Norbert Sachser im Gespräch

Von Menschen und Meerschweinchen

Jeder Mensch ist einzigartig. Es gibt große und kleine, dunkelhäutige und hellhäutige, es gibt Teamplayer und Einzelgänger, sanftmütige und aggressive. Und zwischen allen Extremen liegen ungezählte Nuancen des Menschlichen. Wie aber sieht das bei Tieren aus? Sind die innerhalb einer Art nicht alle gleich? Delfin ist Delfin, und Meise ist Meise? Keineswegs, sagt der Verhaltensforscher Norbert Sachser.

Professor Sachser, das Konzept der Normalität scheint auf Menschen schwer anwendbar zu sein, da kaum jemand tatsächlich einen statistischen Mittelwert repräsentiert. Wie sieht das im Tierreich aus?
In der Verhaltensforschung an Tieren ist Tierpersönlichkeit mittlerweile eins der wichtigsten Themen. Früher sagte man: Hier haben wir Stockenten und da haben wir Krickenten und dann gibt es noch die Mandarinenten. Und jetzt beschreiben wir mal, wie die sich verhalten. Dabei konnte dann etwas Typisches für die jeweilige Art identifiziert werden. Nach und nach sah man aber, dass innerhalb einer Art nicht alle gleich sind, dass wir gar nicht den Normaltypus der Art haben, sondern dass es einzelne Individuen gibt. Im Tierreich gibt es Persönlichkeiten, und zwar nicht nur bei Schimpansen, Delfinen oder Hunden. Auch bei Kohlmeisen und selbst bei Blattkäfern finden wir individuelle Charaktere. Der Fokus der Forschung hat sich dadurch stark verschoben: Der Mittelwert, also wie eine Populationen von Tieren sich verhält, ist gar nicht mehr so interessant. Was wir verstehen wollen ist das Rauschen drum herum, die Variation. Zu sagen, dass Normalität das ist, was die Mehrheit macht, ist kein biologischer Ansatz.

Das heißt, die Variation eines Verhaltens kann ebenfalls normal sein?
Ja, dafür gibt es schöne Beispiele, etwa den Birkenspanner. Das ist ein grauweißgesprenkelter Schmetterling, der auf Birkenstämmen sitzt, wo er aufgrund seines Aussehens gut getarnt ist. 1849 wurde dann in der Nähe von Manchester beobachtet, dass unter den Birkenspannern plötzlich eine abweichende Form auftrat, die völlig schwarz war. Diese Abweichung von der Norm war eine Sensation – allerdings nur für kurze Zeit. Denn knapp 50 Jahre später sah die ganze Population so aus und es gab kaum noch grauweißgesprenkelte Exemplare. Was war da passiert? Die industrielle Revolution in England. Weil es keinerlei Umweltschutzmaßnahmen gab, waren die Birkenstämme auf einmal rußgeschwärzt. Die schwarze Mutante hatte nun einen riesen Vorteil, weil sie viel besser getarnt war und von den Fressfeinden nicht mehr so gut gesehen wurde. Deshalb konnte sie sich erfolgreicher vermehren. Wenige Generationen später hatte sich das, was ursprünglich normal in dieser Birkenspanner-Population war, verändert: Es gab ganz überwiegend schwarze Morphen. Dank verschiedener Umweltschutzmaßnahmen sehen die Birken jetzt wieder so aus, wie sie aussehen sollten, und da kommen nun vor allem wieder die grauweißgesprenkelten Morphen vor. Es ist also gefährlich, etwas als normal oder als unnormal zu bezeichnen, nur weil das eine häufig ist und das andere selten vorkommt. Es kann sehr schnell gehen, dass innerhalb von wenigen Generationen das, was die Ausnahme war, plötzlich zur Norm wird – und umgekehrt.

