Umsiedlung von Tieren und Pflanzen
Wir sind die Neuen
Seitdem der Mensch sich frei über den Globus bewegt, siedelt er auch Tiere und Pflanzen um. Das Ausmaß lässt sich bislang nur erahnen – genauso wie die Folgen.
Wir verteilen die Welt um. Wo welche Tier- oder Pflanzenarten leben, hängt zunehmend von uns Menschen ab. Denn wir steuern Schiffe quer durch die Weltmeere, fliegen mit Flugzeugen zwischen den Kontinenten hin und her, wir bauen Kanäle und Brücken, wir halten Haustiere und vergessen nachts die Käfigtür zu schließen, wir importieren exotische Blumen für unsere Gärten und bringen Souvenirs aus dem Urlaub mit, auf denen winzig kleine Krankheitserreger leben. In der Folge lebt heute die weltweit größte wilde Kamelherde in Australien und nicht in Nordafrika. In Spanien wachsen südamerikanische Opuntien, in Deutschland nisten sich nordamerikanische Waschbären auf den Dachböden ein, und in Portugal haben australische Eukalyptusbäume die einheimischen Baumarten zahlenmäßig überholt.
Solche durch Menschenhand in fremden Gebieten verbreitete Pflanzen heißen Neophyten, das tierische Pendant sind die Neozoen, alle gemeinsam heißen sie Neobiota – zusammengesetzt aus den altgriechischen Wörtern néos (neu) und bios (Leben). Die beispiellose Intensität, mit der wir Menschen die Neobiota über den Globus verstreuen, verschiebt die bisherigen Grenzen der natürlich angestammten Lebensräume von Pflanzen und Tieren. In welchem Ausmaß, das ist allerdings weitgehend unbekannt. 2015 veröffentlichte der niederländische Biologe Mark van Kleunen in dem renommierten Wissenschaftsmagazin Nature erstmals eine Zahl für die weltweit verbreiteten Neophyten: 13.168. Das entspricht in etwa der Größe der gesamten einheimischen europäischen Pflanzenwelt. Eine vergleichbare Erfassung der gebietsfremden Tierarten auf der Welt gibt es nicht, auch weil sie nicht in jedem Land gleich gut dokumentiert werden. Experten bemühen sich derzeit um den Aufbau einer weltweiten Datenbank, aber auch Laien können bei der Erfassung von Neobiota mithelfen. So bittet etwa die Europäische Kommission EU-Bürger, über eine eigens zu diesem Zweck entwickelte App »Invasive Alien Species Europe« gebietsfremde Arten zu melden. In Deutschland zum Beispiel zählt das Bundesamt für Naturschutz 319 gebietsfremde Tier- und 566 Pflanzenarten, die sich in der Bundesrepublik etabliert haben. Dazu kommen weitere rund 450 Tier- und 1650 Pflanzenarten, die zwar schon vereinzelt nachgewiesen wurden, bei denen es aber noch unklar ist, ob sie sich auch fest ansiedeln werden. Wie genau sie in ihren neuen Lebensraum gekommen sind, variiert von Art zu Art stark, weiß Jonathan Jeschke. Er ist Ökologe und forscht an der Freien Universität Berlin und am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. »Man kann die Einfuhrwege in absichtliche und unabsichtliche unterteilen«, sagt er. »Wobei man bei den absichtlich transportierten Arten auch nochmals unterscheiden muss zwischen freigelassenen und entkommenen.« Zur Veranschaulichung: Der Asiatische Laubholzbockkäfer reiste mit Bau- und Verpackungsholz als blinder Passagier nach Deutschland ein, er wurde also unabsichtlich eingeführt und entkam. Der Afrikanische Krallenfrosch hingegen wurde absichtlich zu Forschungszwecken in ein portugiesisches Labor gebracht. Als das Institut wegen starken Regens von dem benachbarten Fluss geflutet wurde, entkamen die Frösche und breiteten sich über Jahre unbemerkt im Großraum Lissabon aus. Und das Grauhörnchen wurde etwa in Italien und England absichtlich eingeführt und freigelassen, wo es sich anschließend explosionsartig vermehrte.
