Brexit
Was bleibt, was kommt?
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Jason Alden
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Der Brexit verändert Städte und ihre Bevölkerung im Süden Englands. Im Hafen von Dover wird Chaos an der Grenze befürchtet. Und die Einwohner zweier Dörfer in Kent werden bald neben einer Zollstation leben.
Wenn der Himmel über Dover hellblau strahlt, geht Stephen Potter gerne auf den Hügeln der Stadt spazieren. Der 61-jährige Brite wohnt hier an der Küste und arbeitet für die Grenzpolizei. Von hier oben kann er den Blick zu den berühmten weißen Kreidefelsen genießen, den white cliffs of Dover. Für viele Engländer stehen sie für Heimatliebe und Patriotismus, für das Besondere ihrer Insel. Von hier aus wurde England gegen Angriffe vom Festland verteidigt. Die Felsen grenzen die Insel von Europa ab. Doch hier wird einem auch ganz plastisch vor Augen geführt, wie eng Großbritannien mit dem Kontinent immer noch verbunden ist.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals liegt Frankreich nur 33 Kilometer entfernt. An heiteren Tagen ist Calais mit bloßem Auge zu sehen. Und unten im Hafen bleibt das Leben nie stehen: Eine riesige Fähre steht angedockt und ist bereit, Hunderte Wagen an Bord zu lassen. Weil die Check-in-Schleuse noch für ein paar Minuten geschlossen ist, stehen Laster wie bunte Teile in einem Baukasten schön aneinandergereiht vor der Rampe. Sie kommen aus zahlreichen europäischen Ländern – aus Polen, der Slowakei, Rumänien, der Tschechischen Republik oder Deutschland. Die Schleuse wird geöffnet, und sie fahren über Rampen auf die Fähre, um ihre Reise auf den Kontinent fortzusetzen. An einem typischen Tag kommen rund 8.000 Lastwagen aus allen EU-Staaten durch Dover.
Wenn Stephen Potter von den Klippen auf die Hunderte von Lastern schaut, die sich hier sammeln, fürchtet er, dass seine Stadt im Januar einen Verkehrskollaps erleben könnte, sollten sich Großbritannien und die Europäische Union nicht auf ein neues Handelsabkommen einigen. »Tausende Laster kommen jeden Tag hierher, verlassen die Fähre und fahren sofort weiter«, sagt er. »Doch bald werden sie irgendwo anhalten müssen.« Am 31. Januar 2020 hat Großbritannien die Europäische Union verlassen. Bis zum Ende des Jahres gilt noch eine Übergangsfrist: Die Briten halten sich an die EU-Regeln, der Handel über die Grenze erfolgt weiterhin reibungslos. Doch das wird sich bald ändern. Wenn Großbritannien nicht mehr Teil der Zollunion und des Binnenmarktes ist, muss an der Grenze kontrolliert werden, ob die Mehrwertsteuer und Zölle für die importierten Waren gezahlt wurden. Wie genau das geschehen soll, weiß im Moment noch niemand.
Potters größte Sorge ist, dass sich der Verkehr im bottleneck, an der Engstelle von Dover, stark verlangsamt. »Das wird nicht immer so bleiben, aber im ersten Jahr könnte es für die Menschen in Dover schlimm werden, denn wir nutzen dieselben Autobahnen A20 und A2, um aus der Stadt rauszukommen«, sagt er.
»Ein Deal ist besser als nichts.«
Der Lkw-Fahrer Steven Jones wird Anfang Januar auf jeden Fall mehr Essen einpacken, wenn er wieder auf den Kontinent fahren wird. Der 56-jährige Schotte fürchtet, dass es im schlimmsten Fall am Anfang bis zu zwei Tage dauern könnte, die Zollkontrollen zu passieren, falls Großbritannien ohne Abkommen aus der EU ausscheidet. »Stellen Sie sich vor, so lange im Wagen zu sitzen«, sagt er. Mit seinem Laster wartet er auf einem Parkplatz in der Nähe von Ashford, einer Stadt rund 20 Meilen von Dover, um eine Ladung aufzunehmen, die mit der Fähre über den Ärmelkanal kommt. Jones erinnert sich noch ganz gut an ein Europa mit Grenzen, in seiner Jugend habe er viel auf dem Kontinent gearbeitet und denkt jetzt fast nostalgisch an diese Zeit zurück. »Ich liebte es, all diese unterschiedlichen Währungen, die Fahrten von einer Grenze zur nächsten, das fand ich alles ganz spannend«, sagt Jones. Doch jetzt bereitet ihm die Ungewissheit über den Ausgang der Verhandlungen große Sorgen. Ein Streitpunkt sind die Fischereirechte, und hier ist der Schotte Jones gespalten. Einerseits sagt er: »Schottisches Gewässer gehört zu Schottland.« Andererseits will er nicht, dass daran das ganze Abkommen scheitert, was dazu führen würde, dass er womöglich mehrere Tage an der Grenze warten müsste. »Ein Deal ist am Ende besser als nichts«, sagt er.
