Karlheinz Geißler im Gespräch

Schnell zu mehr Langsamkeit

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#16 Tempo
2021

Text

Miriam Holzapfel

Fotos

Noah Kalina

Miriam Holzapfel im Gespräch mit Karlheinz Geißler über Takt, Rhythmus und den Charme von Wartezeiten

Herr Professor Geißler, wir waren für 11 Uhr verabredet und eigentlich hatte ich mich beeilt, um auf die Minute pünktlich zu sein. Vor ihrem Haus kamen mir dann Zweifel: Legen Sie auf eine solche Pünktlichkeit überhaupt Wert?
Nun, Sie sehen es ja: Ich sitze im Rollstuhl, weil ich früher Kinderlähmung hatte. Bis vor zehn Jahren konnte ich zwar noch gehen, aber ich konnte nie aus eigener Kraft beschleunigen, ich konnte nie schnell sein, mich nie sehr beeilen. Ein solches Leben setzt voraus, dass man verschiedene Zeitformen leben kann: Man muss warten können, Pausen aushalten, man muss langsam sein können – und all diese Zeitformen produktiv machen. Und deshalb ist Pünktlichkeit eine Kategorie, die für mich nicht wichtig ist.

Aber wie verabreden Sie sich dann?
Ich mache keine Zeitpunktverabredungen, sondern Verabredungen für Zeiträume. Ich sage: Kommen Sie so zwischen 11 Uhr und 12 Uhr oder kommen Sie am späten Vormittag. So machen das übrigens auch Naturvölker und andere Gesellschaften, die wirtschaftlich nicht ganz so prosperieren. Oft finden wir das sehr reizvoll, denken Sie an Italien, wo man es mit der Pünktlichkeit auf die Minute auch nicht ganz so genau nimmt. Und doch organisiert sich unsere Gesellschaft in der Regel streng nach der Uhr.

Wie organisieren Sie denn Ihren Tag, wenn nicht nach der Uhr?
Gerade wenn man keine Uhr nutzt, bekommt man irgendwann ein sehr gutes Gefühl dafür, wie spät es ist. Und das reicht mir. Ich schaue zur Sonne und weiß, welche Tageszeit es ist und ich fühle, wenn Mittag ist oder wenn die Zeit für eine bestimmte Handlung gekommen ist. Bevor ich mich am Morgen an den Computer setze, koche ich mir beispielsweise erst einen Espresso. Solche Rituale strukturieren meinen Tag und ich weiß immer, an welcher Stelle ich mich gerade befinde und welche Phase als nächstes kommt.

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Prof. Dr. em. Karlheinz Geißler war bis zu seiner Pensionierung Universitätsprofessor in München. Er ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und des Tutzinger Projekts Ökologie der Zeit. Zuletzt ist von ihm Die Uhr kann gehen: Das Ende der Gehorsamkeitskultur erschienen. (Bild: Privat)

Reicht dieses Gefühl aus, um beispielsweise einen Zug zu bekommen? Der fährt ja genau zu einem bestimmten Zeitpunkt ab und nicht nur so ungefähr.
Na, so ist es ja eben gerade nicht. Die Bahn ist eine sehr elastische Organisation, was Zeit betrifft, sie ist ein Scheinriese im Hinblick auf Pünktlichkeit. Viele Leute erreichen einen Zug nur deshalb, weil er verspätet ist. Wenn ich von Frankfurt nach München fahren will, und das kommt öfter vor, dann begebe ich mich zum Bahnhof, wenn ich bereit bin, und meistens kommt ein Zug früher, als ich es erwarte. Und sicher erreiche ich am Ende der Reise meinen Zielort – darauf kommt es an. Pünktlichkeit ist eine Sache, die man gerade bei Zugreisen lieber nicht erwarten sollte. Beim Autofahren macht man das ja auch nicht, dass man eine Ankunft nach langer Fahrt auf die Minute genau einhält. Ich habe eine Zeitlang den deutschen Bahnvorstand beraten und immer dazu geraten, nicht ausgerechnet mit Pünktlichkeit fürs Bahnfahren zu werben, denn das produziert permanent Enttäuschung. Wichtig ist, dass die Bahn überhaupt fährt, dass sie sicher ist und einen gewissen Komfort bietet. Unsere Gesellschaft erfordert doch sonst auch sehr viel Flexibilität und aus einer gewissen Unpünktlichkeit ergeben sich überall Chancen. Das Warten auf einen Zug beispielsweise kann sehr produktiv sein, der Philosoph Walter Benjamin hat es einmal ungefähr so formuliert: Je länger ich warten muss, desto schöner werden die Frauen.

