Memory of Mankind

Der Schatz im Salzberg

Ein Künstler aus Oberösterreich will das Wissen und die Kultur des frühen 21. Jahrhunderts auf Keramikplatten sichern: als Fundus für die Archäologen der Zukunft.

Schmiegt sich an den Berg und spiegelt sich im See: Hallstatt, Österreich. Bild: iStock / rusm

Was wird eine künftige Zivilisation in tausend Jahren noch vorfinden aus unserer Zeit? Leere Getränkedosen? Ruinen aus Stahlbeton? Rostige Atommüll-Fässer? „Schriftliche Quellen jedenfalls fast keine“, sagt Martin Kunze aus Gmunden in Oberösterreich. „Am ehesten vielleicht die Prägung in den Böden von Edelstahlkochtöpfen: ‚Made in China‘.“ Und vielleicht ein paar Inschriften auf verwitterten Grabsteinen.

Kunze - 52 Jahre alt, Vollbart, tiefblaue Augen - könnte recht behalten. Denn zwar werden heutzutage rund um die Uhr mehr Daten erzeugt und gespeichert als je zuvor. Doch den digitalen Trägermedien fehlt die Nachhaltigkeit. Selbst die besten Computerfestplatten halten nur wenige Jahre. Zudem verschlingen die Serverfarmen der Welt Unmengen von Energie, die bald knapp werden könnte. Und niemand kann garantieren, dass sich die Cloud, in der sich die globalen Daten ballen, nicht eines Tages in Luft auflösen wird. „Kurzum“, sagt Martin Kunze: „Unsere Zeit könnte für die Nachwelt zu einem blinden Fleck werden.“

Der Keramikkünstler will gegen diese Gefahr vorbeugen. Seine Idee hört sich an wie aus einem Märchen: ein riesiger Kultur- und Wissensschatz, verborgen in einem Berg. Und es blieb nicht nur bei der Idee: 2012 rief Kunze das Projekt Memory of Mankind (MoM) ins Leben. Seither sammelt er unermüdlich Dokumente unserer Zeit: Doktorarbeiten, literarische Werke, aber auch Kochrezepte, Facebook-Profile und Hochzeitsfotos. Alles hat die Chance, im ältesten Salzbergwerk der Welt in Hallstatt, in den Österreichischen Alpen, verewigt zu werden. Und zwar auf Kunzes Lieblingsmaterial: Ton. Zur Speicherung dienen quadratische Fliesen aus Keramik, 20 Zentimeter breit und hoch.

Was nach Retro klingt, ist Hightech. In einem modifiziertem Laserprinter werden Farbbilder auf die Fliesen gedruckt und aufgebrannt. Die so fabrizierten Fotos halten ewig, sind lichtecht und chemikalienbeständig. Ein weiteres Verfahren, das Kunze gemeinsam mit einer Technologiefirma entwickelt hat, ermöglicht es, auf einer einzigen Kachel beachtliche Textmengen unterzubringen: zum Beispiel den neusten Harry Potter oder wissenschaftliche Fachbücher. Texte und Tabellen werden mit Hilfe eines Lasers in sehr kleiner Schriftgröße in eine hauchdünne, dunkle Keramikschicht auf den weißen Tontafeln graviert, erklärt der MoM-Gründer. „Zum Lesen braucht man nur eine Lupe.“

Was aber ist repräsentativ für unsere Zeit? Das Naturhistorische Museum Wien hat ein Abbild der Blauen Schwimmkrabbe archivieren lassen. Klimaforscher speisen Rohdaten ein, die die globale Erwärmung dokumentieren. Zudem verhandelt Kunze mit den Verlegern großer Zeitungen wie dem „Guardian“ oder der „Süddeutschen“. Bald sollen deren Leitartikel täglich dem MoM-Archiv zufließen. Algorithmen finden sich auf den Kacheln ebenso wie die Biografien von David Hasselhoff oder Edward Snowden sowie Dorfchroniken. Dass gerade das Alltagsleben nicht zu kurz kommt, ist Kunze ein besonderes Anliegen. „Subjektive Erzählungen, etwa Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg, sind ja oft aufschlussreicher, als das, was Staatsarchivare für relevant erachteten.“

Weit über 700 Kacheln lagern bereits im Stollen und werden irgendwann völlig von Salz umhüllt sein. „Salzgestein ist zähflüssig“, erklärt Kunze. „Es bewegt sich etwa in der Geschwindigkeit, mit der Fingernägel wachsen.“ Schon in wenigen Jahrzehnten werde das Eingangstor zum Archiv verschlossen sein. 2000 Meter tief im Berg sollen die Quellen zur Zeitgeschichte dann schlummern, bis sie dereinst unsere Nachfahren oder - nach dem Untergang der Menschheit – eine neue intelligente Zivilisation zurück ans Tageslicht hievt.

