Barbara Vinken im Gespräch

Die Regeln beherrschen, die Regeln brechen

»Was zieh ich bloß an?« Diese Frage mag sich schon mancher Mensch gestellt haben, der zur Audienz bei Barbara Vinken war. Schließlich hat sich die renommierte Literaturwissenschaftlerin auch als Modekoryphäe längst einen Namen gemacht. Also: Weißes Hemd, schwarzes Sakko? Im Prinzip nicht völlig verkehrt – aber mit Mode hat das nichts zu tun. »Modisch«, so Barbara Vinken, »ist der, der die Regeln des Stils kennt, sie aber immer wieder bewusst ein bisschen biegt oder bricht.«

Frau Vinken, ist es nicht furchtbar anstrengend, Modeexpertin zu sein?
Warum? Weil man immer am Ball bleiben muss?

Und weil man vielleicht nicht in Jogginghosen zum Bäcker darf.
Ja, das stimmt! Man muss schon Gefallen daran haben, zu gefallen – und auch gewissen Gepflogenheiten folgen. »Wer Jogginghosen trägt, hat jede Kontrolle über sein Leben verloren.« Da hat Lagerfeld nicht ganz unrecht. Mir macht Mode Spaß.

Dem ehemaligen US-Präsidenten Obama hat sie keinen Spaß gemacht. Er hatte fast ausschließlich graue und blaue Anzüge im Kleiderschrank. Und das ganz bewusst: So müsse er sich nie Gedanken um seine Garderobe machen und könne sich auf wichtigere Entscheidungen konzentrieren, hieß es einmal. Können Sie nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die sich um ihre Kleidung keine Gedanken machen wollen?
Das ist ein Verzicht auf eines der größten Vergnügen des Lebens! Michelle Obama hat es offensichtlich nicht so gemacht. Aber Mode ist ein Privileg – oder eine Bürde, je nachdem – der Frauen in einer bürgerlichen Gesellschaft. Männer müssen dagegen immer wieder beweisen, dass sie etwas Wichtigeres im Kopf haben als die Frisur, die sie darauf tragen, oder die Kleidung, die sie am Körper haben. Ich selbst empfinde das Aussuchen von Kleidern als großes Glück. Das entspannt mich wie das Kochen. Es gibt dem Leben Duft, Farbe, einfach Sinnlichkeit.

Warum tun sich Männer denn so schwer mit dem Thema Mode?
Das war nicht immer so. In der vorbürgerlichen Gesellschaft hat sich der adlige Mann mit kaum etwas anderem als der Schmückung seines Körpers beschäftigt – mit Seide, Schleifen und Parfums. Männer haben in schönen Stoffen ihre Beine gezeigt, und überhaupt wurde der männliche Körper in der adligen Gesellschaft als der erotischere angesehen. Im bürgerlichen Zeitalter erzieht sich der Mann dann bewusst gegen diesen Körper. Körperbewusstsein wird nun als weibisch diffamiert. Seither stehen die Männer de facto unter einem Modeverbot, während die Bourgeoisie an ihren Frauen die Kastration des Adels zur Schau stellt.

Der Soziologe Norbert Elias vertritt die These, dass unsere moderne Etikette am absolutistischen Königshof entstanden ist. Der Untertan wollte sich durch das Nachahmen seines Königs als berechenbar zeigen und so seine Karriere befördern. Geht es nicht auch beim Thema Mode darum, sich der Gesellschaft als berechenbar zu zeigen?
Sicher. Mode ist wie eine Sprache. Du kannst eine Sprache richtig sprechen und die grammatischen Regeln beherrschen. Und so ist es auch mit Kleidung. Der modebewusste Mensch kann sich artikulieren, kann sich auch disziplinieren. Man zeigt, dass man die Regeln kann, dass man sie gut beherrscht und – dann fängt die Mode an! – dass man ihnen nicht nur blind folgt, sondern mit ihnen spielen kann, sie manipulieren kann, sie verändern kann. Und das ist die Lust an der Mode: zu zeigen, dass man selbstverständlich das Regelsystem beherrscht, die Beherrschung aber so vollkommen ist, dass man gleichzeitig auch einmal die Regeln unterlaufen, umspielen oder ironisieren kann. Insofern ist Mode etwas Intellektuelles.

Und Mode ist Veränderung. Veränderung ist aber gemeinhin das, was den Menschen am meisten Angst macht. Ist Mode daher nur den Mutigen zugänglich?
Da würde ich Ihnen zustimmen. Mode macht Angst und fasziniert zugleich.