Und das gleiche gilt ja auch für den Menschen?
Wir erleben gerade starke Umbrüche in unserer Gesellschaft. Als Einzelner merkt man das vielleicht gar nicht immer, aber man steckt mittendrin. Wir können heute kaum prognostizieren, was in 10, 15 oder 20 Jahren sein wird, wie genau unsere Welt dann aussieht. Und deshalb können wir auch nur schwer vorhersagen, wer in Zukunft die Lösungen für die Probleme unserer Gesellschaft bereitstellen wird. Das heißt, unsere Gesellschaft braucht eine möglichst große Diversität an Menschen. Und es wird sich zeigen, welche Individuen besonders gut geeignet sind, mit den Herausforderungen der Zukunft zurechtzukommen. Auf einen einzelnen gesellschaftlichen Typus zu setzen und diesen als normal zu definieren und zu fördern – das wäre katastrophal.

Norbert Sachser gilt als Wegbereiter der deuschen Verhaltensbiologie. Er ist Professor an der Universität Münster. 2018 erschien sein Buch Der Mensch im Tier. (Bild: Willi Weber)
Die Evolution folgt der Revolution: Nach der Industrialisierung war der Birkenspanner plötzlich überwiegend schwarz, heute ist er wieder gesprenkelt. (Bild: Shutterstock)
Meerschweinchen können Konflikte auch mit eindringlichen Blicken lösen. (Bild: Shutterstock)

Im Hinblick auf die Zukunft handeln - ist das eine Fähigkeit, die dem Menschen vorbehalten ist?
Was das angeht, sehen wir einen wesentlichen Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Die bewusste Projektion in die Zukunft schaffen selbst die am weitesten entwickelten Tiere bestenfalls für ein paar Tage. Es wird in diesem Zusammenhang oft darauf verwiesen, dass ein Eichhörnchen doch im Sommer schon die Nüsse für den Winter sammelt. Aber das sind rein instinktive Programme, die genetisch verankert sind. Kein Eichhörnchen sitzt im Sommer irgendwo und sagt: Oh, in einem halben Jahr wird es kalt, jetzt muss ich losgehen, Nahrung sammeln und verstecken. Dieses Programm läuft weitestgehend ohne kognitive Prozesse ab.

Aber zur Unterscheidung zwischen Normalität und Andersartigkeit sind Tiere in der Lage?
Wenn wir als Menschen Normalität definieren, dann ist das eine kognitive Leistung. Dafür müssen wir uns in andere hineinversetzen, wir müssen uns selbst und die Welt reflektieren können. Wer im Tierreich ist zu diesen kognitiven Leistungen fähig? So wie der Mensch das kann, kann es kein einziges Tier. Es gibt allerdings durchaus Tiere, die in der Lage sind, sich im Spiegel zu erkennen, was einjährige Kinder nicht können. Einige wenige sind außerdem in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen und die Welt aus der Sicht von anderen zu sehen und ihr Verhalten daran anzupassen. Da reden wir über Delfine, über Schimpansen, über Menschenaffen, über Elefanten und interessanterweise auch über einige Rabenvögel. Diese Leistungen reichen aber nicht aus, um ein Reflexionsvermögen zu haben, um tatsächlich kognitiv etwas als normal oder nicht normal zu definieren. Andererseits sieht man bei Tieren, dass sie oftmals sehr aggressiv auf Abweichungen reagieren, ohne dass das jetzt an kognitive Leistungen gebunden wäre.

