Leben auf Asphalt
Kleines Bestiarium der Straße
Weltweit gibt es etwa 36 Millionen Kilometer Asphaltstraßen, auf denen insgesamt über 1 Milliarde Fahrzeuge unterwegs sind. Doch es gibt auch Tiere, Pfanzen und Organismen, die sich von der Asphaltdecke und dem motorisierten Verkehr nicht vertreiben lassen.
Flink, clever und anpassungsfähig ist der Kojote in indianischen Fabeln. Diese Eigenschaften helfen Canis latrans bei seinem Umzug in die Stadt, wo er keine natürlichen Feinde hat und leichter Nahrung findet. Kamen die Präriewölfe ursprünglich nur in den trockenen Steppen und Prärien des amerikanischen Südwestens vor, gibt es seit einigen Jahrzehnten kaum noch eine Metropole ohne Kojoten. Die Tiere haben weitläufige Reviere; Straßen sind oft der bequemste Weg, um sie abzulaufen. In Chicago, San Francisco oder Ottawa beobachten Autofahrer immer wieder, wie die Tiere an Ampeln auf Grün warten und vor Kreuzungen einen Schulterblick machen. In Los Angeles schaffen Kojoten es sogar, die zehn Fahrspuren des Freeway 101 zu überqueren – anders als Luchse oder Pumas, deren Lebensraum durch verkehrsreiche Straßen stark eingeschränkt wird.
Autobahngold ist nicht nur eine Betrugsmasche, bei der gefälschter Goldschmuck aus dem Kofferraum heraus verkauft wird. Autobahngold ist auch der Trivialname des goldgelb blühenden und äußerst anpassungsfähigen Schmalblättrigen Greiskrauts (Senecio inaequidens). Die südafrikanische Pflanze konnte sich nach der Einschleppung in Europa nicht nur auf die Jahreszeiten der Nordhalbkugel einstellen, sondern verträgt auch Trockenheit, Hitze und Streusalz. An Reifen und im Fahrtwind vorbeifahrender Autos verbreiten sich ihre Samen seit Mitte der 1970er Jahre jedes Jahr ein paar Kilometer weiter. Botaniker nennen Pflanzen, denen das gelingt »Autobahnwanderer«. Denn die Seitenstreifen von Asphaltpisten sind zwar ein extremer Lebensraum, doch wer hier überlebt, dem öffnet sich großes, gut vernetztes Siedlungsgebiet.
Die Gemeine Rasenameise (Tetramorium caespitum) ist eine der häufigsten Ameisenarten Mitteleuropas. Vermutlich um 1700 wurden sie auf Auswandererschiffen in den Süden und Osten der USA eingeschleppt. Dort ist sie als Pavement Ant berühmt-berüchtigt, weil sie ihre Nesthügel mit Vorliebe unter Bürgersteigen anlegt und sich im Frühjahr spektakuläre Straßenkämpfe mit anderen Ameisenvölkern liefert. Außerdem spielt ihre Liebe zu Street Food eine wichtige Rolle bei der städtischen Abfallentsorgung: Stadtökologen errechneten, dass die New Yorker Ameisen zwischen Broadway und West Street jedes Jahr 60.000 Hot Dogs, 200.000 Kekse und 600.000 Karto elchips wegputzen. Die Wissenschaftler nehmen an, dass die Ameisen auf warmen, trockenen Straßen schneller laufen als in der Natur und deshalb hungriger werden.
Brücken und Tunnel sind Wunderwerke der Technik. Doch wehe, wenn sie Risse bekommen. In Zukunft könnte das Bakterium Sporosarcina pasteurii zum winzigen Schutzengel von Autofahrern werden. Normalerweise lebt es in stark alkalischen Seen in der Nähe von Vulkanen und kann dort bis zu 200 Jahre ohne Sauerstoff und Nährstoffe überstehen. Mischen Materialforscher es jedoch mit einer Nährlösung aus Stickstoff, Phosphor und Kalziumlaktat in Beton, verleiht das Bakterium dem Baustoff Selbstheilungskräfte. Sobald Risse entstehen, durch die Wasser eindringt, wird Sporosarcina pasteurii aktiv: Es frisst die Nährlösung und scheidet festen Kalkstein aus, der sogar lange Risse schnell und zuverlässig kittet. Und weil das Bakterium Sauerstoff verbraucht, stoppt es außerdem die Korrosion von Stahlbeton.
Fahlstirnschwalben (Petrochelidon pyrrhonota) nisten im Südwesten der USA besonders gerne unter Hochstraßen und Autobahnbrücken. Eng beieinander können dort mehr als 2.000 Nester an den Wänden kleben. Die Schwalben haben sich im Zeitralter an ihren modernen Lebensraum angepasst. Sie haben heute deutlich kürzere und rundere Flügel als noch vor dreißig Jahren. Das hilft ganz praktisch beim Überleben: Während lange, schmale Flügel vor allem für rasanten Streckenflug gemacht sind, können die Fahlstirnschwalben nun engere Kurven fliegen – und dem Verkehr besser ausweichen. Auch Senkrechtstarts von der Straße gelingen schneller. Während in den USA jährlich rund 80 Millionen Vögel im Straßenverkehr sterben, sind die Fahlstirnschwalben deutlich seltener in Unfälle verwickelt als früher.
Äußerst schmackhaft ist Agaricus bitorquis, ein Verwandter des Zuchtchampignons. Leider wächst er in wenig hygienischer Umgebung: An Straßenrändern und dort, wo Menschen ihre Hunde ausführen. Das brachte ihm die Spitznamen Stadtchampignon oder Trottoir-Champignon ein. Der Pilz ist mühelos in der Lage, dicke Pflastersteine anzuheben und Asphaltdecken zu durchstoßen. Dafür zieht er Wasser aus der Umgebung in seine Zellen, bis sie prall gefüllt sind. Der osmotische Druck kann bis zu 15 Bar erreichen. Zum Vergleich: ein Autoreifen wird mit etwa 3 Bar aufgepumpt, ein Flugzeugreifen mit 14 Bar. Später sprießt aus dem vulkanartig aufgeworfenen Kegel der 4 bis 10 Zentimeter breite Hut eines weißen Champignons – zur Verwunderung derer, die ihn zufällig entdecken.
Aaskrähen (Corvus corone) gehören zu den intelligentesten Vögeln – und sie lieben Nüsse. Die Schalen der Japanischen Walnuss sind allerdings zu hart, um sie mit dem Schnabel zu knacken. Deshalb werfen die Vögel sie aus der Luft auf Boden. Weil das nicht immer klappt, sind die Krähen in der japanischen Stadt Sendai 1975 auf die Idee gekommen, sie vor die Räder langsam fahrender Autos zu werfen. Das Aufpicken von der Straße war jedoch zu gefährlich. Und so lernten die Krähen, an Verkehrsampeln wartenden Autos die Nüsse exakt vor die Reifen zu legen, um sie nach der Grünphase in aller Ruhe einzusammeln. Andere Krähen schauten sich das Verhalten ab und inzwischen soll die Masche auch in anderen Städten und sogar auf anderen Kontinenten angekommen sein.
Stefanie Hardick, Jahrgang 1978, schreibt sie als freie Journalistin in Berlin über Wissenschaft und historische Themen.