Barbara Vinken, geboren 1960 in Hannover, ist eine deutsche Literaturwissenschaftlerin. Nach Lehrtätigkeiten in Konstanz, Yale, New York, Bochum, Hannover, Hamburg und Zürich ist sie seit 2004 Professorin für Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie widmet sich in zwei Büchern auch dem Thema Mode und Kleidung als Mittel des Selbstausdrucks und der Kommunikation: Angezogen (2014) und Die Blumen der Mode (2016). (Bild: K. Rade)

Wie viel Geld braucht man denn, um modisch zu sein?
Es ist einer der großen Irrtümer unserer Zeit, dass wir glauben, Mode hänge am Geld. Das war zu Balzacs Zeiten noch so, wo die Leute im Übrigen noch einen sehr viel größeren Prozentsatz ihres Einkommens für Kleider ausgaben als wir heute. Mode hat immer weniger mit Geld zu tun, und das liegt jetzt nicht an H & M, Zara, Mango oder einer der anderen bekannten Kaufhausketten. Es liegt vor allem am Vintage-Thrill. Man kann sehr modisch sein, wenn man von den Abfällen der Reichen lebt. Es gibt tolle Secondhand-Sachen, die relativ günstig zu haben sind.

Können die angesprochenen Textil-Discounter auch Mode?
Ja, durchaus. Aber ich selbst lehne es ab, dort einzukaufen, weil das Prinzip dieser Läden auf einer doppelten Ausbeutung beruht: Erstens, weil die Kollektionen von Designern fünf Minuten nach Veröffentlichung bereits als Nachbauten in diesen Discountern hängen. Da wird geistiges Eigentum nicht respektiert. Und zweitens, weil die Bedingungen, unter denen diese Kleidung produziert wird, bekanntermaßen vollkommen inakzeptabel sind. Es gibt aber eigentlich noch einen dritten Aspekt, den man hier berücksichtigen sollte.

Nämlich?
Der Augensinn wird in der Mode generell überwertet. Natürlich sieht man Mode. Aber das Kleid ist auch unsere zweite Haut. Wie ist der Stoff? Schmiegt er sich an, umschmeichelt er uns, gleitet er kühl? Können wir uns frei bewegen, fasst er uns ein und hält er uns? Wir fühlen die Weichheit, die Schwere, die Leichtigkeit eines Stoffes, seinen Schwung, der mit dem Körper mitgeht. Knistert er, rauscht er, duftet er?

Liegt nicht das Imageproblem, das die Mode in manchen Kreisen bis heute hat, genau in dieser Augenscheinlichkeit begründet? Kommt in der Diskussion um Mode nicht viel zu kurz, wie ein Kleidungsstück auf uns selbst wirkt, was es in uns auslöst?
Auf jeden Fall. Wir reden über ein Kleidungsstück, als wäre es ein Bild. Der Tastsinn, der Geruchssinn, das Gehör – diese Sinne werden marginalisiert zugunsten der Überbetonung des Auges. Schade eigentlich.

Das bedeutet, der Mensch, der sich auf den Pfad der Mode begibt, wird sich dadurch auch selbst besser kennenlernen?
Natürlich. Ein Kleid macht etwas mit einem. Wie ich gehe, wie ich sitze – das Kleid bestimmt meine Haltung. Insofern setzt es mich in ein Verhältnis zu mir selbst.

Wäre eine modische Gesellschaft eine bessere Gesellschaft?
Ja, es wäre eine höflichere Gesellschaft, die den anderen mit mehr Achtsamkeit ehrt. Es wäre aber auch eine Gesellschaft, die sich der Einzigartigkeit des Körpers viel klarer bewusst wäre. Damit meine ich nicht die Schönheit des Körpers im herkömmlichen Sinn, sondern eine Schönheit, die der Körper vor dem Hintergrund seiner Vergänglichkeit bekommt. Ich rede von einer Gesellschaft, die die Flüchtigkeit des Momentes nicht mehr verleugnen würde. Eine Gesellschaft, die im Leben glücklicher wäre, weil sie mit der Hinfälligkeit des eigenen Körpers anders umgeht.