Tiere reagieren abweisend gegenüber Andersartigkeit…
Ja, wenn Sie eine Gruppe von Tieren haben, von Schimpansen, Hunden oder was auch immer, dann sind Gruppenmitglieder, die sich anders verhalten, oft Aggressionen ausgesetzt. Aber deswegen ist es noch lange nicht normal, sich so zu verhalten. Dieser Schluss wäre sehr gefährlich und wir haben keine Evidenzen dafür, sondern sogar eher für das Gegenteil. Bei Meerschweinchen haben wir beobachtet, dass sich zwei fremde Männchen aus jeweils großen Kolonien bei einem Aufeinandertreffen nur anschauen. Die müssen nicht kämpfen, die müssen nicht drohen, es kommt nicht zu einer Erhöhung der Stresshormone, die arrangieren sich. Und das liegt nicht etwa daran, dass Meerschweinchen Haustiere sind, die so gezüchtet sind, dass sie das können. Wenn nämlich ein männliches Meerschweinchen, das nur als Paar mit einem Weibchen aufwächst, später einem fremden Männchen begegnet, dann sehen Sie bei diesem Tier ein hohes Maß an Stresshormonen und ein hohes Maß an Aggression. In der Adoleszenzphase, in der soziale Regeln gelernt werden, haben diese heranwachsenden Tiere keine Interaktionen mit alten dominanten Männchen gehabt. Deshalb wissen sie nicht, wie man klarkommt, ohne dass man droht und kämpft. Dagegen behalten Tiere, die dieses Verhalten in der Interaktion mit den älteren Männchen gelernt haben, das ein Leben lang bei. Sie können sich mit allen Fremden später arrangieren.

Aggressives Verhalten gegenüber Fremdem ist also nicht instinktiv bei den Tieren verankert. Das Verhalten wird vielmehr dadurch bestimmt, in welchem sozialen Umfeld die Tiere großwerden und was in einer bestimmten Phase an Regeln gelernt wurde. Aus menschlicher Sicht finden wir es zu Recht besser, wenn wir Individuen haben, die sich friedlich arrangieren können und bei der Interaktion mit Fremden keine Stressreaktion zeigen. Aus biologischer Sicht sind aber beide Verhaltensweisen jeweils sinnvoll: Wenn ein Tier in einer großen Kolonie lebt, ist es natürlich gut, wenn es sich arrangieren und in den Sozialverband integrieren kann. Denn es muss warten, bis es in die hohen sozialen Positionen kommt. Geschlechtsreif werden die Tiere mit zwei bis drei Monaten, aber eine Alphaposition haben sie erst mit sieben oder acht Monaten. Bis dahin sind sie sehr friedlich und mit friedlichem Verhalten kommen sie in höhere Position hinein und können sich dann fortpflanzen. Das heißt, friedliches Verhalten bringt in einem großen Gruppenverband einen Vorteil. Wenn ein Meerschweinchen aber nur mit einem einzigen Weibchen zusammenlebt, pflanzt es sich auch nur mit diesem einen Weibchen fort. Aus evolutionsbiologischer Sicht sollte so ein Männchen dann natürlich angreifen, wenn ein Fremder kommt, und das Weibchen verteidigen. Denn dann kann es sich weiter mit diesem Tier fortpflanzen und seine eigenen Gene weitergeben. In einer solchen Situation ist es biologisch gesehen das Sinnvollste, aggressiv zu sein gegenüber den Fremden. In einer anderen Situation ist es das Sinnvollste, eben nicht aggressiv zu sein.

Die Löwin ist die ärmere Sau unter den Tieren. (Bild: Shutterstock)
Kuckuckskinder im Nest der Kohlmeise. (Bild: Shutterstock)

Aggression ist ein Verhalten, das man an Menschen eher nicht so gern sieht, auch Eifersucht ist ein Gefühl, das gesellschaftlich stigmatisiert ist. Sollte man solchen Gefühlen und Verhaltensweisen nicht mit mehr Akzeptanz begegnen weil sie eigentlich ganz natürlich sind?
Da müssen wir insgesamt aufpassen, dass wir nicht naturalistische Fehlschlüsse ziehen. Nehmen Sie das Beispiel Kindestötung im Tierreich. Löwen leben in Harems. Da stehen häufig zwei Männchen an der Spitze und leben mit mehreren Weibchen zusammen. Die Männchen werden alle zwei bis drei Jahre ausgetauscht, dann kommen neue. Und was machen die als erstes? Die gehen hin und töten die noch nicht entwöhnten Jungtiere. Früher hat man das als Verhaltenspathologie interpretiert, als krankhaftes Verhalten. Heute weiß man, dass Löwen da durchaus evolutionsbiologisch sinnvoll handeln: Wenn Männchen einen Harem übernehmen ist das Ziel, die eigenen Gene mit maximaler Effizienz in die nächste Generation weiterzugeben. Solange die Löwinnen im Rudel aber noch säugen, haben sie keinen Eisprung und können nicht erneut trächtig werden. Beißen die Männchen die noch nicht entwöhnten Jungtiere tot, haben die Weibchen schnell wieder einen Eisprung, und die Männchen können sich fortpflanzen und ihre Gene weitergeben. Dieses Verhalten kennen wir mittlerweile nicht nur von Löwen, sondern von zahlreichen weiteren Arten. Man könnte also sagen, dass dieses Verhalten in der Natur normal ist. Daraus lässt sich aber noch lange nicht schließen, dass es ein Modell für unsere Gesellschaft sein könnte. Wir können nicht einfach das, was uns im Tierreich passt, auf den Menschen übertragen und alles andere einfach weglassen.

