Der Verkehr der Zukunft

Abheben oder bohren?

Verkehr in Los Angeles ist zu den meisten Tageszeiten und selbst nachts ein Albtraum. Nach einer kurzen Verschnaufpause durch die Pandemie stehen Autos und Laster wieder täglich meilenweit Stoßstange an Stoßstange im Stau. Mehr als hundertfünfzigtausend Pendler verbringen jeden Werktag über zwei Stunden hinterm Lenkrad. Sie teilen sich das Netzwerk aus Stadtautobahnen unter anderem mit Lastkraftwagen, die Güter aus zwei Containerhäfen am Pazifik zu Lagerhallen und Lieferanten im Inland bringen. Doch nicht umsonst wird Los Angeles auch „Traumfabrik“ genannt: Visionäre erfinden und testen in der US-Westküsten-Metropole den Verkehr der Zukunft

Kurz vor zehn Uhr vormittags an einem Donnerstag, Freeway 405, 30 Kilometer südlich von Downtown Los Angeles. Lässig steuert Lara ihr Porsche Cabrio über die sechsspurige Stadtautobahn Richtung Norden, fährt rechts vorbei an einem gelben Schulbus, überholt links einen Prius und einen Kleinlaster mit Rasenmähern auf der Ladefläche, wechselt die Spur hinter einem Sattelschlepper, und cruist gerade einmal eine Minute lang mit 60 Stundenkilometern bevor sie wieder auf die Bremse treten muss. „Auf geht’s, mein Schatz! Du kannst auch schneller!" feuert sie einen Autofahrer an, der sich beim Einfädeln auf den Freeway vor sie gedrängelt hat. Dann setzt sie den Blinker, gibt Gas, und findet wieder eine freie Spur. „Zwischen halb zehn morgens und zwei Uhr am Nachmittag ist die beste Zeit dein Ziel zu erreichen, ohne die Nerven zu verlieren," erklärt sie und dass sie sich ihren Termin in Downtown Los Angeles so gelegt hat, dass sie für die knapp 60 Kilometer von ihrem Haus in Newport Beach nicht mehr als eine Stunde braucht.

Pendeln ist Laras Alltag. Als Fit-Model liefert sie mit ihrem Körper den Maßstab für Schnittmuster von Badeanzügen, Hosen und Abendkleidern. Ihre Kundschaft ist über die gesamte Region von Südkalifornien verteilt. 500 Kilometer in der Woche auf den Straßen rund um L.A. sind für sie Routine. Auf Social Media ist sie als @thatporschegirl unterwegs - mit mehr als 40.000 Instagram-Followerinnen und Follower. Täglich fährt Lara 31 Kilometer zu einer Stammkundin. „Wenn’s gut geht, brauche ich für die Strecke 19 Minuten, manchmal aber auch fast eine Stunde," sagt sie und macht sich einen Spaß daraus, die Zeit, die ihr Navigationsgerät für die Strecke schätzt, zu unterbieten. „Meist bin ich mindestens eine Minute schneller!" lacht sie.

Auch ein superschnelles Auto kommt auf dem Freeway 405 nur zäh voran. Rechts: In Los Angeles werden Träume wahr – und der Verkehr stockt immer.

Ganz einfach: Die Nachfrage ist größer als das Angebot
Südkalifornien ist die verkehrsreichste Region in den USA. In den Containerhäfen von Long Beach und Los Angeles werden 30 Prozent aller US-Frachtgüter abgewickelt - im Juni 2021 waren das mehr als 875.000 Container. Nur etwas mehr als ein Drittel der Hafenfracht bleibt in der Region. Der Rest wird über Güterzüge und Lkw nach Nordkalifornien und in andere US-Bundesstaaten transportiert.

LAX, der größte von fünf Flughäfen im Landkreis von Los Angeles, fertigte im Mai 2021 täglich mehr als 61.000 Reisende ab. Das war ein Rückgang um 47 % im Vergleich zum selben Zeitraum vor der Pandemie, doch die Tendenz ist wieder steigend. Fast 30 Jahre lang stand Los Angeles an der Spitze der Liste von Großstädten mit dem stärksten Verkehrsaufkommen in den USA. Im Jahr 2020 rutschte die Metropole auf den vierten Platz hinter New York-Newark, Boston und Houston. Das war ein Resultat der strengen Covid-19 Auflagen in Kalifornien, allerdings ist L.A. dieses Jahr auf dem besten Weg, sich den Titel zurück zu holen. „Es ist ganz einfach: Die Nachfrage ist größer als das Angebot und deshalb sind die Straßen dicht," erklärt Professorin Genevieve Guiliano von der University of Southern California, USC. „Seit 30 Jahren haben wir keine großen Veränderungen im System gesehen, während die Bevölkerung gewachsen ist und die Durchschnittseinkommen gestiegen sind. Je reicher die Leute aber sind, desto häufiger fahren sie Auto. Das ist überall auf der Welt so, nicht nur in den USA."

