Erkenntnissgeschichte
Woher kommt unser Wissen?
Was wir wissen, hat sich über die Jahrtausende genauso gewandelt wie die Wege, auf denen wir Wissen erwerben. Noch heute profitieren wir von Erfahrungen, die unsere Vorfahren gemacht haben – oft mit hohem Risiko für Leib und Leben. Immer wieder ging in der Menschheitsgeschichte auch Wissen verloren. Über manche frühere Gewissheit kann man heute nur den Kopf schütteln, während uns anderes vielleicht für immer ein Rätsel bleiben wird. Eine kleine Geschichte des Erkenntnisgewinns.
Uralte Fragen: Wohin führen uns die Sterne?
Schon immer waren Menschen fasziniert von den Sternen. Und sehr früh kam bei einigen zum staunenden Blick in den Himmel ein systematisches Beobachten hinzu. Der Lauf der Gestirne gehorcht einem Rhythmus. Archäologische Funde legen nahe, dass schon die Menschen der Steinzeit diesen Takt verstehen wollten. Sehr wahrscheinlich kannten sie schon die Himmelsrichtungen, achteten auf Mondphasen, Sonnenwenden und Sternbilder. Später suchten die ersten Bauern am Himmel nach Zeichen, die ihnen den richtigen Zeitpunkt für Aussaat und Ernte verrieten. In vielen Kulturen ist dieses Signal das Sternbild der Plejaden, das mit dem Frühlingsanfang hinter dem Horizont verschwindet und erst zur Erntezeit wieder auftaucht.
Fundstücke wie die bronzezeitliche Himmelsscheibe von Nebra deuten darauf hin, dass die Menschen ihre Beobachtungen festhielten und an spätere Generationen weitergaben. Denn Wissen war wertvoll. Untrennbar verbunden war die Astronomie mit Astrologie, Kult und Religion. Die Menschen glaubten, dass der Lauf der Gestirne eine Himmelsschrift der Götter sei: Ihre Lektüre konnte helfen, Unheil auf der Erde abzuwenden. Sterndeuter hatten großen Einfluss auf die Politik. Und weil die Mächtigen immer schon gerne planten, kam spätestens im neubabylonischen Reich zur Beobachtung von Himmelsphänomenen deren Berechnung hinzu. Die Astronomie als älteste Wissenschaft ist eine Grundlage unserer Zivilisation und die Voraussetzung für zahllose weitere Erkenntnisse. Erst astronomische Kalender erlaubten den Menschen, Überschüsse zu produzieren und mit ihnen Handel zu treiben. An Land waren Handelsreisen beschwerlich. Zur See ging es zwar schneller, aber wenn es um Navigation geht, werden Versuch und Irrtum schnell lebensgefährlich. Die meisten Seereisenden blieben deshalb in Sichtweite der Küsten und segelten nur bei Tag. Einige Völker jedoch entwickelten mit einfachen Hilfsmitteln die astronomische Navigation.
Die Phönizier aus der Region des heutigen Libanon und Syriens waren wohl die ersten, die nach den Sternen navigierten. Sie brachten Waren und Menschen zielsicher quer durchs Mittelmeer, wagten sich sogar hinaus bis zu den Kanarischen Inseln und an die westafrikanische Küste. Am anderen Ende der Welt prägten sich die Polynesier schon als Kinder 178 Sterne und Sternbilder ein und kombinierten sie mit der Beobachtung von Strömungen, Wind, Wellengang und Vogelflug. So konnten sie Inseln im Pazifischen Ozean bereisen, die Tausende Kilometer vom Festland entfernt liegen. Viele Entdeckungen dürften allerdings auch das unverhoffte Ergebnis von Irrfahrten gewesen sein. Die Legenden der Wikinger erzählen von Reisen in Unwetter und Nebel, bei denen das Wissen um Sonnenstand und Nordstern wenig half – und die sie trotzdem bis an die Ostküste des heutigen Kanadas brachten.
