Neue Seidenstraße

Handel, Kultur, Religion

Was die alte Seidenstraße ausmachte - und von der neuen unterscheidet.

In der Vorstellung von den Seidenstraßen steckt bis heute eine große Sehnsucht: Dass Handel und Kultur, Verkehrswege und Kommunikationswege, materielle und spirituelle Bereicherung Hand in Hand gehen können; dass sie einander nicht ausschließen, sondern geradezu einander bedingen. Darin liegt ferner die Hoffnung, dass der Wunsch nach kultureller Identität und nach moralischen und spirituellen Werten nicht auf eine Feindschaft gegen Austausch und Handel hinausläuft, wie es gegenwärtig im Westen manchmal der Fall scheint.

Tatsächlich sind Wissen und Kultur seit jeher mit dem Handel einhergegangen. „Suche das Wissen, und sei es in China“, lautet ein vielzitierter Spruch des Propheten Mohammed. Bereits daran sehen wir, dass sich der Austausch nicht auf materielle Güter beschränkt hat, sondern ein kultureller und intellektueller gewesen sein muss. Und dass der Islam, anders als man heute vielleicht denkt, das säkulare Weltwissen und die Weisheiten des fernen Ostens keineswegs verschmähte, sondern von Anfang an als wichtigen Teil der von ihm zu ordnenden Welt begriff.

Während das Christentum sich vor der Kolonialzeit auf Europa und die Anrainerstaaten des Mittelmeers beschränkte und nie tiefer nach Asien und Afrika ausgriff; und während der Buddhismus nur im östlichen Asien Fuß fasste, bildete der Islam seit dem achten Jahrhundert die kulturelle und religiöse Brücke, welche die Seidenstraße zu ihrer höchsten Blüte führte. Dabei vollzog sich die Verbreitung des Islams nach Osten nicht mit dem Schwert, sondern vor allem mit der Hilfe von Kaufleuten sowie mittels des Sufismus, das heißt der mystischen Orden, denen viele Kaufleute angehörten und zusammen mit den Karawansereien die nötigen Anlaufpunkte und Netzwerke bereitstellten.

Eroberungszüge prägten die Seidenstraße freilich dennoch. Die Eroberungen verliefen jedoch interessanterweise genau in die andere Richtung, nämlich von Osten nach Westen. Die islamische Welt wurde seit dem 10. Jahrhundert durch Turkvölker und Mongolen aus den Steppen des östlichen Asien erobert. Das Ergebnis dieser Eroberungen war zutiefst paradox, denn die Eroberer nahmen nach kurzer Zeit selbst den Islam an. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Einerseits war seine kulturelle Überlegenheit offensichtlich; andererseits verschaffte er den Eroberern bei ihren neuen muslimischen Untertanen Akzeptanz und Autorität.

Darin liegt bis heute ein utopisches Moment: Die Eroberer siegten zwar militärisch, wurden aber ihrerseits kulturell besiegt, assimiliert, aufgesaugt, und dies so gründlich, dass die Turkvölker und die Mongolen schließlich selbst zum überragenden Träger, Vermittler und Verbreiter der Kultur wurden, die einstmals von ihnen besiegt worden war. So verdanken wir den mongolischen Moghulen unter anderem das Taj Mahal und den turkstämmigen Osmanen die großartigen Moscheen Istanbuls.

Der Islam war also die auf der Seidenstraße herrschende Kultur und Religion. Aber sein Markenzeichen war — im krassen Gegensatz zum heutigen muslimischen Fundamentalismus — die Vielfalt. Der Islam stellte eine Art Dach oder Überbau dar, unter dessen Schutz zahlreiche lokale Traditionen und Praktiken gedeihen konnten. Während Arabisch in diesem Rahmen die Sprache für Recht und Religion war, wurde Persisch die Sprache der Dichtung, der Diplomatie, und einer höfischen und kosmopolitisch ausgerichteten Kultur. Das Persische, nicht das Arabische, war die eigentliche lingua franca der Seidenstraße, welche bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Reisenden, die Händler, die Mystiker, Literaten und Gebildeten von Bosnien bis Indien, von Sarajevo bis Delhi verstanden, in der sie sangen, dichteten, philosophierten, diskutieren — und natürlich ihren Handel abwickelten.

Mohammed Schamseddin Hafis aus Schiras, der im vierzehnten Jahrhundert lebte und dem Goethe in seinem West-östlichen Divan ein Denkmal gesetzt hat, ist der berühmteste Dichter jener Epoche gewesen. Seine Verse galten über Jahrhunderte hinweg als Vorbild für alle Dichter und Mystiker auf der Seidenstraße. Es war eine Dichtung, die Spiritualität und Lebensfreude gleichzeitig ausdrückte und welche die künstlerische Klammer bildete, die die Handelswege von Asien nach Europa emotional und geistig zusammenhielt.

Mochte der Anfang der Seidenstraße in China sein, mochte ihr Ende in den Handelskontoren Venedigs oder Danzigs, später Hamburgs oder Londons liegen, auf der Straße selbst herrschte die meiste Zeit der Islam. Der rechtlich-religiöse Referenzrahmen der Scharia diente dabei gleichsam als WTO der Vormoderne. Auf ihn war auch ohne den heute üblichen staatlichen Überbau verlass, und zwar deshalb, weil man an die Regeln des Handels, die in der Scharia niedergelegt sind, glaubte wie an religiöses Gebote. Dies machte den Islam in vorkolonialer Zeit zur idealen Religion für Kaufleute, die daher auch wesentlich zu seiner Verbreitung beitrugen. Schließlich war auch der Prophet des Islams, der von 570 bis 632 auf der arabischen Halbinsel lebende Mohammed, der Überlieferung gemäß von Beruf Kaufmann gewesen, bevor ihn seine Offenbarungen zu Höherem bestimmten.

Das alles endete mit dem Kolonialismus. Die Seidenstraßen wurden von den Europäern im wahrsten Sinne des Wortes umschifft, und der islamisch geprägte kulturelle Zusammenhang von europäischen Ideen, Methoden und Gesetzen unterwandert. Wer sich dagegen wehren wollte, berief sich logischerweise auf den Islam, der in der Folge jene Militanz ausbildete, die ihn heute in den Augen vieler mit einer friedlichen Weltordnung unvereinbar macht. Der Blick auf die Geschichte der Seidenstraßen lehrt jedoch, dass diese Sichtweise unfair ist. In der Kultur, der Musik und der Literatur der Seidenstraßen ist die verbindende, versöhnende und spirituelle Kraft des Islams auch heute noch sinnlich zu erfahren.


Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler.

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