Harry Stiastny Im Gespräch

Der ganz normale Wahnsinn

Gebrüder Weiss managt Lieferketten mit immer mehr Peaks. Dabei helfen flexible Arbeitszeiten, Kapazitätsvorausplanung und dynamische Preismodelle.

Harry Stiastny, Logistikleiter bei Gebrüder Weiss, ist seit 38 Jahren im Unternehmen – den Trend zu immer mehr Spitzen ("Peaks") beobachtet er aber erst in jüngster Zeit. "Es geht um die Beherrschbarkeit des Chaos, wenn alles in ein kleines Zeitfenster reingebracht werden muss", sagt er gut gelaunt. Sein Beispiel ist der "Single’s Day" am 11. November, der umsatzstärkste Online-Shopping-Tag der Welt: "Ganz China spielt verrückt und bestellt innerhalb kürzester Zeit Waren ohne Ende. Die Bestellungen sind in der Logistikkette aber nicht an einem Tag erledigt", weiss Stiastny. Der ganz normale Wahnsinn sieht zum Beispiel so aus: JD.com, der größte Retailer in China, machte vom 1. bis 11. November 2018 einen Umsatz von 23 Milliarden USDollar. Der chinesische Online-Händler Alibaba kam an einem einzigen Tag auf 30,8 Milliarden USDollar. Inzwischen ist das Shopping-Festival nach Europa übergeschwappt, genauso wie der "Black Friday" und "Cyber Monday" aus den USA. Die Weihnachtssaison beginnt im Konsumgüterbereich bereits früh im Herbst. Vier bis fünf Monate vor dem Fest steigen die Seefrachtraten der Reedereien, die volle Container aus Asien nach Europa bringen und die Warenlager füllen.

"Die Kunst liegt darin, die hohe Nachfrage bei diesen Peaks abzufedern, damit nicht unnötig viele Kapazitäten das restliche Jahr über ungenutzt bleiben", erklärt Christian Kille von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Der Professor für Handelslogistik beschäftigt sich mit den normalen Schwankungen entlang der Lieferkette, dem Bullwhipoder Peitscheneffekt. Kille hat den Wochenverlauf im Blick: "Montags schlagen die Bestellungen des Wochenendes in der Logistik auf." Dieser erwartbare Peak wandert bei Feiertagen zu anderen Wochen tagen – und schon wird es knifflig: "Es kommt in der Bereitstellung von Personal zu Herausforderungen", weiß Kille. Das gilt besonders für Ostern oder Weihnachten.

Seit fast vier Jahrzehnten ist Harry Stiastny bei Gebrüder Weiss: Er absolvierte seine Ausbildung zum Speditionskaufmann dort und begleitet das Logistikgeschäft des Unternehmens von Anfang an. Er verantwortet den Bereich als Head of Corporate Logistics seit 2003. (Bild: Gebrüder Weiss)
Die Nachfrage schwankt, mal ist Blau gefragt, mal Rot. (Bild: Gebrüder Weiss)

"Für uns ist es normal, dass wir vor Weihnachten im Lager Samstag und Sonntag arbeiten und Montag früh um 3 Uhr anfangen", sagt Stiastny. Die immer häufigeren Spitzen in der Logistikkette federt Gebrüder Weiss mit Schichtmodellen für verlängerte Betriebszeiten und durch flexible Arbeitszeiten mit Zeitkonten ab. "So können unsere Beschäftigten bei Schwankungen flexibel agieren", erklärt der Cheflogistiker.

Permanente Spitzen und Flauten in der einen Branche stehen Branchen mit gegenläufigen Peaks gegenüber. Gebrüder Weiss betreibt daher Multi Customer Warehouses, in denen Sportartikel beispielsweise mit Produkten für die Baustoffindustrie gemeinsam eingelagert werden. In einem Regal lagern Skier und fünf Meter daneben Dachrinnen, Schrauben oder Metallteile, Winterartikel neben Sommerware.

Knackpunkt ist jedoch die Kapazitätsvorausplanung: Je früher ein Vertrag vereinbart wird, desto besser lassen sich Peaks planen. "Deshalb schließen wir als externer Dienstleister auch Jahreskontrakte mit Reedereien und suchen uns Kunden, mit denen wir das nutzen können", erklärt Stiastny. Bei Gebrüder Weiss profitieren Kunden mit längerfristigen Verträgen. Stiastny unterstreicht: "Wir haben nur dann eine Chance, unsere Kapazitäten optimal auszulasten oder zusätzlich am Markt zu sichern, wenn wir wissen, wie stark die normale Schwankung beim Kunden ausfällt." Dafür braucht der Logistikleiter regelmäßigen aktuellen Informationsaustausch über die Absatzplanung, einen sogenannten "Forecast".

Noch einen Trend beobachtet Stiastny: "dynamic pricing", bekannt von Flugbuchungen bei Airlines: "Ich gehe davon aus, dass wir auch in der Logistik in Zukunft immer mehr dynamische Preismodelle je nach Angebot und Nachfrage haben werden. Je früher der Kunde weiß, was er braucht, desto mehr kann er von Kapazitäten und besseren Preisen profitieren." Und dann sind auch diese Schwankungen vielleicht bald schon normal.


Kerstin Kloss arbeitet als freie Journalistin mit Schwerpunkt Logistik in Hamburg.

Die Lager müssen sich auf immer häufigere Peaks einstellen. (Bild: Gebrüder Weiss)
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