Kathrin Passig über das Unnormale
Normal ist nur das Speiseeis
Meistens ist ja alles normal. Das ist das Schöne am Normalen: Es gibt sehr viel davon. Ausnahmen von der Normalität begegnet man eigentlich nur in zwei Situationen: Entweder passiert vor der eigenen Haustür etwas Ungewöhnliches, oder man begibt sich ins Ausland. Das Ausland im Sinne nachlassender Normalität beginnt dabei etwa hundert Kilometer vom eigenen Wohnort entfernt – außer in der Schweiz, da sind es nur zehn Kilometer, und in Berlin beginnt das Ausland am S-Bahn-Ring.
Wenn vor der eigenen Haustür etwas zu sehen ist, das da letzte Woche noch nicht war, ruft das häufig Widerwillen hervor. Wegweiser, Straßenlaternen und Velozipede zogen den Unmut der Bevölkerung auf sich, als sie neu waren, auch wenn man sie heute als eher praktische Einrichtungen zu betrachten bereit ist. Aber jetzt ist das kein Kunststück mehr, denn sie sind normal geworden. Was nicht normal ist: Leihfahrräder (womöglich von chinesischen Anbietern). Elektro-Tretroller (womöglich ebenfalls von chinesischen Anbietern). Menschen, die beim Gehen aufs Handy sehen.
Und was nicht normal ist, das ist erst einmal falsch. Es muss falsch sein, weil es vor allem von seltsamen Gestalten genutzt wird, von Hipstern und Dandys. Was die richtig reichen Leute machen, prägt das Straßenbild kaum, weil es von ihnen so nicht so viele gibt und sie woanders wohnen. Ihre Heli-Skiing-Gewohnheiten, Jagdschlösschen oder tausend Meter langen Luxusyachten hat man nicht ständig vor Augen. Aber diese jungen Leute mit ihren sonderbaren Bart-, Haar-, Kleidungs- und Meinungsmoden, die offenbar zu viel Geld und zu viel Freizeit haben, pflegen ihren Lebenswandel gerade dort, wo man als Freund einer gepflegten Normalität täglich damit konfrontiert wird.
Der Anblick des Unnormalen
Eine Jubiläumsschrift des Wiener Cyclisten-Clubs berichtet über die Anfangszeiten des 1883 gegründeten Vereins: “Die Bevölkerung, groß und klein, in der Stadt und auf dem Lande, betrachtete den Bicyclisten, der als Narr angesehen wurde und für gesittete, vernünftige Mitbürger als gemeingefährlich schien sowie die Bauernpferde stutzig machte, als Freiwild und behandelte ihn auch danach. Steine wurden nach ihm geschleudert, meuchlings Hindernisse vor das Bicycle geworfen, um ihn zum Sturz zu bringen, und nicht selten mußte er auf offener Straße oder in Ortsgemeinden mit besonders hitzigen Widersachern den Faustkampf aufnehmen …”
Bei diesen Aggressionen gegen die “Bicyclisten” und einige Jahrzehnte vor ihnen gegen die “Velocipedisten”, die Laufradfahrer, geht es zum Teil genau wie heute um die Frage, was eine normale Nutzung von Straßen und Gehwegen darstellt und wer dazu berechtigt sein soll. Aber auch die alberne Kleidung und eigentlich die gesamte Existenz der Freunde dieser abwegigen Fortbewegungsweise gibt Anlass zur Kritik.
Dass es von Hipstern und Dandys praktiziert wird, ist ein Grund, warum das Unnormale falsch aussieht. Der andere liegt darin, dass es die Richtigkeit des Normalen in Frage stellt. Wenn die jungen Männer oder womöglich sogar die Frauenzimmer neuerdings mit dem Fahrrad herumfahren, ist ihnen das Bisherige – Pferd, Kutsche, Zuhausebleiben – wohl nicht gut genug. Sie üben Kritik an dem, was alle anderen zufriedenstellt. Jeder Anblick des Unnormalen enthält einen Vorwurf an die, die es nicht praktizieren.