Über die Jahrhunderte machten Erfindungen wie Jakobsstab, Kompass und Sextant die astronomische Navigation immer präziser. So zielsicher, dass Menschen mit ihrer Hilfe sogar den Mond erreichten. Und noch heute, im Zeitalter von GPS, gehört die astronomische Navigation fest zur Ausbildung in der Seefahrt: Satelliten können gehackt werden, Internet und Funk zusammenbrechen, doch der Blick zum Himmel gibt Orientierung wie eh und je. So zeigt die Astronomie, dass technischer Fortschritt altes Wissen nicht überflüssig macht.
Falsche Schlüsse: Was macht uns krank?
Er gilt als Begründer der medizinischen Wissenschaft: Hippokrates von Kos (etwa 460-370 vor Christus) war wohl der erste Arzt, der systematisch beobachtete, welchen Verlauf unterschiedliche Krankheiten haben. Seine Theorie: Bei einem gesunden Menschen sind die vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle genau ausbalanciert. Gerät das innere Gleichgewicht durch Umwelteinflüsse durcheinander, wird der Mensch krank. Hippokrates war überzeugt, dass es vor allem verunreinigte Luft sei, die Krankheiten auslöse. Vermutlich hatte er beobachtete, dass Menschen in überfüllten Behausungen, in der Nähe von Sümpfen oder Abfallgruben häufig erkrankten. Er schloss daraus, dass solche Orte „Miasmen“ ausdünsten: üble Dämpfe, die Menschen vergiften. Und dass sich Seuchen über den Wind und den Atem der Erkrankten verbreiten.
Hippokrates Miasmentheorie ist ein Beispiel, wie richtige Beobachtungen zu falschen Schlüssen führen können. Sie steht auch dafür, wie lange fehlerhafte Vorstellungen wirksam bleiben, wenn Widersprüche zwar wahrgenommen werden, ihnen aber niemand systematisch nachgeht. Vor allem im mittelalterlichen Europa schrieben Gelehrte die Werke der antiken Autoritäten jahrhundertelang buchstabengetreu ab. Ärzte behandelten lediglich Symptome – die Ursache von Krankheiten war ja klar: verunreinigte Luft. Als um 1348 das Pestbakterium mit dem Rattenfloh in die europäischen Städte kam und Millionen Tote forderte, griff man deshalb zu absurden Maßnahmen. Papst Clemens VI. saß im Sommer monatelang zwischen zwei großen Feuern, die seine Atemluft reinigen sollten – und blieb gesund. Die meisten Menschen trugen Aromasäckchen mit sich, obwohl das wenig brachte. Aber sie beobachteten auch, dass Abstand zu Kranken und Toten half. Sie mieteten keine Karren, mit denen Kranke transportiert worden waren. In der besonders gefährdeten Hafenstadt Marseille isolierte man die Besatzung von einreisenden Schiffen für 40 Tage – und erfand die Quarantäne. Auch falsche Theorien können also zu sinnvollen Maßnahmen führen, was sie allerdings oft umso langlebiger macht.
Die Miasmentheorie sollte noch bis ins späte 19. Jahrhundert das medizinische Denken bestimmen. Obwohl immer klarer wurde, welche Umweltfaktoren Krankheiten begünstigten. Obwohl Mediziner längst begonnen hatten, Körperfunktionen zu messen, statistisch auszuwerten und Abweichungen zu klassifizieren. Obwohl die Erfindung des Mikroskops kleinste Lebewesen sichtbar machte, die sich in Wasser, Lebensmitteln oder Körperflüssigkeiten tummelten. Hygieniker empfahlen den Bau von städtischen Abwassersystemen, ihre Begründung blieb aber: Gestank kann töten. Erst Laborwissenschaftler wie Louis Pasteur und Robert Koch führten systematische Experimente durch, um nachzuweisen, dass winzige Parasiten Krankheiten auslösen und verbreiten. Diesen modernen Wissenschaftlern waren widersprüchliche Ergebnisse willkommen, weil sie zeigten, wo sich weitere Forschung lohnte. 1876 war es dann Robert Koch, der den eindeutigen Nachweis erbrachte, dass es der Bacillus anthracis ist, der die Tierseuche Milzbrand verursacht. Der Siegeszug der Bakteriologie begann. Autoritäten und Gewissheiten immer wieder kritisch zu prüfen, ist für die Wissenschaft allerdings noch heute mitunter eine Herausforderung.
