Michael Stephenson im Gespräch

»Die Nachfrage nach EU-Gütern ist unersättlich«

Davies Turner ist seit 40 Jahren die Partnerspedition von Gebrüder Weiss in Großbritannien. Im Interview spricht Geschäftsführer Michael Stephenson über seine persönlichen Brexit-Erwartungen.

Wir stehen zurzeit vor dem sogenannten No-Deal-Brexit. Wie haben Sie, als Logistikunternehmen, sich auf diese Situation vorbereitet?
Das hat uns viel Zeit und Geld gekostet. Es ist schwierig, Pläne zu machen, wenn man nicht weiß, wofür. In letzter Minute scheint sowohl bei der EU als auch bei der britischen Regierung der ehrliche Wunsch zu bestehen, ein Handelsabkommen zu vereinbaren, also hoffen wir das Beste.Unabhängig vom Ergebnis werden wir gut vorbereitet sein. Wir haben zusätzliches Zollpersonal eingestellt und geschult, und wir entwickeln unsere Import-und-Export-Systeme weiter. Die Herausforderung besteht darin, die konkurrenz fähigen Vorlaufzeiten, die für unsere gemeinsamen Kunden mittlerweile selbstverständlich sind, bestmöglich einzuhalten.

Haben Sie Angst um die Wettbewerbsfähigkeit britischer Produkte?
Ein No-Deal-Abkommen wird sich sicherlich auf die Wettbewerbsfähigkeit britischer Produkte und Dienstleistungen auswirken; dies könnte jedoch durch den sinkenden Wert des Britischen Pfunds ausgeglichen werden. Auch wenn sie nicht mehr in britischem Besitz sind, sind Autohersteller wie Jaguar Landrover (JLR) sowie große Fertigungsanlagen für Nissan und Toyota neben der Luft- und Raumfahrt und dem Finanzwesen äußerst wichtig für die britischen Exporte in die EU. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, werden diese Industrien stark von einem Freihandelsabkommen abhängen, und eine gewisse Flexibilität bei den Ursprungsregeln, die scheinbar einen schwierigen Punkt in den Verhandlungen darstellen, wird notwendig sein.

Was ist Ihre persönliche Meinung zur Behauptung, der Brexit werde die britische Wirtschaft ankurbeln?
Die Vor- und Nachteile werden sich möglicherweise letztendlich gegenseitig aufheben, aber die Gründe für einen Brexit sind wahrscheinlich sowohl ideologischer als auch kommerzieller Art. Kurzfristig wird erwartet, dass der Austritt aus der EU erhebliche negative Auswirkungen auf die britische Wirtschaft haben wird, aber natürlich wird sich dies deutlich verringern, wenn ein Handelsabkommen erreicht wird.

Wird der Brexit die lokale Wirtschaft stärken? Und wenn ja, wie wird sich dies auf die logistischen Rahmenbedingungen vor Ort auswirken?
Auf dem Logistikmarkt wird es Gewinner und Verlierer geben. Einige Unternehmen im Vereinigten Königreich verlegen ihre Lagerhaltung in Lagerhäuser auf dem Kontinent, um den freien Umlauf und den reibungslosen Handel mit EU-Kunden aufrechtzuerhalten. Umgekehrt errichten einige EU-Unternehmen Vertriebslagerhäuser hier, um den britischen Markt zu bedienen. Es könnte interessante regionale Auswirkungen für Davies Turner haben, da die Regierung ein strenges Verfahren zur Vermeidung von Staus um das Hafengebiet einführt, bei dem Lkw auf dem Weg nach Kontinentaleuropa das Ausfuhrzollverfahren abgeschlossen haben müssen, bevor sie in die Grafschaft Kent, in der Dover liegt, einfahren dürfen. Unser wichtigster Knotenpunkt für den Weg nach Europa liegt in Dartford, Kent. Dort werden wir die Exportdokumente online an das computergestützte System der Regierung übermitteln, um so die Genehmigung zu erhalten, dass die Lkw ohne weitere Ausfuhrformalitäten direkt zum Fährhafen oder zum Eurotunnel fahren können. Allerdings ist das Computersystem der Regierung noch nicht fertig, was uns Sorgen macht, da der Januar 2021 näher rückt!

Apropos Import – welche Produkte werden Ihrer Meinung nach auch dann noch von den britischen Verbrauchern bevorzugt, wenn die Preise aufgrund von Zollgebühren steigen?
Die Nachfrage nach EU-Gütern ist ziemlich unerschöpflich –Technologie, Konsumgüter wie Waschmaschinen und Autos und natürlich Wein und Käse. Der Alkoholkonsum ist während des COVID-19-Lockdowns erheblich angestiegen.

Abgesehen von den off ensichtlichen Herausforderungen, die der Brexit für Ihr Unternehmen mit sich bringen wird, sehen Sie auch Vorteile?
Selbst in der Freihandelszone, die wir uns erhoffen, wird Davies Turner sehr viel mehr Zollabfertigungen zu bewältigen haben. Wir verfügen über das Personal, die Systeme und die vom Zoll kontrollierten Räumlichkeiten, um die zusätzliche Arbeit schnell und rentabel abzuwickeln. Aber um unsere Vorbereitungen abzuschließen, brauchen wir eine verlässliche Vereinbarung zwischen Brüssel und Westminster, und das ohne weitere Verzögerung.

Unter Spediteuren herrscht große Sorge bezüglich der Wartezeiten bei der Grenzabfertigung. Was sind Ihre Erwartungen in dieser Hinsicht?
Anfängliche Verzögerungen sind unvermeidlich, aber wir werden auf jedes Szenario vorbereitet sein, zu dem ein Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien führen wird. Der britische Zoll wird ebenfalls stark aus gelastet sein, sodass es während der halbjährigen Einführungsphase bis zum 30. Juni 2021 flexible Lösungen geben könnte. Davies Turner macht See- und Luftfrachtgeschäfte in großem Umfang, auch in erfolgreicher Zusammenarbeit mit Gebrüder Weiss in Ostasien. Schon jetzt wickeln wir regelmäßig Transporte aus Ländern außerhalb der EU wie der Türkei und Marokko ab, wir haben also viel Erfahrung in der Verzollung. Wir bieten unseren Kunden und Partnern die Gewissheit, dass alle Prozesse, die wir selbst kontrollieren können, gut laufen. Woanders erwarten wir anfängliche Schwierigkeiten, aber das Speditionsgewerbe ist ebenso flexibel wie widerstandsfähig, deshalb bin ich sicher, dass wir uns alle schon bald an die neuen Arbeitsmethoden gewöhnen werden.

Wenn Sie heute gefragt werden, würde das britische Volk erneut für Leave stimmen?
Das britische Volk hat ja bereits quasi zum zweiten Mal über den Brexit abgestimmt, während der turbulenten Phase mit der Wahl um Weihnachten im vergangenen Jahr, die Boris Johnson mit einem »ofenfertigen Deal«, wie er es nannte, gewann. Diese Frage ist also wohl oder übel vorläufig geklärt. Dennoch bleibt das Land gespalten. Die jüngere Generation befürwortet den Verbleib in der EU größtenteils, und wer weiß, vielleicht wird es eines Tages eine Abstimmung geben, um wieder beizutreten, falls es sich herausstellt, dass es doch besser ist drin zu sein statt draußen.

Davies Turner wurde 1870 gegründet und betreibt heute über 20 Standorte in Großbritannien und Irland mit rund 100.000 Quadratmete Lagerfläche. Das Familienunternehmen wird von Philip Stephenson und Michael Stephenson (im Bild) geführt. (Bild: Privat)

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