Wenn ich mir so ein Löwenrudel anschaue, frage ich mich, wer da eigentlich die ärmere Sau ist, die Löwin oder der Löwe? Was ist denn wissenschaftlich über den Stress im Gruppenverband bekannt?
Wir sehen bei fast allen Tieren, die Gruppen bilden, Dominanzhierarchien. Jetzt könnte man meinen, es sei ganz toll, Alpha zu sein und eher schlecht, irgendwo weiter unten zu stehen. So einfach ist das aber nicht. Untersuchungen aus der freien Natur, bei denen die Konzentrationen von Stresshormonen gemessen wurden, haben gezeigt, dass Alphamännchen keineswegs die am wenigsten gestressten Tiere sind. Es sind zwar die, die ihre Gene mit maximaler Effizienz weitergeben. Aber eben auch die, die häufig an Managererkrankungen leiden, die Herz-Kreislauferkrankungen entwickeln wie Bluthochdruck und Arteriosklerose. Die halten ihren aufwändigen Dominanzstil nicht über lange Phasen durch. Auch hier aber unterscheiden sich tierliche von menschlichen Gesellschaften: Bei den Tieren kommt es primär nämlich nicht drauf an, möglichst wenig Stress zu haben und möglichst lange zu leben. Vielmehr geht es vor allem darum, sich möglichst erfolgreich fortzupflanzen. Wenn man das mit viel Stress am besten hinkriegt, dann machen die Tiere das mit viel Stress. Wenn man das mit Krieg führen hinkriegt, wie die Schimpansen, dann eben so. Und wenn man dieses Ziel mit Kooperation erreicht, dann machen die Tiere das eben mit Kooperation. Ungeachtet der Strategie ist das Ziel immer, die eigenen Gene weiterzugeben. Kein Tier ist so programmiert, dass es die Art erhalten möchte.

Also egal an welcher Stelle der Hierarchie, Alpha oder Omega oder was auch immer: Männchen haben Stress.
In vielen Fällen ja. Und häufig haben sie etwas davon. Aber man muss auch fragen: Was ist mit den Weibchen? Die haben bei den Löwen die schlechteren Karten. Manchmal kämpfen sie gegen die Männchen, sind aber körperlich eindeutig schwächer. Manche Weibchen versuchen, mit ihren Jungtieren das Rudel zu verlassen, haben dann aber kaum Überlebenschancen. Hier sieht man, dass Männchen und Weibchen unterschiedliche Interessen haben. Und wir haben in den letzten Jahren ganz generell gelernt, dass die Weibchen im Tierreich sich keineswegs passiv verhalten und nur gucken, welches Männchen in Kämpfen das Stärkste ist, um sich dann mit diesem zu paaren. Ganz im Gegenteil, sie sind überaus aktiv und versuchen genau wie die Männchen auch, ihre Gene mit maximaler Effizienz in die nächste Generation weiter zu geben.

