Über virtuelles Reisen

In 80 Minuten um die Welt – vom Sofa aus

Ich flaniere am Hafen von Buenos Aires, Argentinien. Am Straßenrand sitzen auf einer kleinen Mauer sechs Teenager nebeneinander und lassen die Beine baumeln, einer winkt, im Hintergrund sind Hafenkräne, ein paar Meter weiter kommen mir zwei sich angeregt unterhaltende Frauen entgegen. Wohin gehen sie? Ich werde es nie erfahren, der Moment ist eingefroren und ich bin darin gefangen. Aber innerhalb in diesem einen Moment kann ich mich frei bewegen: Ich biege in eine von Palmen gesäumte Straße ein, hier schotten sich Reiche ab in Villen mit hohen Mauern und Zäunen. In regelmäßigen Abständen stehen hier kleine Häuschen mit Sicherheitsleuten auf dem Fußweg davor, im Vergleich zu der lebendigen Hafenszene eine andere Welt – eine von vielen Welten, die ich an diesem Nachmittag erkunde. Schritt für Schritt, von der Couch aus am Computer, mit Google Street View.

(Bild: Unsplash / USGS)

Die Vermessung der Welt, einst war sie Forschern und Entdeckern vorbehalten, später den Ämtern. Heute übernimmt dies auch der Kartendienst Google Street View. Der Dienst wurde 2007 erstmals vorgestellt, mittlerweile lassen sich nach eigenen Angaben fast 20 Millionen Kilometer damit begehen, darunter Sehenswürdigkeiten wie der Grand Canyon in den USA, die Pyramiden von Gizeh in Ägypten oder eine Wanderroute zum Mount Everest in Nepal. Und natürlich: Millionen Kilometer normaler Wohnstraßen, Boulevards in bekannten Städten, kleine Gassen in entlegenen Dörfern.

Von Buenos Aires kommend begebe ich mich mehrere Tausend Kilometer nach Norden: Cambridge Bay, ein Ort in Kanada, an dem ich selbst schon einmal war. Damals fühlte es sich wie das Ende der Welt an. 1.500 Einwohner, die von Fischen und Minenarbeit leben, ruhiges Meer, beißende Kälte. Ich finde neben einer Neubausiedlung das kleine Geschäft, wo ich einst eingekauft habe, und glaube sogar das Fischerboot zu erkennen, mit dem ich aufs Meer gefahren bin. Der Gemischtwarenhandel, wo ich über die Angelhaken gestaunt habe. Mit Google Street View zu Orten zu reisen, an denen man bereits war, ist ein wenig, wie in alten Fotoalben zu blättern: Es weckt Erinnerungen. Ich beschließe, dem Fischer zu schreiben, den ich dort vor Jahren besucht habe.

Doch die Vermessung der Welt geschieht nicht nur per Auto, auch unzugänglichere Gebiete werden fotografiert. In den Grand Canyon etwa musste ein Google-Mitarbeiter zu Fuß den Abstieg wagen, mit einem Kamera-Rucksack auf dem Rücken. Und auf den Faröer Inseln hat man den grasenden Schafen Kameras auf den Rücken geschnallt. Es ist sogar möglich, einzelne Gebiete auf dem Mars zu erkunden, weil auch die Mars Exploration Rover Spirit und Opportunity Aufnahmen gemacht haben.

Ehe ich den Heimatplaneten verlassen, suche ich aber noch das Haus meiner Großeltern. Und ich muss lachen: Direkt vor unserem Haus, auf dem Fußweg, läuft mit einer Einkaufstüte mein Opa entlang – zumindest glaube ich, dass er es ist. Im Fenster des Hauses kann ich das schreckliche künstliche Blumengesteck erkennen, das sie vor ein paar Jahren dort stehen hatten, ich hatte es schon vergessen. Und das Haus ist auf dem Bild noch nicht neu gestrichen. Ich denke an die Straßenszene in Buenos Aires, an die Neubausiedlung von Cambridge Bay. Womöglich sieht es überall schon längst ganz anders aus. Denn Street View ist bei aller Faszination nur eine Momentaufnahme und diese Momente liegen teilweise schon länger zurück – knapp 20 Millionen Kilometer Straße lassen sich eben nicht alle paar Tage neu aufnehmen.

Aber während ich das Haus meiner Großeltern sehe, stört mich noch etwas anderes. Einerseits ist es faszinierend und schön, dass Oma, Opa und ihr Haus Teil sind dieser begehbaren Welt im Internet, und damit Teil des großen Ganzen, das sich mit Street View erforschen lässt. Andererseits ist es erschreckend: Meine Großeltern haben keine Ahnung davon, dass jeder Mensch auf der Welt über Street View ihr Haus betrachten kann. Zwar kann man Aufnahmen von Wohngebäuden bei dem Online-Dienst verpixeln lassen. In Österreich und in Deutschland etwa sind im internationalen Vergleich die Häuser besonders oft unkenntlich gemacht, den Menschen dort ist Privatsphäre offenbar wichtig. Doch dazu muss man aktiv werden und sich bei dem Dienst melden. Wer nichts unternimmt, dessen Haus steht unverpixelt im Internet. Datenschutz muss extra eingefordert werden. Machen es die anderen besser? Als Alternative zu Google Street View wurde im vergangenen Jahr „Apple Look Around“ veröffentlicht, das zwar vom Mega-Konzern Apple stammt, aber bislang nicht viel mehr als eine Handvoll Städte in den USA bietet. Etwas weiter scheint „EveryScape“ zu sein, in dem vor allem Nutzer ihre Fotos teilen können. Das ist erst einmal ein kluger Ansatz, aber in den Straßen wirklich entlang spazieren lässt es sich damit nur selten.

Also zurück zu Street View. Der riesige Bild-Straßen-Atlas nutzt trotz aller Kontroversen nicht nur dem Einzelnen, der sich vorab anschauen möchte, wo er hinmuss. Er hat auch eine neue Form des virtuellen Tourismus geschaffen: Mittlerweile werden Video-Touren mit Google Street View angeboten, man wird etwa zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten in Italien gelenkt und kann dazu Erklärungen anhören. Künstler gestalten Kunstprojekte mit dem Kartendienst, Restaurants und Geschäfte erweitern ihr Marketing, indem sie virtuelle Rundgänge ermöglichen. Auch in der akademischen Forschung wird auf den Dienst zurückgegriffen, etwa bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz: Computer lernen anhand von Street View-Bildern, Menschen und Häuser zu erkennen.

Ich will es nochmal wissen, vom Asphalt abheben, nach ganz oben, zur Internationalen Raumstation ISS. Schon vor Jahren hat hier ein Astronaut mit entsprechenden Kameras alles abgelichtet. Und ein Stück weit ist es genau so, wie ich es mir vorgestellt habe: Überall Kabel, elektrische Geräte, eher eine riesige Baustelle als eine Raumstation. Trotzdem bin ich innerlich bewegt: Das hier ist keine Simulation, das sind echte Bilder der ISS und man kann sich überall umsehen. Ich gehe in die Kuppel und schaue mir die Erde von oben an, diese blaue Murmel, auf der ich und 7,5 Milliarden weitere Menschen leben. Eine Momentaufnahme, ja. Aber wunderschön.

Christian Heinrich ist freier Journalist und arbeitet unter anderem für Die Zeit, Geo und Süddeutsche Zeitung.

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