Ein Versuch über die normale Stadt
Das halb volle Glas
Das schönste Gesicht ist das durchschnittlichste Gesicht, das weiß man aus Experimenten. Je mehr Gesichter man übereinanderlegt, desto attraktiver kommt es einem vor. Lässt sich das auch auf eine Stadt übertragen?
Empfinden wir eine durchschnittliche Stadt als besonders lebenswert? Statistisch lässt sich das kaum beantworten – genauso wenig, wie es ein durchschnittliches Gesicht geben kann, kann es auch eine durchschnittliche Stadt nicht geben. Für Österreich würde diese theoretisch so aussehen: Wien hat zwei Millionen Einwohner, Hardegg im Waldviertel, als kleinste Stadt des Landes, achtzig. Liegt die durschnittlichste Stadt Österreichs genau in der Mitte? Kaum, denn eine Stadt mit einer Million und vierzig Einwohnern findet sich hierzulande nicht. Das ist die Crux mit der Statistik, die Normalität ist ein Konstrukt, das es in der Realität nicht gibt. Eine normale Stadt gibt es dagegen schon, die Stadt Normal nämlich, mit 55.000 Einwohnern die 25. größte Stadt von Illinois, dem immerhin fünft-bevölkerungsreichsten Staat der USA. Auch in Alabama, Indiana, Kentucky und Tennessee gibt es die Städte Normal. Normal wäre in Österreich die neuntgrößte Stadt, gleich nach Wels. Kann man daraus schließen, dass Wels, die achtgrößte Stadt, die normalste Stadt unseres Landes ist? Ich glaube schon.
Immer genau dazwischen
Wels ist die durchschnittlichste Stadt des Landes, man spürt es, wenn man dort ist, hier ist nichts außergewöhnlich, hier fällt nichts aus der Reihe, Rekorde finden anderswo statt. Wels, die zweitgrößte Stadt von Oberösterreich, ist stadtgewordene Mediokrität, wer diese einmal inhaliert hat, fühlt sich anderswo unterfordert, denn es braucht mehr Mut, sich der mäßigen Schönheit auszusetzen als den Extremen einer Weltstadt wie Berlin oder Wien. Wels (und damit auch Lauterach und Pöchlarn, sogar Passau und Nürnberg) liegt immer genau dazwischen, man spricht weder Dialekt noch Hochdeutsch, lebt weder in einer Großstadt noch in der Provinz, ist weder anonym noch behaglich aufgehoben, genießt weder die schroffen Felsen der Alpen noch die öden Weiten der Ebene, atmet weder die arrogante Intellektualität der Kultur noch den herben Charme der Industrie. Man hat eine Einkaufsstraße und einen Fußballclub, man ist freundlicher als in Wien, distanzierter als im Dorf, umgeben von Freizeitpolizisten und Oberlehrern, aber das gilt ja für den gesamten deutschsprachigen Raum.
