicht alle Menschen den gleichen Zugang zu Ressourcen haben: In vielen nord- und lateinamerikanischen Städten wie São Paulo oder Los Angeles nutzen vor allem einkommensschwache Schichten den öffentlichen Verkehr. Dieser aber bedient trotzdem vor allem innerstädtische Gebiete und die Feinverteilung in die vielen Wohngebiete an den Stadträndern ist ungenügend. Einkommensstarke Schichten wiederum bewegen sich vor allem im privaten Auto fort, welches die Luft verunreinigt und überproportional viel Platz beansprucht. Für dieses Ungleichgewicht gibt es schon länger viel beachtete Ansätze, etwa in Curitiba (Brasilien), in dem der damalige Bürgermeister Jaime Lerner dauerhafte Schnellbusspuren auf dem bestehenden Straßennetz eingerichtet hat. Das schafft soziale Gerechtigkeit: Zugang zu günstiger Mobilität und damit auch zu Bildung und Kultur – und es schafft Arbeitsplätze, weil fast jeder ein Buschauffeur werden kann. Im Bereich des Sozialwohnungsbaus gibt es in Frankreich bemerkenswerte Ansätze. Mit viel Engagement hat das preisgekrönte Architekturbüro von Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal eine Reihe von hochverdichteten und sozial problematischen Wohnblocks und -türmen in guten Wohnraum umgewandelt, ohne neuzubauen und Menschen umzusiedeln, indem die kleinen Wohnungen von außen um eine zusätzliche, flexibel nutzbare Raumschicht erweitert wurden.
„Froschsprünge“
Leap-Frogging Development ist vielleicht die aufregendste Herangehensweise und sie betrifft vor allem Regionen des globalen Südens, etwa Sub-Sahara-Afrika, Indien und Südostasien. Viele dieser Regionen, Städte und Gesellschaften gelten aus europäischer Perspektive als zurückgeblieben und entwicklungsbedürftig. Oft ist aber genau das Gegenteil der Fall. So siedeln etwa Slums in Sub-Sahara-Afrika und Südostasien häufig entlang und auf Wasserkörpern und haben Bau- und Lebensweisen entwickelt, die gerade angesichts drohender Überflutungen von Städten auf Meeresspiegelhöhe zukunftsweisend sein können. Natürlich können diese Bauweisen nicht Eins-zu-Eins übertragen werden, aber sie können als Vorbild für neue Konzepte oder Strategien im Städtebau dienen. Das gilt auch für das Entwickeln neuer Infrastrukturlösungen, die nicht unbedingt groß, teuer und zentral verwaltet sein müssen, um die erwünschte Verbesserung der Lebensumstände zu erreichen. In Äthiopien etwa gehen 80 Prozent der Menschen zu Fuß, sie nutzen also das nachhaltigste und gesündeste Fortbewegungsmittel überhaupt und erfüllen bereits, was Städtebauer erreichen wollen: die fußläufige Stadt. Äthiopische Städte, die erst noch im Werden begriffen sind, haben damit die einmalige Chance, das Kapitel der autogerechten amerikanischen und europäischen Stadt auszulassen und direkt in die Zukunft zu springen (daher Leap-Frogging).
Abkehr vom klassischen Masterplan
Das dritte Themenfeld ist der strategische Städtebau. Das bedeutet, dass man ein strategisch relevantes Areal umwandelt oder gegebenenfalls neu bebaut, damit aber das gesamte städtische Gebiet transformiert, da der Eingriff präzise platziert ist. Dadurch entstehen neue städtische Logiken. Ein solches Beispiel ist etwa die Highline in New York, ein erhöhter Stadtpark auf einer stillgelegten Einschienenbahn entlang ehemaliger Schlachthöfe. Sie hat einen ganzen Stadtteil zugänglich gemacht und Raum für Erholung und Begegnung geschaffen – was sich in einem gewissen Sinne auch schon fast wieder ins Gegenteil verdreht hat, da der Stadtteil so attraktiv geworden ist, dass die Preise für viele ins Unerschwingliche gewachsen sind. Ein weiteres Beispiel ist der Ausbau des chinesischen Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes. Eine Reihe von Millionenstädten im chinesischen Hinterland und an der Küste werden in einer Art und Weise verbunden, die das Fliegen unattraktiv oder unnötig macht und das urbane Wachstum so auf mehrere Zentren verteilt. Dies wirkt unermesslich großer und irgendwann ineffizienter Städte infolge von Verkehrsstau, Luftverschmutzung und peripheren Wohnghettos entgegen und schafft so polyzentrische, gut vernetzte Stadtregionen mit einem kleineren ökologischen Fußabdruck.
Das ist eine der wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft: Eine regional und global extrem vernetzte Gesellschaft ermöglichen und trotzdem lokal die fußläufige Stadt implementieren, um damit Lebenszeit zu gewinnen und zugleich Verkehrsstaus und Luftverschmutzung zu reduzieren.
Fabienne Hoelzel ist Professorin für Entwerfen und Städtebau an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart sowie Gründerin/Direktorin von FABULOUS URBAN.