Die europäische Gurkenverordnung
Warum ist die Banane krumm – aber die Gurke nicht?
Die Gurke ist ein Klassiker. Es ist nun bereits über 30 Jahre her, dass die EU die Verordnung mit der Nummer 1677/88/EWG erlassen hat. Darin wurde die ideale Beschaffenheit von Salatgurken als europäisches Recht festgelegt.
Gurken der Güteklasse Extra mussten "praktisch gerade" sein, die Klasse I erlaubte laut Verordnung eine Maximalkrümmung von zehn Millimetern auf zehn Zentimeter Länge, was als noch "ziemlich gut geformt" gilt. Für Handelsklasse II waren höchstens zwanzig Millimeter Krümmung erlaubt. Stärker gekrümmte Gurken schmecken zwar genau gleich, wurden durch die Verordnung aber zur Ausschussware.
Die sogenannte Gurkenverordnung war ursprünglich ein Anliegen von Handelsverbänden und Agrarministern der Mitgliedsstaaten – und durchaus gut gemeint: Mit der Verordnung sollte ein Standard geschaffen werden, der europaweit vergleichbare Produkte garantiert. Gemüsehändler sollten nicht jede Gurke einzeln in die Hand nehmen müssen, um sie zu begutachten, sondern sich auf eine bestimmte Qualität verlassen können. Außerdem lassen sich gerade Gurken einfacher verpacken und transportieren, weil die immer gleich großen und gleichmäßig geformten Gurken besser in standardisierte Kartons passen. Also profitieren auch Handel und Spediteur.
Gut gemeint ist aber bekanntlich nicht dasselbe wie gut gemacht. Die Gurkenverordnung wurde zum Symbol für die Bevormundung durch eine EU-Politik, die sich nicht mehr an natürlichen Gegebenheiten orientiert und etwa den Geschmack eines Lebensmittels zur Beschreibung heranzieht, sondern stur nach Standards richtet, die allein nach Äußerlichen Merkmalen festgelegt sind. Als Folge der Verordnung glich in fast allen größeren Supermärkten Europas eine Gurke der anderen. Denn Gurken, die von den vorgeschriebenen Standards abwichen, wurden weggeworfen und vernichtet, nur weil sie die falsche Form hatten – eine ungeheure Verschwendung.
2009 wurde die Verordnung deshalb wieder abgeschafft, obwohl mehr als die Hälfte der Mitgliedsstaaten sie gerne behalten hätte – der Deutsche Bauernverband warnte gar vor "Wühltischen" im Supermarkt voll mit chaotisch gewachsenem Gemüse. Befolgt wird sie in europäischen Gewächshäusern aber bis heute. Denn man hatte sich halt daran gewöhnt.
Was ist eine Norm?
Die Gurkenverordnung ist ein Beispiel für Standardisierung, die vielleicht ein wenig über das Ziel hinausschießt. Internationale Normen, also vergleichbare und gemeinsame Mindestanforderungen an Produkte, sind aber für den internationalen Freihandel von enormer Bedeutung und helfen den Unternehmen, ihre Produkte zu verbessern. Andere Normen beziehen sich zum Beispiel auf Arbeitsprozesse und legen unabhängig von Branche und Produkt einheitliche Standards für das Qualitätsmanagement in Unternehmen fest. Allerdings sind ISO-Normen keine Gesetze, sondern freiwillige Selbstverpflichtungen von Unternehmen, sich an eine bestimmte Richtlinie zu halten. Es kommt aber vor, dass nationale Gesetzgeber Normen für rechtsverbindlich erklären.
Wofür brauchen wir Normen?
Eine Woche hat sieben Tage und beginnt mit einem Montag. Kleine grafische Symbole auf Waschetiketten sind weltweit einheitlich und werden deshalb überall verstanden. Container aus Asien passen auf europäische Frachter oder Züge. Wir können unsere Autos auch im Nachbarland an einer Zapfsäule betanken. – Normen prägen und erleichtern den Alltag an vielen Stellen. Es gibt nationale Normen, Normen innerhalb der EU sowie weltweit gültige Normen. Die "International Organisation for Standardization" (ISO) hat bislang mehr als 21.000 Standards veröffentlicht, die meisten haben einen europäischen Hintergrund. Vor allem für den Handel über Ländergrenzen oder Kontinente hinweg haben ISO-Normen eine wichtige Bedeutung: Entlang der Lieferketten gibt es zahlreiche Schnittstellen, die untereinander kompatibel sein müssen, der Bedarf an Standards in der Logistikbranche ist dementsprechend hoch. In der EU ist zudem aber auch genau festgelegt, welche Kriterien eine Pizza Napoletana erfüllen muss: Sie darf in der Mitte höchstens 4 Millimeter dick sein und einen Durchmesser von maximal 35 Zentimeter haben.
Wie entsteht eine Norm?
Grundlage für eine ISO-Norm ist zunächst der Bedarf, den jemand anmelden muss. In der Regel kommen solche Impulse aus der Wirtschaft. Ein Normenantrag wird über die nationale Normungsorganisation eines Landes eingereicht und von dort an die ISO weitergeleitet. Ein internationales ExpertInnenteam entwickelt daraufhin eine Norm, über die alle ISO-Mitglieder befinden. Die nationalen Institute für Normierung verabschieden neue Normen mit und kommen in der Regel aus der Privatwirtschaft. Das sorgt an einigen Stellen immer wieder für Kritik.
Seit wann gibt es internationale Normen?
Die ISO mit Sitz in Genf ist der internationale Dachverband der nationalen Normierungsinstitute von 161 Ländern. Seit über 70 Jahren entwickelt die ISO Richtlinien für Güter und Dienstleistungen, um sie international anzugleichen. Vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs der Bedarf an einheitlichen Standards: Die beginnende Industrialisierung und Erfindungen wie die Telegrafie oder die Dampfschifffahrt von Europa nach Amerika machten den internationalen Austausch kostengünstiger und schneller, verlangten zugleich aber auch Vereinfachungen und Verbindlichkeiten, auf die man sich gemeinsam einigen musste.
Incoterms® 2020
Für internationale Handelsverträge gibt es noch spezielle Vereinbarungen über Regeln und Pflichten von Käufern und Verkäufern: die Incoterms®. Sie werden von der Internationalen Handelskammer ICC veröffentlicht und legen fest, wer welche Risiken, Verantwortungen und Kosten trägt. Den handelsüblichen Vertragsformeln sind jeweils zehn Verpflichtungen des Verkäufers und des Käufers zugeordnet, in denen u. a. die Beschaffung der Dokumente, der Abschluss von Beförderungs- und/oder Versicherungsverträgen sowie Ort und Art der Lieferung durch den Verkäufer festgelegt sind. Die ICC hat im September 2019 eine neue Version der Incoterms® veröffentlicht. Sie tritt ab dem 1. Jänner 2020 in Kraft. Alle wichtigen Informationen dazu finden Sie unter www.gw-world.com/de/incoterms.
Miriam Holzapfel ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Redakteurin für den Atlas.