Zuletzt hat die Corona-Pandemie sehr viel Warte- und Pausenzeiten mit sich gebracht, die viele Menschen eher weniger schön fanden. Wie haben Sie als Zeitforscher diese Phase der Entschleunigung erlebt?
Natürlich war das sehr spannend für mich. Das Interessante ist, dass die Pandemie eine besonders radikale Form des Ausbremsens gewesen ist. Allerdings wurde die Gesellschaft als solche dabei gar nicht wirklich entschleunigt. Zwar hat in vielen Bereichen des Lebens die Geschwindigkeit abgenommen, viele Menschen mussten morgens nicht mehr schnell aus dem Haus oder auf dem Weg nach Hause rasch noch etwas einkaufen. Auf der anderen Seite gab es aber auf einmal ganz neue zeitliche Belastungen, der Arbeitsalltag wurde sehr verdichtet: Alles musste neu koordiniert werden, man musste für sich selbst eine Festlegung treffen, wann man morgens aufsteht, wann man mit der Arbeit anfängt und wann man eine Pause macht, um sich um Haushalt oder Familie zu kümmern. Es sind in der Pandemie viel mehr Zeitentscheidungen zu treffen gewesen und nicht etwa weniger, nur weil das gesellschaftliche Leben insgesamt ausgebremst wurde. Und man muss erst einmal lernen, wie man das überhaupt macht, wie man sich organisiert und wie man Familienleben und Arbeitsleben voneinander trennt.

Wie gelingt es mir, wieder mehr nach der eigenen Ordnung zu leben?
Na, indem ich mich nicht immer nach der Uhr richte. Die Uhr ist eine bestimmte Form von Ordnung und wenn ich sie ablege, organisiere ich meine Zeit wieder selbst, nicht mehr nach einem Gerät ausgerichtet, sondern nach der jeweiligen Situation. Anders ausgedrückt: Ich muss nach Zeitqualitäten leben - die Uhr zeigt aber nur Quantität. Beispielweise beginnt die Schule immer um acht, egal, ob die Kinder noch müde sind oder nicht. Das ist überhaupt nicht sinnvoll. Besser wäre es, wenn Kinder morgens dann in die Schule gehen könnten, wenn sie auch wirklich lernfähig sind, wenn man also in den Schulen ein Gleitzeitmodell einführen würde. Kinder und Eltern wären dann aufgefordert, die Zeiten des eigenen Körpers als Maßstab zu nehmen und nicht die der Uhr. Wenn man so will, war dies ein Vorteil der Pandemie: Dass die formalen Strukturen größtenteils weggefallen sind und man zu einer eigenen Ordnung finden konnte. Dafür sind Rituale hilfreich, sonst steht man am Ende am Kochtopf und rührt mit dem Smartphone um, weil man gedanklich noch bei der Arbeit ist. Es braucht im Laufe eines Tages jeweils Distanz zum Vorangegangenen und die bekommt man, indem man Übergänge organisiert und Pausen macht. Wo es aber nicht gelingt, eine eigene Ordnung zu schaffen, entsteht Stress.

Insgesamt ist es ja so, dass Schnelligkeit im Arbeitsleben in aller Regel gern gesehen ist, während Langsamkeit oft als Makel interpretiert wird. Hat die Schnelligkeit ihren guten Ruf zu Unrecht?
Das finde ich nicht. Der Schnelligkeit ist viel zu verdanken und es ist verständlich, dass die Ökonomie auf Schnelligkeit setzt, weil dort eben Zeit in Geld verrechnet wird. Wenn Sie kein Geld verlieren wollen, müssen Sie beschleunigen. Und das führt letztlich zu volkswirtschaftlichem Wachstum. Die Schnelligkeit hat also großartige Vorteile, sie macht uns wohlhabend: Dort, wo es sehr, sehr schnell gehen muss, wird am meisten Geld verdient, an der Börse zum Beispiel. Es gibt im Finanzwesen keine Zeit, die nicht in Geld verrechnet wird. Umgekehrt ist es so, dass das, was man nicht beschleunigen kann, meist nicht besonders gut bezahlt wird, Pflege zum Beispiel. Das alles hat aber Grenzen und man muss sehen, an welcher Stelle Schnelligkeit wirklich sinnvoll oder notwendig ist. Der Mensch kann nicht permanent nur beschleunigen, denn Beschleunigung verbraucht Ressourcen. Für ein wirklich gutes Leben benötigen wir auch Zeiten, die nicht in Geld verrechnet werden können. Diese Zeiten sind ebenfalls überaus wichtig und produktiv. Man kann beispielsweise nicht dauerhaft den Schlaf verkürzen, wenn man sich gut fühlen will. Also, Wohlstand entsteht durch Schnelligkeit, aber wirkliche Zufriedenheit kommt durch Langsamkeit.