MoM-Gründer Kunze ist mit heiligem Ernst bei der Sache. Als Motto hat er ein Zitat des Universalgelehrten Wilhelm von Humboldt aus dem 19. Jahrhundert gewählt: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Das mag stimmen. Doch warum sollten die Archäologen der Zukunft ausgerechnet in einem Salzberg in Oberösterreich nachsehen, was im frühen 21. Jahrhundert so los war?

Auf Keramiktafeln werden analoge Texte für die Nachwelt konserviert. Bild: Jennifer Morrison

Martin Kunze lächelt. „Viele Hunderte Schatzkarten sind bereits im Umlauf“, sagt er. Wer eine Kachel zum Archiv beisteuert, erhält nämlich einen „Token“: einen sechs Zentimeter großen Taler aus Ton, auf dem der Umriss von Europa abgebildet und durch eine Art Fadenkreuz der geographische Ort des Archivs eingezeichnet ist – als Wegweiser. Die Preise sind gestaffelt: 350 Euro kosten Kachel und Token für Interessenten aus Mitteleuropa. Wer aus ärmeren Ländern der Welt stammt, bekommt günstigere Tarife: „Wir wollen auf keinen Fall nur die Kultur des reichen Westens abbilden“, sagt Kunze. Kurztexte können daher aus der ganzen Welt sogar kostenlos eingespeist werden.

Mitunter reisen Familien auch aus der Ferne an, um ihre Kachel eigenhändig im Salzberg einzulagern, erzählt Kunze. Zum Beispiel aus den USA. „Wenn ihr einmal Enkelkinder habt, kommt ihr wieder hierher und seht nach dem Rechten“, legen Eltern ihren Töchtern und Söhnen dann oft ans Herz. Das ist ganz im Sinne des Erfinders. Denn vielleicht werde es irgendwann noch bessere Methoden der Archivierung geben, sagt Kunze. Die Inhaber der Token sollen daher alle 50 Jahre zusammenkommen, um gemeinsam über die Zukunft des Archivs zu debattieren. Das erste Treffen ist für 2070 anberaumt.

Kenntnisse über die Vergangenheit sind nicht nur interessant, sondern mitunter tatsächlich überlebenswichtig. Vertreter der schwedischen Atombehörde und der Nuclear Energy Agency aus Paris haben das MoM-Archiv bereits in Augenschein genommen. Sie suchen nach Möglichkeiten, um Hinweise auf gefährliche Lager mit radioaktiven Abfällen für die Nachwelt zu sichern – und Kunzes Ansatz erscheint ihnen vielversprechend. Geld haben die Atomphysiker allerdings noch keines zugeschossen. Der Künstler finanziert das Projekt seit Jahren über die Gebühren für Kacheln und Token sowie gelegentliche Spenden. „Es geht sich irgendwie aus.“ Manchmal aber träumt er von einem Großsponsor für den anwachsenden Schatz im Bergwerk: „Wenn sich jemand ein wirklich eindrucksvolles Denkmal für die Nachwelt setzen möchte, dann hat er hier im Salzkammergut die Gelegenheit dazu“, sagt er. Ein Monument für die Ewigkeit.

Selbst das unwahrscheinliche Szenario, dass eines fernen Tages ausgerechnet in Hallstatt ein Meteorit einschlagen könnte und den Salzberg samt MoM-Archiv zerschmettert, bereitet Kunze kein Kopfzerbrechen. „Archäologen waren schon immer geübt darin, Scherben wieder zusammenzusetzen“, sagt er. Diese Fähigkeit traue er auch den Archäologen einer künftigen Zivilisation zu.


Till Hein, geboren 1969, hat Geschichte studiert und arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.

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