Die Aufregung endet in den meisten Fällen durch Gewöhnung. Relativ einfach geht das bei Software, die sich selbstständig aktualisiert und deren Betreiber so geschickt sind, Änderungen schleichend einzuführen. Ein Button wandert von links nach rechts, eine Farbe ändert sich, eine kleine Option wird abgeschafft… Wenige Jahre später ist aus einer App zum Musikabspielen eine fürs Onlinebanking inklusive Steuererklärung geworden, und man merkt es erst beim Betrachten alter Screenshots. Ideal wäre, wenn das auch bei physischen Veränderungen ginge. Anbieter könnten zuerst ganz winzige E-Tretroller und Leihfahrräder auf die Straßen stellen, die man kaum sieht, und erst allmählich etwas größere.
Es beschleunigt die Gewöhnung, wenn ein noch weniger normales Ding des Weges kommt. Sobald Flugtaxis am Himmel oder autarke Lieferfahrzeuge auf den Gehwegen auftauchen, werden Tretroller als Thema in Vergessenheit geraten. Bald erinnert sich niemand mehr, dass er das jetzt Normale irgendwann einmal auffällig fand.
Die Eigenheiten des Auslands
Am Hauptwohnsitz des Unnormalen, im Ausland, liegen die Verhältnisse ein wenig anders. Dort ist gar nichts normal, bis auf die Eissorten. Die sind leider exakt dieselben wie zu Hause, was dann auch wieder nicht recht ist und zu Klagen über die Globalisierung Anlass gibt. Aber die Steckdosen! Die Wasserhähne! Die Toiletten! Die Fenster! Die Art und Farbe der Milchverpackung! Der Chlorgeschmack im Wasser! Im Supermarkt steht kaum etwas da, wo man es erwartet, und womöglich sind sogar die Maßeinheiten andere als zu Hause.
Der Chlorgeschmack verschwindet bald von allein, so schnell, wie man sich an schlechte Luft im Seminarraum gewöhnt. Nur neu Hinzukommende rümpfen die Nase. Aus diesem Grund wird man bei Besuchen in Ländern mit gechlortem Trinkwasser von den Gastgebern hören, das Leitungswasser schmecke kein bisschen nach Chlor. Der erste Schluck zieht dann Verwunderung nach sich sowie ein Kommunikationsproblem, in dessen Verlauf die Gäste aus dem Nichtchlorland überlegen, ob die Einheimischen überhaupt Geschmackspapillen haben, und die Einheimischen ihre Gäste für merkwürdig überempfindlich halten.
Für die übrigen Eigenheiten des Auslands gibt es keinen solchen eingebauten Anpassungsmechanismus. Man muss sich aktiv bemühen, in der Normalität anderer Leute nicht nur eine schlechtere Version der eigenen zu sehen. Denn die seltsamen Lösungen andernorts sind, wenn man genauer hinsieht, eigentlich nie das Ergebnis von Unwissenheit oder Ungeschicktheit. Britische Sanitärfachleute wissen, dass Mischbatterien existieren und dass es grundsätzlich möglich ist, Duschen zu bauen, die in Aussehen und Reinigungswirkung nicht an ein altmodisches Münztelefon erinnern. Steckdosenhersteller kennen mehr als eine Art von Steckdosen. Die Menschen in Frankreich wissen, dass man Betten auch machen könnte, ohne die Decke am Fußende festzubetonieren. Und dass das deutsche Mobilfunknetz Reisende aus anderen europäischen Ländern durch sein weitgehendes Nichtvorhandensein verblüfft, liegt nicht an fehlenden technischen Kompetenzen im Land oder einem weniger stark ausgeprägten Wunsch nach Handyempfang.
Dass so viele verschiedene Arten von Normalität existieren, hat vor allem mit einem Phänomen namens Pfadabhängigkeit zu tun: An irgendeiner Stelle trifft jemand eine Entscheidung, die so oder so lauten könnte, zum Beispiel, wie eine Steckdose auszusehen hat. Kurze Zeit später hat sich die Bevölkerung ein paar Milliarden Elektrogeräte zugelegt, deren Stecker in diese Steckdosen passen. Der allgemeine Wunsch, im Ausland keine Adapter zu brauchen, stößt auf den ebenso allgemeinen Wunsch, zu Hause nicht sämtliche Steckdosen und Stecker auszutauschen. Das Resultat ist eine Welt, die eben so ist, wie sie ist: stellenweise gewöhnungsbedürftig bis empörend. Das wird so bleiben, bis die ersten Außerirdischen Kontakt mit uns aufnehmen. An diesem Tag wird schlagartig alles auf der Erde ganz normal. Sogar britische Wasserhähne.
Kathrin Passig arbeitet unter anderem als Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin.