Gerd Kempermann im Gespräch

Den Reservetank füllen

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#14 Neu
2020

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Frank Haas

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Shiwen Sven Wang

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Wissenschaft

Frank Haas im Gespräch mit dem Neurowissenschaftler Gerd Kempermann über Altwerden und Neubleiben.

Für einen moderat gebildeten Laien ist das Hirn eine sehr komplexe Angelegenheit. Wie ist das für Sie als Fachmann: Ist das Gehirn durch Ihre Studien noch komplizierter geworden, oder hat es sich eher entzaubert, seit Sie so viel darüber wissen?
Beides. Je mehr man weiß, desto mehr Fragen tun sich natürlichauf. Und man lernt in der Wissenschaft schnell, dass es auf einiges eben keine Antworten gibt – auf anderes aber durchaus. Es gibt Etappensiege, bei denen man das Erlebnis hat, Dinge aufzudecken, die zuvor unverstanden waren. Insgesamt aber ist das Gehirn tatsächlich unfassbar komplex, und wir kratzen immer noch nur an der Oberfläche der Erkenntnis herum. Das aber ist unheimlich faszinierend.

Ihr Forschungsgebiet ist das Altern des Gehirns, und Sie fokussieren sich dabei auf ein Areal, das man Hippocampus nennt. Und dieser Hippocampus ist flexibel?
Nicht einfach nur flexibel, eher plastisch und formbar. Anders als ein Computer ist ein Gehirn andauernd im Umbau. Und wenn dieser Umbau nicht mehr funktioniert, dann funktioniert das ganze Gehirn nicht mehr. Das Interessante ist, dass es eine Gehirnregion gibt, die man auch das »Tor zum Gedächtnis« nennt – und das ist dieser besagte Hippocampus, und der ist ganz besonders formbar. Alle Informationen, die uns erreichen und die abgespeichert werden, müssen hier verarbeitet werden, damit wir sie überhaupt speichern können. Und ausgerechnet diese zentrale Hirnregion zeichnet sich gegenüber anderen Hirnregionen dadurch aus, dass sie lebenslang neue Nervenzellen produziert. Man nennt das Neurogenese. Das tut das übrige Gehirn nicht, und deswegen sind degenerative Erkrankungen so problematisch: Da ist nichts, was nachwächst. Man kann eine Blutspende machen, dann wächst das Blut ziemlich schnell nach. Oder man geht einmal im Monat zum Friseur, weil die Haare nachwachsen. Die Stammzellen der Haut produzieren laufend nach. Auch der Darm ist ein Organ, das sich dauernd erneuert. Aber das Gehirn tut das nicht – bis auf diese eine Ausnahme. Die Erneuerung ist dort aber nicht ein Ersatz von etwas, das verloren gegangen ist, sondern sie ist ein Prozess, der das Nervenzellennetzwerk in dieser Region lebenslang anpasst.

Wie kann ich mir das genau vorstellen? Welche Funktionen kann ich konkret erhalten oder ausbauen?
Der Hippocampus ist die Hirnregion, wo Information gefiltert wird, wo sie aufgearbeitet, komprimiert und in eine zeitliche Ordnung gebracht wird, damit wir in der Lage sind, uns flexibel auf unsere Umgebung und das, was wir erleben, anzupassen. Das ist am menschlichen Gehirn wirklich besonders: dass wir uns gut auf neue Situationen einstellen können. Wir können die ganze Erde besiedeln, von Gegenden mit Minusgraden an den Polen bis zu sehr heißen Regionen, weil wir über eine hohe kognitive Flexibilität verfügen. Und mit dem Radius steigt auch die kognitive Herausforderung, das heißt, je größer unser Bewegungsradius, desto mehr müssen wir uns merken, was gerade passiert ist oder welche Informationen wir bekommen. Und wir müssen diese Informationen zeitlich zuordnen können, das nennt man das episodische Gedächtnis. Auch dafür ist der Hippocampus zuständig. Damit wir zum Beispiel einen Weg irgendwohin zurückfinden, müssen wir die ganzen Wegmarken in unserem Kopf rückwärts abspielen können. Das heißt, wir müssen wissen, welche Ordnung die Dinge hatten. Erinnerungen in zeitlicher Ordnung halten zu können, ist für Menschen extrem wichtig, weil darauf unser autobiografisches Gedächtnis beruht, welches entscheidend dafür ist, dass wir uns überhaupt als Person wahrnehmen können. Zu einem sehr großen Teil sind wir unsere Geschichte, und wir müssen uns erinnern können, um ganz wir selber zu sein. Es ist schrecklich, wenn Patienten bei einer Demenz die eigene Biografie verlieren. Sie verlieren nicht ihre Würde oder ihren Stellenwert als Menschen, aber sie verlieren sich als Person.