Also ist dieses Verhalten offenbar allen Tieren gemein.
Ja. Singvögel waren jahrzehntelang das Paradebeispiel für Monogamie und Treue. Dann kam - wie oft in der Wissenschaft - eine revolutionär neue Technik: Vaterschaftsanalysen mithilfe des genetischen Fingerabdrucks. Damit zeigte sich beispielsweise bei Blaumeisen und Kohlmeisen, dass über 80 Prozent der Jungtiere im Nest gar nicht von dem Männchen stammten, das der Bindungspartner ist und die Jungen füttert. Dabei ging man zunächst davon aus, dass die Männchen fremdgehen, um ihre Fitness zu maximieren. Wenn man genauer beobachtet, sind es aber meist die Weibchen, die fremdgehen. Was steckt dahinter? Die gängige Theorie sieht so aus: Meist kommen die Männchen als erste, besetzen die Reviere und danach kommen die Weibchen. Und was soll ein Weibchen machen, wenn es die freie Wahl hat? Natürlich das beste Revier und das beste Männchen nehmen. Dann kriegt es die besten Ressourcen und die besten Gene. Für die meisten Weibchen kommt es dazu aber nicht, weil viele Reviere schon besetzt sind, wenn sie kommen. Also müssen sie ein etwas schlechteres Revier mit einem etwas schlechteren Männchen nehmen. Die besseren Gene aber können sie sich von den anderen Männchen holen. Und das ist offenbar exakt das, was die Weibchen machen. Es ist also so, dass es bei den Tieren eben nicht darum geht, dass sich ein Männchen und ein Weibchen finden, die dann ein perfektes Paar sind, sondern es gibt vorhersehbare Konflikte zwischen den Geschlechtern, wobei in der Regel die reproduktiven Entscheidungen von den Weibchen getroffen werden. Das hat man vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders gesehen.

(Bild: Shutterstock)

Jetzt wäre es interessant zu wissen, ob die männliche Kohlmeise weiß, dass die „Kinder“ nicht von ihm sind.
Das ist eine spannende Frage, die tatsächlich untersucht worden ist. Das Männchen muss es auf irgendeine Art und Weise mitbekommen, denn man konnte zeigen, dass umso weniger gefüttert wurde, je höher der Anteil an fremden Nachkommen in diesen Nestern ist. Das heißt, die passen ihren Aufwand an. Man weiß allerdings nicht, woher die Meisen das wissen.

In Ihrem Buch nennen Sie einen sehr geringen Prozentsatz an monogamen Tierarten...
Von den Säugetieren sind etwa 5 Prozent monogam. Zur ihrer Ehrenrettung sollte man aber sagen, dass unter monogamen Säugetieren Fremdbefruchtungen zwar vorkommen, aber relativ selten sind. Bei den Vogelarten dagegen sind fast 90 Prozent monogam, Fremdbefruchtungen zugleich extrem häufig.

Die Vorstellung, dass viele Tiere monogam leben, ist also nicht viel mehr als eine menschliche Projektion. Das Tier ist also ganz und gar nicht der bessere Mensch?
Sicher nicht. Wir haben viele Beispiele, dass Tiere kooperieren, dass sie sich helfen, dass sie trösten, dass sie sich versöhnen. Da haben wir in den letzten Jahrzehnten viel dazugelernt. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass sie drohen, dass sie Kriege führen, dass sie vergewaltigen, dass sie töten. Tiere sind opportunistisch. Sie tun alles, um ihre Gene weiterzugeben. Und hier gibt es einen wichtigen Unterschied zum Menschen: Die Tiere kommen aus diesem Gen-Egoismus nicht raus, ich sehe das nicht. Auch nicht die Delfine, auch nicht die Schimpansen. Aber für den Menschen habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass wir zumindest theoretisch eine Chance haben, auch nach anderen Prinzipien zu handeln. Wir haben Gesetze, wir können auf bestimmte Ziele hin erziehen, wir können unsere Moralvorstellungen beeinflussen. Das heißt, wir müssten als Gesellschaft zu einer ganz anderen Form von Solidarität, Kooperation, Verantwortungsbewusstsein fähig sein als es Tiere sind.