Aber wenn alle Menschen modisch wären, ist dann die Wirkung von Mode nicht aufgehoben? Braucht Mode nicht einen Kontrast?
Ja, klar. Es ist gar nicht einfach, Mode zu definieren. Ein Versuch: Die Kleidung ist ein Code, der durch die Mode kommentiert wird. Die Mode macht diesen Kleidercode erst einmal sichtbar, weil sie ihn als Kommentar eben erläutert, überbetont, verschiebt, verrückt oder entstellt. Insofern haben die Modesoziologen recht, wenn sie sagen, dass Mode etwas Ironisches, ja: Lust an der Zerstörung des Status quo hat. Nur bricht diese Aggression sich nicht in nackter Gewalt Bahn, sondern drückt sich geistreich und formvollendet aus. Insofern ist Mode ein sehr ziviler Akt des Konfliktes. Sie ist das höchste Raffinement gegenüber verbaler und körperlicher Gewalt.

Gibt es ein Modephänomen, das Sie nervt?
Ich finde, dass im Augenblick die großen Luxuslabels der Branche ein merkwürdiges Spiel spielen. Seit Jahren halten sie uns den Spiegel vor, um uns zu zeigen, dass wir alle Fetischisten sind. Am meisten sticht da Chanel hervor, indem sie sagen: »Du denkst, dass nur die anderen Markenfetischisten sind, aber du selbst kaufst doch ebenfalls alles, solange da nur unser Label draufsteht. And I give it to you! Hier hast du’s!« Da wird dem »doofen Kunden« auf eine wenig geistreiche Weise unter die Nase gehalten, dass er in seinem grotesk schlechten Geschmack jetzt schon wieder auf dieses Branding reingefallen ist. Dieser Zynismus hatte eine gewisse Zeit seine absolute Berechtigung, aber so langsam läuft sich das tot. Also Weihnachtsbäume mit Louis-Vuitton-Schmuck, der hauptsächlich die Initialen zum Funkeln bringt, waren immer schon irre, aber sollten jetzt doch endlich verschwinden. Diese Labels führen uns unsere Barbarei nun zu lange schon vor Augen.

Zur Mode gehört auch Farbe. Die tragen Sie selbst offenbar nicht so gern.
Doch! Aber heute trage ich Trauer um Alaïa. Ein unglaublicher Designer, den ich sehr mochte. Deshalb trage ich im Moment meine schwarzen Alaïas. Sonst trage ich gerne Farbe. Farben zu tragen ist in bürgerlichen Gesellschaften ein Privileg der Frauen. Männer tragen klassischerweise eher gedeckte Farben – Nachtblau, Anthrazit.

Und das finden Sie gut?
Nee! Natürlich sollte die Opposition von männlich versus weiblich, die noch heute die Mode bestimmt, zersetzt werden. Männer sollten diese Fake Corporate Identity endlich aufgeben, Farben tragen und nicht so tun, als verschwendeten sie keinen Gedanken an die Kleidung, die sie tragen. Wenn wir diese modische Zweiförmigkeit nicht mehr hätten, dann wäre das doch eine viel ausgeglichenere Gesellschaft. Das soll aber nicht heißen, dass sich die Frauen den Männern angleichen sollen. Eher sollten die Männer in Richtung Frauen gehen.

Aber soll gute Kleidung an Männern nicht gerade das Männliche und an Frauen das Weibliche betonen?
Ich rede nicht von Unisex. Das ist in der Tat öde und außerdem eher graue Utopie als Realität. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich bis in die 80er-Jahre die weibliche Mode an der männlichen orientiert. Das war eine Einbahnstraße. Und im Moment ist es nun eher so, dass Techniken der weiblichen Haute Couture in die männliche übertragen werden. Etwa der Kontrast zwischen Haut und Stoff, die Durchsichtigkeit, die Ausschnitte, die Rüschen, das ganze Spiel, das den Körper zum Ornament macht. Mittlerweile sitzen die Herrenanzüge nicht nur hauteng, es zieren sie auch auf tiefrotem Grund barocke Rosen. Die Richtung hat sich also in den vergangenen Jahren umgedreht. Männermode zeigt die Reizentfaltung, die im bürgerlichen Zeitalter der weiblichen Mode vorbehalten war. Die minimalistische Ästhetik im Bauhaus-Stil – form follows function – verschwindet langsam.

Was sagen Sie denn zu Orange?
Orange ist das neue Schwarz, spätestens seit Hermès (lacht). Aber eigentlich sind ja alle Farben das neue Schwarz.


Frank Haas ist Leiter der Markenstrategie und Kommunikation bei Gebrüder Weiss und Chefredakteur des Atlas.

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