Drei Monate durfte ich in Wels leben, in der mittelalterlich klingenden Funktion des Stadtschreibers. Obwohl ich in Linz, nur zehn Zugminuten entfernt geboren und aufgewachsen bin, war ich vor meiner Stadtschreiberei nur drei Mal in Wels gewesen. Wozu auch? Als Stadtschreiber dorthin zu kommen, war aber ein großes Abenteuer. Ich lebe seit vielen Jahren in Wien und es war mir eine große Freude, wieder einmal für längere Zeit im Heimatland wohnen zu dürfen, fremd und vertraut zugleich, die Mundart meiner Jugend zu hören und, etwas verrostet, zu sprechen. Als ich von Wels einmal die paar Minuten im Zug nach Linz fuhr, war es kurz ein echtes Heimkommen. In der Straßenbahn zum Hauptplatz erkannte ich als Bewohner der Bundeshauptstadt aber arrogant, wie offensichtlich Linz nur Landeshauptstadt ist, trotz neuer Oper, neuen Straßenbahnzügen, und den gleichen Shops entlang der Fußgängerzone wie in allen anderen Städten der westlichen Welt, der Welt allgemein. Das sollte Heimat sein? Aber was ist schon Heimat. Schriftsteller sagen gerne, ihre Heimat sei die Literatur, die Sprache. Aber das Linzerisch, das ich von den Jugendlichen mit den sie entstellenden Frisuren um mich herum hörte, hatte nichts mit mir zu tun (hatten die 80er Jahre in Linz nie aufgehört oder waren sie von mir unbemerkt wiedergekommen?). Habe ich als Schüler auch so gesprochen? In Wien kam es mir vor, als redete ich noch Oberösterreichisch, doch verglichen mit den stammelnden Lauten um mich herum sprach ich wie ein Burgschauspieler. Das war nicht meine Heimat. Vielleicht existierte diese tatsächlich am ehesten in der Literatur. Also fuhr ich wieder zurück nach Wels, wo ich schließlich ein Zimmer zur Verfügung gestellt bekommen hatte, um zu schreiben, um Literatur zu schaffen.
Kleine Absurditäten
Auch nach drei Monaten in Wels erheiterte mich, dass die Ringstraße ein gerader Platz war. Auf dem Medien Kultur Haus, das von Fellner & Helmer – den wichtigsten Theater-Architekten der Monarchie – gebaut worden war, steht Sparkasse, die wiederum mit Museum beschriftet wurde, nur um die Galerie der Stadt Wels zu beherbergen, was ja wunderbar ist, mich beim ersten Besuch aber daran vorbeigehen ließ. Dafür heißt das Programmkino einfach Programmkino, während das beste Hotel der Stadt, das Hotel Greif, eine Jugendherberge war, die gerade abgerissen wurde. Der lebendigste Ort der Stadt war wiederum einer des Todes, der Schlachthof nämlich, heute ein tolles Veranstaltungszentrum. Diese kleinen Absurditäten kann man nur von außen kommend sehen, umso mehr genoss ich, langsam in die Stadt einzutauchen und zu bemerken, wie sie nach und nach vertrauter wurde. Der größte Vorteil einer Kleinstadt ist, dass man alles zu Fuß erreichen kann (was die Welser nicht wissen und wie besessen im Labyrinth ihres undurchschaubaren Einbahnsystems im Kreis fahren).
Eine Stadt besteht aber weder aus den Straßen, die sie durchziehen, noch aus den Gebäuden, die sie säumen, sondern aus den Einwohnerinnen und Einwohnern, die diese Gebäude bewohnen. Wochenlang habe ich mich mit allen möglichen Leuten getroffen und mit ihnen über Wels gesprochen, um herauszufinden wie es ist, hier zu leben, welche Ängste und Freuden sie erfüllen. Doch wann immer man mich fragte, wie sie denn so sind, die Welserinnen und Welser, wand ich mich und kam zu keiner zufriedenstellenden Antwort. „Man kann nicht von den Welsern sprechen, da sie zu verschieden sind, jeder Mensch ist ein Individuum“, meinte ich einmal hilflos bei einer Podiumsdiskussion und hoffte – wohl vergebens – dass die implizite Botschaft, dass man eben auch nicht „die Türken“ und „die Ausländer“ sagen kann, angekommen ist.