Jede Metropole mit Wirtschaftswachstum habe Verkehrsprobleme, sagt die Expertin für Verkehrspolitik und Städtebau, egal ob Los Angeles und San Francisco oder Paris, London, Tokyo und Berlin. Studentïnnen, die sich über den Verkehr beschweren, rät sie, nach Detroit umzuziehen oder in eine andere US-Großstadt mit Bevölkerungsrückgang.
„Die Situation in den USA unterscheidet sich von anderen Ländern aber durch die nach wie vor sehr autofreundliche Politik von Bund und Bundesstaaten," ergänzt Guiliano. Zu vergleichsweise niedrigen Benzinpreisen komme, dass in den USA Straßen- und Parkplatzbau in der Regel Vorrang habe vor Investitionen in öffentliche Verkehrsmittel, Fahrradwege, Fußgängerzonen und Bürgersteige. Die zunehmende Beliebtheit von Online-Shopping verknüpft mit der Erwartung, die bestellten Socken, Hundeknochen und Waschmaschinen bereits am nächsten Tag geliefert zu bekommen, macht die Lage aus verkehrstechnischer Perspektive zusätzlich kompliziert. „Kleinlaster verstopfen mehr und mehr die Straßen. Waren schnell zu Kunden zu bringen ist im Vergleich zur Lieferung an Lagerhallen nicht effektiv," sagt die USC-Professorin.

Abgehoben - in zwei Jahren fliegen Autos über Los Angeles
Los Angeles hat parallel zur autofreundlichen Politik in den vergangenen Jahren auch Milliarden in den Ausbau des U-Bahnnetzes, in Fahrrad- und Busspuren investiert. Gleichzeitig setzt der Bürgermeister auf eine Lösung des Problems, die anmutet wie aus einem Hollywood-Kassenschlager: fliegende Autos. „Los Angeles ist die Stadt, in der Ideen von heute zur Realität von morgen werden,” sagte Eric Garcetti im Dezember 2020 bei der Bekanntgabe der Urban Air Mobility Partnership, einer Partnerschaft der Stadt mit privaten Unternehmen zum Aufbau eines Netzwerks von lokalem Luftverkehr. „Wir werden damit zum Vorbild dafür, wie man städtische Mobilität in der Luft gestaltet.” In zwei Jahren schon sollen die ersten elektrischen Vehikel im Himmel über Los Angeles fliegen. In einem Werbevideo sehen die Flugmaschinen aus wie eine Kreuzung aus Drohne und Hubschrauber. Passagiere heben damit von Wolkenkratzern ab, gleiten entspannt über verstopfte Straßen und landen direkt vor den Haustüren ihrer modernen Villen.

Bürgermeister Garcetti verspricht, dass der moderne Lufttransport über L.A. nicht nur etwas für reiche Überflieger wird. Die Stadt hat mit dem Weltwirtschaftsforum und 50 Interessengruppen Principles of the Urban Sky entwickelte. Danach sollen in weniger als zehn Jahren 23.000 fliegende Autos Passagiere für 30 Dollar pro Flug sicher, nahezu geräuschlos und nachhaltig ans Ziel bringen. In einer Anhörung vor dem US-Kongress warb Garcetti für fliegende Autos als Gegenmittel zu Staus und Luftverschmutzung im ganzen Land: „Diese Technologie hat wortwörtlich keine Grenze nach oben. Sie hat das Potential, Abgase zu reduzieren, unsere Gemeinden besser zu vernetzen, und die Wirtschaft anzukurbeln.” Zur Mobilität in der Luft soll auch der Gütertransport in fliegenden Vehikeln gehören.