Auch sein Kollege, der 25-jährige Bouda Petrica aus Rumänien, hofft auf ein Abkommen. Sonst fürchtet er, dass er im nächsten Jahr an der Grenze jedes Mal zwei Tage warten muss. Momentan ist er einen Monat lang unterwegs und verbringt danach neun Tage zu Hause. Er würde gerne bald in Rumänien eine Familie gründen, doch das wäre kaum möglich, wenn er etwa zwei Monate am Stück weg von zu Hause sein wird. »Das ist kein Leben für einen jungen Menschen«, sagt er.
Es trifft vor allem die Kleinen
Die Unsicherheit des Brexit trifft vor allem kleine Unternehmen. Paul Withers betreibt am Rande von Ashford eine Speditionsfirma. »Andere Firmen können mehr Geld investieren, um Anlagen und Lager zu bauen und sich auf verschiedene Ausgänge vorbereiten«, sagt er. »Aber wir sind ein kleines Unternehmen, und ich will kein Geld mehr ausgeben, bis ich weiß, was genau passieren wird.« Schon zwei Mal habe er sich auf einen ungeregelten Abschied aus der EU vorbereitet, dann aber wurde die Verhandlungs- oder die Übergangsfrist doch verlängert. »Für uns war das eine große Belastung, denn es gab sehr viel Arbeit auf einmal und dann einen Monat lang keine Aufträge, weil alle Lager voll waren«, erzählt Withers. Wenn er zu seiner Meinung über den Brexit gefragt wird, sagt er nur ein Wort: »Frustration.« Um das Chaos an der Grenze in Dover zu verhindern, will die britische Regierung mehrere Zollanlagen und Parkplätze entlang der Autobahnen A20 und A2 bauen. Das bedeutet aber auch, dass sich das Leben der Menschen in Ashford und den umliegenden Dörfern stark verändern wird.
Im Juli bemerkte Sharon Swandale, dass mehrere Pfade in der Nähe ihres Dörfchens Mersham von heute auf morgen gesperrt wurden. Neben Mersham liegen Felder, die bis vor Kurzem einer Versicherungsfirma gehörten. Im Dorf munkelte man, der Internetriese Amazon wolle hier ein Versandlager bauen. Doch der Brexit veränderte alles. Die britische Regierung kaufte das Gelände und beschloss, hier eine Zollanlage und einen Parkplatz zu bauen, mit einer Kapazität für 2.000 Laster. MOJO heißt das Projekt offiziell. In der Lokalpresse wird es aber immer wieder als »Farage Garage« bezeichnet, nach dem Rechtspopulisten Nigel Farage, der die Brexit-Kampagne anführte. »Wir haben nur durch Zufall erfahren, was hier geplant ist, als ein Dokument an die Öffentlichkeit geleakt wurde«, erzählt Swandale. Die Entscheidung wurde in London getroffen, der Gemeinderat war nicht involviert und nicht einmal rechtzeitig informiert. Diese Intransparenz und hektische Planung wühlten die Dorfbewohner auf, die sich mehr lokale Mitbestimmung wünschen. Swandale und ihre Gruppe The Village Alliance setzen sich jetzt dafür ein, dass zwischen dem Dorf und der Baustelle ein »green gap« gelassen wird, ein unbebautes Feld.
In Mersham reiht sich ein weitläufiger und perfekt gepflegter Garten an den anderen, zwischen Bäumen und grünen Hecken stehen alte geräumige Häuser. Die Familie von Sharon Swandale lebt hier schon seit 20 Jahren, ihr Mann arbeitet im IT-Bereich und erreicht von hier aus bequem seine Kunden in London. Das idyllische Landleben und die Nähe zur Autobahn, über die man schnell in der Hauptstadt ist, werden hier von vielen geschätzt. Es ist eine konservative Gegend. Seit über hundert Jahren wird der Wahlkreis von Ashford im britischen Parlament durch Tory-Abgeordnete vertreten, mit einer kurzen Unterbrechung in den 1920ern.
Vor den Häusern hängt der Junion Jack.