Mit Herzensruhe
Wie ist aber Wels nun wirklich? Die Stadt wäre der vierzehntgrößte Bezirk von Wien. Das klingt nicht rasend beeindruckend. Versuchen wir es mit einem Blick in die weite Welt: Was haben Wels, Dortmund, Leeds, Nantes, Florenz und San Diego gemeinsam? Die Antwort: sie sind jeweils die achtgrößte Stadt ihres Landes. Wels, das Florenz von Österreich, das wäre doch ein feiner Spruch für die Tourismusabteilung! Ob alle achtgrößten Städte den Durchschnitt ihrer jeweiligen Länder symbolisieren, wäre eine eigene Untersuchung wert. Ob auch die 14 Millionen Einwohner von Chengdu, der achtgrößten Stadt Chinas, das Gefühl haben, in einer Kleinstadt zu leben? Wels könnte aber leicht auch das Bordeaux Österreichs werden, die siebtgrößte Stadt Frankreichs nämlich, da nur 500 Menschen fehlen, um Villach als siebtgrößte Stadt einzuholen. Es scheint allerdings, dass Wels völlig antriebslos ist in diese Richtung, ohne jeden Ehrgeiz. Obwohl fehlender Ehrgeiz ja grundsätzlich sympathisch ist, fehlendes Streben nach ewigem Wachstum eine gesunde antikapitalistische Haltung verrät, die durchaus auf eine Welser Herzensruhe schließen lässt. Und diese Ruhe habe ich tatsächlich gefunden, gerade in den warmen Monaten. Man sitzt vor dem Café Strassmair oder steht vor dem Mika und lässt die Welt vorbeiziehen. Genauso wie in jeder anderen Stadt sieht man gehetzte Büromenschen, erschöpfte Eltern, fadisierte Teenager, eine Gruppe fröhlich schnatternder Freunde und einen nach Zigarettenstummel suchenden Obdachlosen. Während man in New York, Rio oder Tokyo aber unbemerkt tagelang dem Treiben folgen könnte, ist das auch nach nur drei Monaten in Wels bereits unmöglich geworden. Hallo Stefan, was machst du denn da?, hört man nach nur ein paar Minuten. Und schon sitzt man nicht mehr alleine. Ich habe das sehr genossen in dieser durchschnittlichen Kleinstadt. Ständig trifft man Leute, mit denen man kurz plaudern kann, nie muss man sich mühsam einen Termin ausmachen. Ich wusste genau, wo ich die Menschen, die ich in der kurzen Zeit kennenlernen durfte, treffen konnte. Im bürgerlichen Café Urbann, beim Mittagsstrudel im Strassmair, bei inspirierenden Veranstaltungen im Schlachthof oder bei tollen Produktionen im schönen, großen Stadtsaal. Man hat hier also beides, die Vielfalt der Großstadt, gepaart mit der Intimität des Landes, genauso wie es sein sollte, in einer normalen Stadt. Das Normale kann aber beängstigen. „Normal people scare me“, las ich vor Kurzem auf einem T-Shirt. Die Trägerin meinte damit wohl nicht die Einwohner der amerikanischen Stadt Normal. Eher schon die Welserinnen und Welser, die immer wieder damit zu kämpfen haben, dass ihre Stadt nicht ernst genommen wird oder, schlimmer, als schrecklich, als Provinzhölle, dargestellt wird. Dieses Schicksal teilt sich Wels mit vielen Provinzhauptstädten der ganzen Welt. Warum aber macht das Durchschnittliche anscheinend Angst? Der Durchschnitt ist von allen Extremen gleich weit entfernt, weshalb er alle angeht. Man kann sich – oder zumindest einen Teil von sich – leicht in ihm wiedererkennen und fühlt sich befugt, eine Meinung abgeben zu können. Die Kleinstadt ist entweder Stadt und Land zugleich oder umgekehrt, weder Stadt noch Land. Wels - und damit auch alle anderen Kleinstädte - liegt immer dazwischen, wie das halbvolle Glas, das genauso halbleer sein kann, je nach Betrachtungsweise. Lebt man in einer Kleinstadt ist man zurückgeworfen auf sich selbst, und das verlangt in der Tat großen Mut. Denn man ist es selbst, der entscheidet, ob man im Paradies oder in der Hölle lebt.
Stefan Kutzenberger wurde 1971 in Linz geboren und lebt als Schriftsteller und Literaturwissenschaftler in Wien.