Das heißt, man sollte die eine Zeitform nicht grundsätzlich der anderen vorziehen?
Aber nein! Ich bin für Vielfalt, auch in der Zeit. Es gibt viele Zeitformen und alle haben etwas Produktives, sonst gäbe es sie nicht. Wir müssen daher schauen, welche Produktivkraft in den verschiedenen Zeitformen jeweils liegt und wie wir zu einer Zeitorganisation kommen, die uns zufriedenstellt. Das heißt, wir müssen zwischen Takt und Rhythmus unterscheiden. Wenn wir uns nach der Uhr organisieren, organisieren wir nach Takt - und der kann beschleunigt werden. Takt heißt Wiederholung ohne Abweichung: Jede Stunde ist gleich lang und wenn eine Stunde nicht gleich lang ist, ist die Uhr kaputt. In der Natur ist das anders, sie ist rhythmisch organisiert und daran können wir uns orientieren: Im Winter sind andere Zeiten angesagt als im Sommer, die Tage sind je nach Jahreszeit unterschiedlich lang, es gibt Ruhephasen und Beschleunigung und alle Phasen haben ihre Berechtigung und ihre Dauer. Es gibt deshalb kein Volk auf der Erde, das keinen Rhythmus hätte, das nicht tanzt und singt. Aber es gibt viele Völker ohne Uhr.

Das bedeutet, dass dem Menschen Rhythmus eingeschrieben ist, Takt aber nicht?
Genau, jedes Leben ist rhythmisch. Und wenn es Zeitprobleme gibt, ist immer Rhythmus die Lösung. Ich bin deshalb auch für eine Verteilung des Ruhestands auf das gesamte Leben. Das könnte so aussehen, dass wir längere Urlaube machen oder dass Eltern Erziehungszeiten nehmen. Das wird ja bereits in einigen Staaten unterstützt und finanziert, das sind wirksame symbolische Handlungen, die in Richtung einer Gesellschaft weisen, die die Vielfalt von Zeiten anerkennt. Auch im Hinblick auf den Klimawandel ist das eine wichtige Forderung: Wir müssen sehr schnell zu mehr Langsamkeit kommen.

Nicht nur Langsamkeit, auch das Warten ist den meisten Menschen sehr unangenehm. Warum ist das so?
Es gibt unterschiedliche Formen des Wartens. Es gibt ein Warten, das sehr lästig ist: Wenn jemand anderes uns warten lässt, denn das ist immer mit Herrschaft verbunden. Da sitzt man dann in Vorzimmern oder auf langen Gängen oder an zugigen Orten und fühlt sich der Organisation eines anderen ausgeliefert. Es gibt aber auch ein Warten, das hochproduktiv ist. Ein Bauer, der gut warten kann, bekommt die besten Äpfel oder die besten Kartoffeln. Da gibt es nichts zu beschleunigen. Auch das erzwungene Warten, weil der Zug vielleicht eben doch noch nicht kommt oder weil es einen Sturm gibt, kann durch andere Dinge kompensiert werden, durch Sozialkontakte etwa, die uns guttun. Man kann zum Beispiel Wartezeit nutzen, um endlich wieder jemanden anzurufen, mit dem man lange nicht gesprochen hat oder man sucht das Gespräch mit jemandem, der sich ebenfalls in dieser Situation befindet. Oder man atmen einfach mal durch.

Zeit wird also als angenehmer erlebt, wenn ich mich auf die jeweilige Situation einlasse, anstatt mich abzulenken?
Ja, auf die jeweilige Situation und auf die Zeitformen, die die verschiedenen Situationen uns anbieten. Natürlich gibt es Zeiten, da muss man einfach schnell sein und das ist völlig in Ordnung. Es gibt aber auch andere Zeiten, wo das nicht notwendig ist. Und das sollte man erkennen und unterscheiden können, dafür sollte man ein Gefühl entwickeln. Es geht darum, eine Verbindung mit der Umgebung herzustellen, mit dem sozialen Raum und mit der Natur. Wenn das gelingt, dann geht es uns gut, in welcher Zeitform auch immer.


Miriam Holzapfel hat Kulturwissenschaften studiert und arbeitet als Redakteurin und Autorin.

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