Wir haben nun herausgefunden, dass es neu entstehende Nervenzellen sind, die diese flexiblen Anpassungen möglich machen können, dass wir auseinanderhalten können, was alt ist und was neu, obwohl das vielleicht sehr nah beieinanderliegt. Wenn Sie Ihr Auto jeden Tag auf einem großen Parkplatz abstellen, aber nicht immer in derselben Lücke, dann müssen Sie sich stets neu merken, wo Sie Ihr Auto stehen haben. Dafür müssen Sie sich aber nicht jedes Mal den ganzen Parkplatz neu merken, sondern nur ein Update auf Ihrer internen Karte machen. Wo Sie an den Tagen zuvor geparkt haben, ist dann als Information wertlos geworden, wird aber trotzdem weiter gespeichert. Die aktuelle von der überholten Information unterscheiden zu können und sich flexibel daran anzupassen, ist eine Funktion des Hippocampus und ganz besonders dieser neuen Zellen.

​​​​​​​Als Neurowissenschaftler beschäftigt sich Gerd Kempermann damit, wie wir die Leistungsfähigkeit des Gehirns erhalten können. Er ist Professor an der TU Dresden und leitet den Dresdner Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).

Wenn der Hippocampus nicht mehr so richtig funktioniert, dann finde ich mein Auto also nicht wieder?
Ja, genau. Die Alzheimer-Demenz, eine typische Demenz des Alters, fängt sehr häufig im Hippocampus an und äußert sich in Gedächtnisproblemen. Viele andere Funktionen können dann noch ganz normal da sein. Andere Demenz-Formen fangen dagegen eher mit Problemen der sozialen Interaktion an, während das Gedächtnis noch wie gewohnt funktioniert. Die Symptome hängen von den betroffenen Gehirnregionen ab.

Aber verliert der Hippocampus nicht so oder so im Laufe eines Lebens an Leistungsfähigkeit?Grundsätzlich gilt: Use it or lose it, benutz es, sonst geht’s verloren. Und jeder, der mal die fünfundvierzig, fünfzig überschritten hat, wird merken, dass das Gedächtnis ein bisschen anders geworden ist. Meistens ist das gar nicht schlimm, es funktioniert eben nur nicht mehr ganz so gut. Trotzdem kommt man damit in aller Regel noch extrem weit, und der Abbau hat keine ernsthaften Konsequenzen. Er ist spürbar, mit steigendem Alter umso mehr, aber man entwickelt dann eben so seine Strategien, mit diesen Verlusten umgehen zu können. Nun zerstört eine Alzheimer-Demenz aber viel mehr als das, was wir für gewöhnlich an Verlusten hinnehmen müssen. Die Fallhöhe unterscheidet sich allerdings von Person zu Person – und damit auch die Fähigkeit, mit der Sache fertigzuwerden. Wer ein sehr aktives Leben führt, dessen Reservetank ist besser gefüllt, sodass mehr ausfallen kann, bis der Verlust deutlich spürbar wird. Jemand mit weniger Reserve hat sehr viel schneller größere Probleme. Und dieses Phänomen versuchen wir zu verstehen, also wie man altersabhängige kognitive Verluste aufhält. Dass es möglich ist, ist bekannt. Aber wir wissen noch nicht genau, wer von einem Training wie profitiert, und vor allen Dingen, in welchem Maße – wobei Training eigentlich das falsche Wort ist. Es geht mehr um ein Aktivhalten und darum wie das vor Alzheimer-Demenz schützt, die eben vorrangig den Hippocampus betrifft.

Wie kann man sich so ein Aktivhalten konkret vorstellen, was kann man unternehmen?
Wir wissen aus den großen Studien, dass körperliche Aktivität, Bildung sowie eine ausgewogene Ernährung die Joker sind. Natürlich gibt es auch sehr gebildete Menschen, die Demenz bekommen. Aber grundsätzlich bietet Bildung einen guten relativen Schutz. Man kann die Krankheit damit vielleicht nicht verhindern, aber wenn man den Ausbruch zumindest herausschiebt, dann ist schon viel gewonnen, und man hat möglicherweise noch einige gute Jahre mehr. Wenn ich 95 werde und erst mit 93 dement werde und nicht schon mit 88, dann ist das doch ein Gewinn! Ich behandele also mit dem Aktivhalten nicht die Demenz, aber ich verbessere meine Voraussetzungen dafür, mit dem Zustand der Erkrankung umzugehen. Eine gewisse Sportlichkeit des Geistes ist demnach günstig im Hinblick auf das Altwerden.

