Faszination Geschwindigkeit
Schneller!
Die Faszination des Menschen für Geschwindigkeiten und Bestmarken lässt sich besonders im Sport beobachten. Welchen Reiz übt das Höher-weiter-schneller-Prinzip auf die Athletinnen und Athleten aus? Und wann macht es Sinn, das Tempo auch mal zu drosseln?
Start über 100-Meter-Hürden der Frauen bei den Südafrikanischen Meisterschaften 2009. Eine der Favoritinnen bei diesem Rennen ist die 18-jährige Irmgard Bensusan. Die Tochter einer Deutschen und eines Südafrikaners hat schon im Alter von vier Jahren mit der Leichtathletik begonnen. Das Sprinten liegt ihr im Blut. „Schnell laufen“, sagt die heute 29-Jährige, „hat mir schon immer das Gefühl von maximaler Freiheit verschafft. Einfach drauflos rennen, keine Gedanken im Kopf, die völlige Entkrampfung.“ Bensusans großes Ziel: die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Ein Sieg über die 100-Meter-Hürden bei der Nationalen Meisterschaft wäre auf dem Weg dahin schon mal ein großer Schritt.
Dann passiert es: Nur wenige Sekunden nach dem Start bleibt die Sprinterin im Rennen so unglücklich an einer Hürde hängen, dass sich Knie und Unterschenkel heftig verdrehen. Die Diagnose: Kreuzbandriss im rechten Knie, dazu Knochenbrüche und gerissene Nervenbahnen im Unterschenkel. Die schnelle junge Frau kann ihren rechten Fuß nicht mehr spüren. Die Ärzte machen ihr Mut auf eine zeitnahe Genesung, doch die Behandlung schlägt nicht an. Der Fuß bleibt taub und schlaff. Irmgard Bensusan wird nie wieder auf zwei gesunden Füßen laufen können.
Etwa zur selben Zeit holt Andreas Müller Bronze im Scratch bei den Bahnrad-Weltmeisterschaften im polnischen Pruszków und gehört damit auch ganz offiziell zu den schnellsten Radfahrern auf diesem Planeten. Geboren in Berlin startet Müller seit 2008 auf Straße und Bahn für Österreich, einige Jahre später wird er für das Radsportteam Gebrüder Weiss-Oberndorfer fahren. Auch in Müllers Leben dreht sich alles um Geschwindigkeit. Einmal knackt er bergab und im Windschatten die magische 100 km/h-Grenze, ansonsten bewegt er sich in der Regel bei der Hälfte des Tempos. „Als Radsportler“, sagt er, „musst du ein Draufgänger sein, ein bissl Wahnsinn hat jeder in sich.“ Müllers Sportler-Kollege, der Skirennfahrer Christian Neureuther, hat das mal in einem Interview mit „Financial Times Deutschland“ gut zusammengefasst. Rennsportler seien oft „süchtig nach dem Rausch, der Ekstase, den Kräften, die in einer Kurve auf sie wirken“. Einer Sucht, der sich auch Müller nicht entziehen kann: „Vor einigen Jahren gönnte ich mir mal eine kurze Pause vom Radsport. Nach kurzer Zeit war ich so unausgelastet, dass ich mir mein Fahrrad schnappte und völlig sinnlos über rote Ampeln im Berliner Verkehr raste.“
Mit ganz anderen extremen Erfahrungen muss sich die schwerverletzte Sprinterin Irmgard Bensusan befassen. Als ihr bewusst wird, von nun an mit einer Behinderung leben zu müssen, bekommt sie Essstörungen und fällt in eine Depression. „Dreieinhalb Jahre habe ich sehr gelitten“, sagt sie. „Mein ganzes Leben hatte ich dem Sprinten untergeordnet. Ich fragte mich: Wer bin ich ohne den Sport?“ Nach einem langen und schmerzhaften Prozess habe sie ihr Handicap schließlich akzeptieren können – „und damit wieder zu mir selbst zurückgefunden“.
2012 zieht Bensusan in die Heimat ihrer Mutter und entwickelt sich bei Bayer Leverkusen zu einer der besten Para-Sprinterinnen der Welt. Mithilfe einer Orthese, einer Art Stützschiene, die ihren verletzten Fuß in Form hält, startet sie vorrangig über die Distanzen 100-, 200-, und 400-Meter. Weil sie nicht mit einer dieser schaufelförmigen Feder-Prothesen aus Carbon läuft, muss sie sich bis heute den Vorwurf gefallen lassen, einen Wettbewerbsvorteil zu genießen. „Aber das ist Quatsch. Der Fuß in meiner Orthese ist lediglich ein Teil, den ich mit mir rumtrage.“ Dass sie auch als Parasportlerin wieder zu den schnellsten Frauen der Welt gehöre, habe in ihrem Fall vornehmlich mit der mentalen Bewältigung ihres Handicaps zu tun. „Ich sehne mich noch immer nach dieser Freiheit durch Geschwindigkeit. Erst als ich meine Behinderung angenommen habe, konnte ich diese Freiheit wieder spüren.“ Mit großem Erfolg: Bei den Paralympics von Tokio lief die inzwischen für Deutschland startende Bensusan über 200 Meter in 26,58 Sekunden zu Silber.