Professorin Genevieve Giuliano ist skeptisch: “Zehntausende Luft-Fahrzeuge, die im Himmel herumfliegen, sind nicht gerade eine beruhigende Vorstellung,” sagt sie. „Außerdem: Wenn wir davon ausgehen, dass diese Miniflugzeuge zwei bis vier Menschen transportieren, brauchen wir sehr viele Start-und Landeplätze für ein Massentransportsystem.” Die sogenannten Vertiports, von denen die fliegenden Autos senkrecht abheben sollen, sind nur eine von vielen Herausforderungen. Wetterschwankungen und Regulierungen des Luftraums beschäftigen derzeit dutzende Unternehmen, die an der Verwirklichung dieser Vision arbeiten. Kleine Start-ups konkurrieren dabei mit Airbus und Boeing um die Dominanz des Marktes. Dessen Wert wird weltweit auf bis zu drei Billionen Dollar geschätzt.

"Tausende von fliegenden Autos in der Luft? Ich mag mir gar nicht vorstellen, was da alles schiefgehen kann!", sagt Lara, das Porsche Girl, und schüttelt ihren Kopf. Es ist inzwischen vier Uhr nachmittags, und sie ist wieder auf dem Freeway 405 unterwegs. Diesmal Richtung Süden und im Stau. Lara hat einen Termin in Long Beach. Das Navigationssystem zeigt an, dass sie 12 Minuten zu spät ankommen wird. Ihr Kunde nimmt ihr das aber nicht übel. Eine Viertelstunde Verspätung wegen des Verkehrs ist hier Alltag. Lara nutzt die Zeit, um Mascara und Lippenstift nachzubessern. Dann wechselt sie auf die rechte Spur, wo Autos und Laster zügig Richtung Ausfahrt vorankommen. "Die Spur geht hier direkt in die nächste Auffahrt-Rampe über. Ich kann parallel zum Hauptverkehr weiterfahren", erklärt sie und rauscht mit breitem Grinsen rechts am Stau vorbei. "Eine Minute gewonnen und das Navi mal wieder überholt!"

Vier Ebenen Asphalt und Beton kreuzen sich hier – und bald fliegen vielleicht auch noch Autos durch die Luft.

Mit der eigenen Tunnelfirma gegen den Verkehrsfrust
Müde vom ewigen im Stau stehen, hat Lara bereits ernsthaft überlegt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihren Kundïnnen zu kommen, statt mit dem Porsche. Doch das rechnete sich nicht - weder finanziell noch zeitlich. So skeptisch sie gegenüber fliegenden Autos ist - noch weniger begeistert ist sie vom Tunnelbau unter Freeways, wie ihn Tesla-Erfinder Elon Musk vorgeschlagen hat. Sie ist zwar von der Idee, Menschen in einer Metallröhre mit magnetisch angetriebener Transportkapsel bei über 1000 Stundenkilometer auf die Reise zu schicken, fasziniert. „Aber in Kalifornien bitte nicht unterirdisch. Die Vorstellung, bei einem Erdbeben in einer Röhre zu stecken, ist grauenvoll!” Die Idee zum Tunnelbau kam Musk im Dezember 2016 beim Weg zur Arbeit. „Der Verkehr macht mich verrückt. Ich werde eine Tunnelbohrmaschine bauen und anfangen zu graben,” klagte er auf Twitter und gründete The Boring Company.

Im Dezember 2018 rauschten die ersten Autos durch einen 1,8 Kilometer langen Testtunnel in der Nähe von Musks SpaceX-Unternehmen südlich von Los Angeles. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 65 Stundenkilometern war das Experiment allerdings noch weit vom Ziel der 1000 km/h entfernt. Der Bürgermeister zeigte sich dennoch beeindruckt. „Elon Musk sprengt Grenzen, im All, virtuell, über und unter der Erde,” sagte Eric Garcetti. Er gab zu, dass noch niemand wissen könne, ob Tunnel effektiv zur Lösung von Verkehrsproblemen beitragen können. „Aber ich möchte, dass Los Angeles die Stadt ist, in der Ingenieure solche Ideen ausprobieren.”

Entlastung durch Elektrifizierung
Ein weiteres Konzept verbindet die Verlagerung des Verkehrs unter die Erde mit Elektrifizierung. Die Idee des magnetisch angetriebenen Transports von Menschen, Autos und Gütern in engen Röhren wird inzwischen weltweit unter dem Überbegriff Hyperloop entwickelt. Elon Musk war massgeblich auch an der Wiederbelebung dieser Idee beteiligt, die Ende des 18. Jahrhunderts das erste Mal öffentlich erwähnt wurde. Musks Vision vom Tunnelbau für seinen Weg zur Arbeit in Los Angeles hat allerdings noch nicht so recht Fahrt aufgenommen. Er ist derzeit mit mehreren Städten in Texas im Gespräch über die Entwicklung unterirdischer Transportwege.