»Tendenziell werden Wirbeltiere und Pflanzen eher absichtlich verbreitet, Wirbellose und Krankheitserreger eher unabsichtlich«, beobachtet Jonathan Jeschke. Als Stunde null der Verbreitung der Neobiota gilt das Jahr 1492, als Christoph Kolumbus Amerika entdeckte. »Ab da nahm der Mensch immer massiver die Ausbreitungsbarrieren für Tiere und Pflanzen weg«, erklärt Jeschke. Im 19. Jahrhundert schleppten die europäischen Siedler massenhaft Arten in ihre neuen Wohnorte ein, seit dem 20. Jahrhundert bewegt der immer weiter zunehmende Welthandel neben Waren auch Pflanzen und Tiere rund um den Globus – und zwar mit bis heute steigender Tendenz. Selbst in den Sohlen von Wanderschuhen oder den Klettverschlüssen von Jacken reisten blinde Passagiere schon aus Versehen bis in die Antarktis.
Das kann sehr unterschiedliche Folgen haben. Was der Asiatische Laubholzbockkäfer, der Afrikanische Krallenfrosch und das Grauhörnchen gemein haben: Sie alle gelten als invasiv, so nennt die Weltnaturschutzunion (IUCN) Arten, die in ihrer neuen Heimat Probleme verursachen. Der Käfer bohrt Höhlen in die Rinden von Laubbäumen, von denen aus sich die Larven weit durch den Stamm fressen – er kann so ganze Wälder töten. Der Frosch frisst kurzerhand alle ihm unterlegenen Amphibien auf und treibt damit einheimische Arten an den Rand der Ausrottung. Und auch das Grauhörnchen macht Probleme, denn es trägt ein Virus in sich, an dem es selbst nicht erkrankt, das in Mitteleuropaheimische rostrote Eichhörnchen kann daran aber sterben.
Invasive Arten sind nach IUCN-Einschätzung der wichtigste Grund für das Artensterben unter Amphibien, Reptilien und Säugetieren auf der von ihr geführten Roten Liste. Der ökonomische Schaden, den sie anrichten, wird auf Hunderte Milliarden Euro jährlich geschätzt. Um bewerten zu können, welche invasive Art bekämpft werden muss, baut Jonathan Jeschke gerade zusammen mit anderen Wissenschaftlern für die IUCN eine Datenbank auf, in der die Auswirkungen jeder Art von minimal bis massiv eingestuft werden.
Ab wann eine Auswirkung ein Schaden ist, ist aber gar nicht so leicht zu beurteilen. »Schaden ist nur eine Perspektive«, sagt etwa der amerikanische Pflanzenökologe und Autor des Buches Invasion Biology Mark Davis. Was viele Naturschützer als ökologischen Schaden bewerten würden, sei in Wahrheit bloß eine Vorliebe für einheimische Arten. Dass heimisch automatisch gut und fremd automatisch schlecht sei, hält er für falsch. Gestützt wird er von einer Studie, laut der gebietsfremde große Pflanzenfresser wie etwa Wildpferde durch Grasen Ökosysteme stützen und bereichern können. Die Ausbreitung an einem neuen Ort schützt sie zudem oft vor dem eigenen Verschwinden – wie die eingangs erwähnten Kamele in Australien, die in ihrer ursprünglichen Heimat immer weiter verdrängt werden. Wenn Neuankömmlinge keinen erheblichen Schaden anrichten, dann wirbt Mark Davis für die beinahe romantische, von ihm »LTL« genannte Methode. LTL ist die Abkürzung für »Learn to Love ’em« – »Lerne, sie zu lieben«. Und das fällt bei einigen Arten sicher leichter als bei anderen.
Svenja Beller arbeitet als freie Journalistin für diverse Magazine und Zeitungen. Sie lebt und arbeitet in Hamburg und Lissabon.