Die Nachbarn von Swandale haben nicht die EU-Fahne vor ihren Häusern hängen, wie sie in manchen liberalen Bezirken von London zu sehen ist, sondern die britische Fahne, den Union Jack. Sie hängt hier seit dem VE-Day im Mai, den Feierlichkeiten zur Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs. Viele Menschen unterstützen Premierminister Boris Johnson und den Brexit. Der Wahlkreis stimmte 2016 59 Prozent mehrheitlich für den Austritt aus der EU. Auch eine Zollanlage vor der Tür hat diese Einstellung nicht sonderlich verändert. Schließlich gab es in der Nähe von Mersham schon eine ähnliche Anlage, die 1993 geschlossen wurde, als der europäische Binnenmarkt entstanden ist.
Die Bauarbeiten für MOJO haben gerade angefangen. Auf den Feldern sind Baumaschinen und ein Team von Archäologen zu sehen. Denn die Gegend hat eine lange Geschichte. »Wir hatten hier schon Funde aus der Bronze-, Eisen- und Steinzeit«, sagt Paul Bartlett, ein Gemeinderat der Konservativen Partei, der selbst im Dorf Sevington, nur ein paar Hundert Meter entfernt, wohnt. Die Bauarbeiten mussten jetzt vorübergehend gestoppt werden, weil man eine alte Mauer im Feld fand, die möglicherweise aus der Zeit vor der normannischen Eroberung der Insel stammen könnte. Bartlett, der sich für die lokale Geschichte interessiert, unterbricht sogar kurz das Interview, um eine E-Mail mit den Einschätzungen eines Archäologen zu der Geschichte der Mauer zu lesen. Nach ein paar Sekunden wirkt er sichtbar enttäuscht. »Es ist das 18. oder 19. Jahrhundert«, liest er vor. Die Mauer hat also keinen besonderen Wert, denn sie ist jünger als einige Häuser in den umliegenden Dörfern, die noch aus der Tudor-Zeit stammen.
Bald soll das Gelände ganz anders aussehen. Ein Teil werde vom Ministerium für Umwelt, Ernährung und ländliche Angelegenheiten (DEFRA) genutzt, um die Qualität von Lebensmitteln zu kontrollieren, die nach Großbritannien eingeführt werden. Doch Bartlett sagt, dieser Teil werde wohl nicht vor Mitte 2021 in Betrieb genommen. Der zweite Teil des Geländes ist für Zollkontrollen bestimmt. Die britische Regierung will ein elektronisches System einführen, das auf Vertrauen basiert, erklärt Bartlett. Wenn die Zolldokumentation elektronisch eingereicht wird, muss man nur eine kleine Anzahl der Laster physisch kontrollieren.
»Idealfall versus Chaos«
Im Idealfall werden hier also nur 80 Laster täglich kontrolliert. Doch sollte in Dover nach einem ungeregelten Brexit das Chaos ausbrechen oder etwa das IT-System nicht richtig funktionieren, könnte es auch sein, dass alle 2.000 Parkplätze belegt werden. Die Menschen in Dover hoffen, dass die Parkplätze wie dieser in Ashford helfen werden, den Verkehrskollaps in ihrer Stadt zu verhindern. »Das wird einen Unterschied machen«, sagt der Grenzbeamte Stephen Potter. Er nennt den Brexit »eine fürchterliche Entscheidung«, er selbst stimmte dagegen. Nur dass er wahrscheinlich bei der Grenzpolizei mehr Arbeit haben wird, das sei jetzt eine gute Sache für ihn.
Am Ende weiß noch niemand genau, wie ein Abkommen zwischen Großbritannien und der EU aussehen wird und wie es implementiert wird. »Vielleicht wird im Januar auch nichts passieren. Vielleicht werden wir noch eine längere Übergangszeit haben«, sagt Sabine Piper, eine Einwohnerin von Dover. Am Ende ihres Arbeitstags im Reisebüro sitzt sie mit ihrer Schwester Pamela Danne am Strand. Die zwei Frauen haben eine deutsche Mutter und einen englischen Vater. Ein Teil der Familie lebt in Deutschland, doch die beiden haben nur britische Pässe. Danne hat sogar für den Brexit gestimmt. »Ich stehe immer noch zu dieser Entscheidung«, sagt sie. »Wir wollen die hiesige Wirtschaft wieder zum Laufen bringen.« Da schüttelt Piper nur den Kopf. Sie hat 2016 beschlossen, gar nicht abzustimmen. Doch auch sie muss wie die ganze Stadt mit den Konsequenzen leben.
Julia Smirnova ist 1983 in Russland geboren. Sie arbeitet als freie Journalistin in London und schreibt für deutsche Medien wie Der Spiegel, Welt oder ZEIT Online Analysen, Porträts und Reportagen.