Welche Rolle spielt die körperliche Aktivität?
Körperliche Aktivität ist der Superfaktor schlechthin, die alte Weisheit mit dem gesunden Geist in einem gesunden Körper ist nach wie vor gültig. Und dafür muss man gar nicht exzessiv Sport betreiben. Es geht wirklich nur um Bewegung, um eine gewisse Grundaktivität. Das lässt sich damit erklären, dass das Gehirn ursprünglich die Aufgabe hatte, Bewegung zu ermöglichen. Körperliche Aktivität war von geistiger Aktivität gar nicht trennbar. Auch Sprechen ist Bewegung, selbst beim reinen Denken sind motorische Areale aktiviert. Deshalb ist Bewegung wahrscheinlich der adäquate Input für das Gehirn. Dagegen ist die Entkopplung der geistigen Leistung von der körperlichen zwar durchaus menschlich, aber eigentlich völlig unnatürlich – dass wir also unseren Bewegungsradius nicht mehr erweitern, sondern ein Buch aufschlagen oder uns vor einen Bildschirm setzen und so die Welt zu uns kommen lassen. Das heißt natürlich nicht, dass etwas dagegenspricht, im Sessel zu sitzen und zu lesen. Aber es gibt da einen Zusammenhang, den man nicht ignorieren sollte: Wer den ganzen Tag nur sitzend zubringt, der ist nicht nur körperlich eine Couch-Potato, sondern auch geistig.

Wäre es denn auch möglich, nicht nur langsamer zu altern, sondern das Gehirn durch gezielte Anregungen sogar zu verjüngen?
Das wissen wir nicht. Es gibt in der Psychologie das Konzept der »kognitiven Reserve«, das besagt, dass man sozusagen ein Optimum hat, das man zwar eine ganze Zeit lang halten kann, über das man aber nicht hinauskommt. Damit man das überhaupt erreicht, ist frühkindliche Bildung wichtig, mit anderen Worten: Die Demenz-Prophylaxe beginnt bereits im Kindergarten. Das Optimum erreicht man dann angeblich so ungefähr mit Mitte zwanzig. Nach pessimistischen Darstellungen geht es danach nur noch bergab, ohne dass man das überhaupt spürt. Je besser aber der kognitive Reservetank gefüllt ist, desto fl acher ist der Abfall und desto weiter kommt man. Dass man grundsätzlich aus dem eigenen Gehirn dabei mehr rausholen könnte, als man je zuvor hatte, glaube ich allerdings nicht. Ich sehe die Herausforderung eher darin, dass ich das erhalte, was ich habe, indem ich es optimal nutze. Punktuell kann ich natürlich immer noch Dinge lernen, die ich vorher nicht konnte, das ist klar. Dass wir aber in fortgeschrittenem Alter etwas ganz Neues dazuschaffen, wofür die Grundvoraussetzungen im Gehirn nicht schon angelegt waren, ist wohl nicht so. Nun widerspricht aber die Sache mit den neuen Nervenzellen dieser These ein bisschen, weil da ja durchaus etwas strukturell Neues dazukommt. Und tatsächlich muss der Hippocampus als Filterstruktur lebenslang immer komplexer werden, weil wir eben immer mehr sehen und mit immer mehr Erinnerungen und Erfahrungen klarkommen müssen. Dazu tragen diese neuen Zellen entscheidend bei. Aber auch hier gilt die Formel »Use it or lose it«, denn wenn ich nie etwas Komplexes erlebt habe, dann baut sich dieser Muskel ab, und ich bin irgendwann nicht mehr in der Lage, mit Komplexität fertigzuwerden, wenn sie kommt.