Mit anderen Worten: Der Löwe kann nicht anders als Löwe sein, der Mensch sehr wohl. Kann man eigentlich etwas von Ihren Untersuchungsmethoden in unseren Alltag übertragen? Sie schreiben beispielsweise, dass Sie bei Tieren häufig eine Art Speicheltest durchführen, um den Cortisolspiegel zu messen. Und Cortisolausschüttung ist ein Ausdruck von Stress. Wäre es nicht gut, wenn wir Menschen so einen Test immer bei uns hätten und messen könnten, wie es uns im Hinblick auf Stress in verschiedenen Situationen geht?
In der Psychologie ist das tatsächlich eine wichtige Forschungsrichtung geworden. Und es gibt vergleichbare Untersuchungen, die parallel bei Menschen und Tieren durchgeführt worden sind. In großen Gruppen von Meerschweinchen laufen etwa nicht alle wild durcheinander, sondern haben Bindungspartner, Lieblinge. Alle anderen Meerschweinchen in der Gruppe sind sozusagen Bekannte. Tiere, die sich untereinander noch nie gesehen haben, sind Fremde. Wenn man nun ein Männchen aus der Gruppe nimmt und es allein in ein neues Gehege setzt, kommt es zu akutem Stress: er Cortisolspiegel geht steil nach oben. Setzt man ein fremdes Weibchen dazu, kommt es zu demselben Anstieg, ebenso bei einem bekannten Weibchen. Kommt aber die Bindungspartnerin dazu, ist die Stressreaktion nahezu verschwunden. Beim Menschen kommt man zu ähnlichen Ergebnissen: Beispielsweise gab man Menschen im Labor arithmetische Aufgaben, wie: Starten Sie bei 1017 und ziehen Sie schrittweise 23 ab, bis Sie bei 0 sind. Wenn Sie einen Fehler machen, müssen Sie wieder vorne anfangen – ihr Vorgänger hat das in 45 Sekunden geschafft. Damit kriegen Sie Stresshormone nach oben. Wenn zu dieser Situation nun Ehepartner oder Bindungspartner mitgebracht werden dürfen, passiert bei den Männern genau das, was man auch erwarten würde: Die haben weniger Stressausstoß und eine bessere Performance, wenn die Bindungspartnerin danebensitzt. Spannenderweise ist es bei Frauen genau umgekehrt. Wenn die ihre Männer mitbringen, gehen die Stresshormone weiter nach oben und die Performance wird schlechter. Hier zeigt sich wieder, dass es auch große Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier gibt: Ein guter Bindungspartner ist das Beste, was man haben kann, wenn es um die Reduktion von Stress in belastenden Situationen geht. Da kriegen Sie beim Menschen exakt dieselben Daten wie beim Meerschweinchen und bei vielen anderen Tierarten, die ebenfalls dazu untersucht worden sind. Für alle Säugetiere einschließlich des Menschen gilt: Freundschaft, Bindungspartner, eingebunden sein in ein soziales Netz ist wohltuend, macht gesund, hält gesund, schützt gegen Stress.

Wie würden Sie die philosophische Essenz Ihrer Forschung beschreiben? Ist es ein Plädoyer für Diversität, also Vielfalt innerhalb eines Spektrums zuzulassen und nicht immer sofort zu werten?
Ja, ganz klar. Dabei geht es aber nicht darum, dass jeder so divers wie möglich ist und macht, was er will. Spätestens wenn ich den anderen beeinträchtige, nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes stehe oder sage, ist mir doch egal, was mit dem Planeten passiert, dann ist das nicht mehr in Ordnung. Wir sollten uns aber in unserer Gesellschaft insgesamt für Diversität einsetzen und ihr mit mehr Akzeptanz begegnen. Die Gesellschaft wird die Diversität brauchen, um mit den zukünftigen Problemen, die auf uns zukommen fertig zu werden. Davon bin ich fest überzeugt.


Frank Haas ist Leiter der Markenstrategie und Kommunikation bei Gebrüder Weiss und Chefredakteur des Atlas.

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