„Um Himmels Willen, nein!” kommentiert USC-Professorin Genevieve Giuliano die Idee. „Autos müssen Schlange stehen, damit sie in die Tunnelkapsel kommen. Den nächsten Stau gibt’s am Tunnelende. Ganz abgesehen von den Milliarden, die es kostet, das Ganze erdbebensicher zu bauen.” Realistischer erscheint der Städtebau- und Transportexpertin der Ausbau vom Straßenbahnnetz. Ob sich eine solche schnittige, elektrische und automatisierte Bahn für den Abschnitt des Freeways 405 lohnt, der Elon Musk in den Wahnsinn trieb, wird gerade mit einer 6 Milliarden Dollar teuren Studie getestet. In 24 Minuten soll die Bahn eine Strecke überwinden, auf der täglich fast 380.000 Autos und Laster stundenlang im Stau stehen.

„Auch hier müssen wir überlegen, wieviel Energie und Geld wir für welches Resultat in das Projekt stecken,” warnt Genevieve Giuliano, und dass selbst über der Erde die geologischen Gegebenheiten Kaliforniens zusätzliche Hürden schaffen. „Erdbebensichere Überführungen zu den geplanten 18 Haltestellen zu bauen ist teuer und aufwändig.”

Am südlichen Ende des Freeways 110 liegt der Hafen von Los Angeles – neben den Pkw rollen auch Trucks über die volle Schnellstraße.

Unkonventionelle Ideen für San Francisco
Das derzeit teuerste und aufwändigste Verkehrsprojekt Kaliforniens ist allerdings weder Straßenbahn noch Tunnel - es ist ein Hochgeschwindigkeitszug zwischen Los Angeles und San Francisco. Schon Arnold Schwarzenegger hatte sich als Gouverneur für die Verbindung eingesetzt, die die 600 Kilometer in zwei Stunden und 40 Minuten zurücklegen soll. Kostenexplosionen, Verzögerungen und Proteste haben das Projekt auf eine Strecke von 275 Kilometern mitten im Bundesstaat zusammen schrumpfen lassen. Über den Freeway 5 zwischen den beiden kalifornischen Metropolen donnern unterdessen weiter Autos und Laster vorbei an Erdbeerfeldern, Kuhställen und Orangenhainen.

Dabei hat San Francisco bereits eine der beeindruckendsten Verkehrs-Konstruktionen der USA: Die Transbay Tube transportiert in Hauptverkehrszeiten in einer Tiefe von über 40 Metern unter dem Meeresspiegel mehr als 28.000 Passagiere pro Stunde von San Francisco auf die andere Seite der Bucht nach Oakland. Die Züge erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern und sind notorisch überfüllt. Die einzige Alternative aber ist der Stau auf der Brücke über die Bucht.

Vor drei Jahren entfachte die Stadtplanungskommission mit einem Wettbewerb für unkonventionelle Ideen zur Behebung des Problems die Fantasie der verkehrsgestressten Bürgerïnnen. Sie forderten Gondeln, Fähren, unter- und überirdische Fließbänder und fliegende Autos. „Wir haben genug vielversprechende originelle Entwürfe gesehen, um die kommende Generation von Stadtplanern damit zu beschäftigen," sagte der Vorsitzende der Kommission, Jake Mackenzie, zum Abschluss des Wettbewerbs. Allerdings wird keine einzige dieser Ideen derzeit umgesetzt. Die Stadt sei noch dabei, die Vorschläge auf ihre Realisierbarkeit zu überprüfen, sagte Mackenzie. San Francisco arbeitet stattdessen an Studien für einen weiteren Unterwasser-Tunnel und an der Erweiterung der bestehenden Brücke.

Lara ist unterdessen auf dem Weg nach Hause. Wiedermal im Stau. Sie verabredet sich mit ihrer Freundin fürs Wochenende zum Cruisen auf dem Pacific Coast Highway. „Sonntag, um acht Uhr morgens," sagt sie und erklärt: „Ich bin eigentlich ein Morgenmuffel, aber das ist die einzige Zeit in dieser Stadt, in der die Straßen leer sind und man das Fahren noch genießen kann."


Kerstin Zilm berichtet als freie Korrespondentin für Radio, Print und Fernsehen aus Los Angeles.

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