Jetzt leben wir aber im Zeitalter der Digitalisierung und der Virtualität, und da werden etwa die Hände ja nicht mehr so komplex eingesetzt wie früher, lediglich der sogenannte Smartphone-Daumen scheint vor allem bei vielen Jugendlichen eine größere Rolle zu spielen. Wie sehen Sie auf dieses Phänomen?
Aus zahlreichen Studien zu virtueller Realität und Bildschirmnutzung ist bekannt, dass ein Bildschirm die Realität recht gut ersetzen kann, und natürlich kann ich in der Simulation Dinge lernen, die ich in der Realität nicht lernen könnte. Auch das ist wieder ein Ausdruck unserer unglaublichen kognitiven Flexibilität. Problematisch ist eher das dauernde Verfügbarsein, das Multitasking ohne Ende und die Panik, etwas zu verpassen, wenn man nicht ständig auf mehreren Kanälen gleichzeitig erreichbar ist. Da kommt unser System doch an seine Grenzen.

Dann zurück zur realen Welt: Wie sieht es mit dem Spielen eines Musikinstruments aus? Ist das nicht eine sehr gute Übung?
Ja, völlig richtig. Musik ist etwas ganz Besonderes, das wirklich nur Menschen in dieser Form so hervorgebracht haben, eine ganz spezielle Leistung unseres Gehirns. Sie hat soziale, kommunikative, motorische und sensorische Komponenten, aber auch spirituelle oder mentale Dimensionen. Gemeinsam etwas zu singen oder Musik zu hören, kann sehr archaisch sein. Auch tanzen ist gut. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Aktivität, die uns jung hält, sehr gut über Musik erreicht werden kann. Jetzt haben wir über verschiedene Erfolgsfaktoren gesprochen, über Denken, Musizieren, Tanzen, Bewegen.

Wie sieht es mit der Ernährung aus, gibt es so etwas wie Brain-Superfood?
Ich sage es mal stark vereinfacht: Wenn mein Körpergewicht sich in einem normalen, vernünftigen Rahmen bewegt, dann habe ich eine gute Chance, dass mein Metabolismus in Ordnung ist. Und wenn mein Metabolismus in Ordnung ist, dann geht es auch tendenziell meinem Gehirn besser. Außerdem wissen wir, dass Antioxidantien irgendwie gut sind und Omega-3-Fettsäuren und so weiter. Aber alle Studien, die das ganz festklopfen wollen, kommen damit nicht so richtig weit. Vermutlich liegt das daran, dass wir diese ganzen Dinge, die häufig in qualitativ hochwertigen Lebensmitteln vorkommen, normalerweise nicht isoliert aufnehmen würden. Man isst ja nicht nur Fischölkapseln und ernährt sich sonst unmöglich. Vielmehr sind all diese kleinen Einzelmaßnahmen meist der Ausdruck eines Problembewusstseins oder eines besonderen Geschmacks und einer insgesamt ausgewogenen, bewussten Ernährung. Wie bei der Wahl der geeigneten körperlichen Aktivität liegt die Herausforderung auch bei der Wahl der Lebensmittel darin, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was für mich persönlich das Richtige ist, wie ich mich als Individuum vernünftig ernähren kann. Das heißt dann nicht, dass man nicht auch mal über die Stränge schlagen kann. Aber man sollte doch zu einem Grundfluss kommen, der einigermaßen adäquat ist. Wenn ich selber koche, mit viel Grün, nicht so viel Zucker und wenig Fleisch, dann habe ich immer noch ein Riesenspektrum von Dingen, die grundsätzlich adäquat für meinen Körper sind. Und damit tue ich wahrscheinlich auch meinem Gehirn etwas Gutes.

Vor dem Hintergrund Ihrer eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Ihrer Erfahrungen: Womit möchten Sie nie aufhören beziehungsweise gern noch anfangen?
Womit ich nie aufhören möchte? Das ist eine tolle Frage! Ich möchte gerne Klavier spielen können, und daran arbeite ich schon jetzt. Und ich möchte gern in Bewegung bleiben, auch draußen im Freien. Es ist ein ganz richtiger Gedanke, dass man Dinge, die man einmal machen möchte, nicht erst nach der Pensionierung beginnt. Dass man in der Gegenwart dranbleibt und eine Kontinuität herstellt. Diese Idee, man könnte irgendein Denksportprogramm machen, damit man mit achtzig Jahren noch einmal Italienisch lernen kann, die finde ich seltsam, und das ist aus meiner Sicht kein vernünftiger Ansatz. Ich muss heute mein Leben so gestalten, dass ich im Alter noch Italienisch lernen kann, wenn ich das möchte. Und das bedeutet: Am besten jetzt schon damit anfangen.


Frank Haas ist Leiter Markenstrategie und Kommunikation bei Gebrüder Weiss – und als Chefredakteur verantwortlich für den ATLAS.

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