Ungelöste Rätsel: Was passiert in unserem Kopf?
Heute leben wir in einer Wissenschaftsgesellschaft. Unser Wissen wächst exponentiell. Doch wird der Bereich dessen, was wir nicht wissen – und vielleicht nie wissen werden – nicht kleiner, nur weil unser Wissensdurst immer größer wird. Ein immenses Rätsel steckt in unserem eigenen Kopf. Dabei sind die physiologischen Rahmendaten unseres Gehirns eigentlich klar: Etwa anderthalb Kilo schwer, mit bräunlich-grauer Optik und der Konsistenz eines Camemberts. Doch zugleich ist uns im gesamten Universum kein komplexeres Gebilde bekannt. Jede der etwa 100 Milliarden Nervenzellen ist für sich so leistungsfähig wie ein Computer. Sie kann über Axone und Dendriten mit tausenden anderen Neuronen in Verbindung stehen. Unzählige dieser Verbindungsstellen entstehen während des gesamten Lebens neu, organisieren sich, übernehmen spezielle Aufgaben und werden wieder beseitigt.
Was das Gehirn auf diese Weise produziert ist vielfältig und rätselhaft: Wahrnehmung, Erkenntnis, Handlungen, Sprache, Erinnerungen, Emotionen, Vorstellungen. Ihre biologische Grundlage zu verstehen, wird die letzte große Herausforderung der Wissenschaft bleiben, sagt der österreichisch-amerikanische Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Eric Kandel. Manche Fragen, die Hirnforscherinnen und -forscher heute beschäftigen, stellten sich die Menschen bereits vor Urzeiten: Wie entsteht das Bewusstsein, das uns so offensichtlich von anderen Lebewesen unterscheidet? Wie frei ist unser Wille? Was macht unsere Seele krank und wie kann man sie heilen?
Es ist allerdings kein reines Erkenntnisstreben, das die moderne Hirnforschung antreibt. Sollten schwere Erkrankungen wie Alzheimer, Schlaganfälle, Parkinson oder Depressionen irgendwann heilbar sein, wäre das auch volkswirtschaftlich von großem Nutzen. Viele Länder haben deshalb milliardenschwere Großforschungsprojekte aufgesetzt, in denen hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen das Gehirn erforschen: Die Europäische Union etwa startete 2013 das „Human Brain Project“, die USA im selben Jahr die „Brain Initiative“. Es werden Supercomputer, Künstliche Intelligenz und Big Data aufgefahren, in vielen Citizen Science Projekten forschen wissenschaftliche Laien mit oder spenden Daten. Die einsamen Genies früherer Epochen jedenfalls haben in der modernen Großforschung mit ihren interdisziplinären, hochspezialisierten Teams keinen Platz mehr.
Der deutsch-amerikanische Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger Thomas Südhof geht davon aus, dass wir erst fünf Prozent von dem, was im Gehirn vor sich geht, verstehen. Aber obwohl wir nicht wissen, wie es das eigentlich anstellt, wird unser Gehirn auch in Zukunft verlässlich jene Neugier produzieren, die uns seit Menschengedenken antreibt, Erfahrungen zu suchen, Erkenntnisse zu sammeln und Wissen zu teilen.
Stefanie Hardick, Jahrgang 1978, schreibt als freie Journalistin über Wissenschaft und historische Themen.