Eine olympische Medaille ist dem Rennradsportler Andreas Müller, der in Tokio Fahnenträger für die österreichische Mannschaft war, bislang verwehrt geblieben. Für den 41-jährigen zeigt sich die Faszination Speed vor allem in den Kurven, wenn die Fliehkräfte so stark sind, dass man „extrem in den Sattel gepresst wird und die Hände nicht mehr vom Lenker nehmen kann“. Während die besten Fahrer der Szene einfach nicht an mögliche Gefahren dächten, wäge er mögliche Risiken recht rational ab. „Auf der Straße ist man vielen äußerlichen Einflüssen ausgesetzt. Auf der Bahn hat man dagegen vergleichsweise Laborbedingungen.“
Beim Radsport, sagt Müller, der seit einigen auch als sportlicher Leiter für den österreichischen Verband tätig istkomme es neben dem Mut zum Risiko, dem Talent und der Trainingsbereitschaft auch sehr aufs Material an – heute deutlich mehr als noch vor zehn Jahren. „Die technischen Entwicklungen in den vergangenen Jahren waren enorm. Wobei man auch schon damals wusste, worauf es bei der Jagd nach den Bestzeiten vor allem ankommt: Aerodynamik.“ Den Anteil der Aerodynamik beim Thema Speed schätzt Müller auf 95 Prozent. Rollwiderstand, Kettenspannung, all das falle nur marginal ins Gewicht. Kein Rennradsportler würde heute noch mit offenem Trikot fahren. Für spezielle Zeitfahranzüge bezahlen die Profis heute bis zu 5000 Euro, auch Räder und Helme sind entsprechend designt. „Widerstand steigt im Quadrat zur Geschwindigkeit“, erklärt Müller, „um den Durchschnitt von 50 auf 51 km/h anzuheben, muss man also weniger Watt treten, als von 60 auf 61 zu kommen.“ Dort habe man sich inzwischen auf der Bahn eingependelt, durchschnittlich 10 km/h mehr als noch zu Müllers Rookiezeiten. Diese Jagd nach immer neuen Rundenrekorden treibt zum Teil erstaunliche Blüten. Bei den Spielen von Tokio klebten sich einige von Müllers Konkurrenten spezielle Pflaster auf die Schienbeine, um so den Luftwiderstand zu verringen. Eine Praxis, die schnell verboten wurde. Erlaubt ist hingegen der Tipp, den Müller seinen Kollegen mit auf den Weg gab: „Wer alles dafür tun will, Widerstand zu verringern, der schneidet sich vor dem Rennen auch die Fingernägel.“
„Seit Jahrtausenden lässt der Homo sapiens nicht vom Risiko“, schreibt die „ZEIT“ in einem 2012 erschienenen Artikel mit der Überschrift „Drang nach Extremen – Eine uralte Sucht“, „so wurden Pole erobert, höchste Gipfel bestiegen, Speisepläne erweitert und Medikamente gefunden.“ Und Rennen gewonnen: 44,72 km/h schnell war Irmgard Bensusans Sprintkollege Usain Bolt, als er 2009 den Weltrekord über 100 Meter aufstellte. Sagenhafte 296 km/h erreichte Müllers Radsportkollegin Denise Mueller-Korenek, als sie 2018 im Windschatten eines Dragsters durch die Salzwüste von Utah jagte. Die Faszination rast immer mit. Formel 1-Legende Michael Schumacher hat dazu mal gesagt: „Es geht immer darum, ob du das Gefühl für den Grenzbereich hast. Das Limit zu fühlen ist ein tiefes Gefühl der Freude und der Befriedigung. Aber ist es ein permanenter Kampf, auch gegen die Physik.“ Ein Kampf, der reichlich Gefahren birgt. Andreas Müller beobachtete bei den Spielen von Tokio „deutlich mehr Stürze als sonst“. Und Irmgard Bensusan musste 2009 am eigenen Leib erfahren, was selbst auf der Tartanbahn passieren kann.
Die anstrengenden Jahre und Monate der Vorbereitung auf die Paralympics 2021 will die Silbermedaillen-Gewinnerin nun übrigens mit einer lange geplanten Backpacking-Tour ausgleichen. Und vielleicht macht sie dabei eine Erfahrung, die sie so noch gar nicht kannte, die aber auch ihre Reize hat: die Entdeckung der Langsamkeit.
Alex Raack ist freier Autor und war viele Jahr lang Redakteur für das Fußballmagazin 11 FREUNDE.