Florian Aigner antwortet
Was war früher wichtig und ist heute ziemlich egal?
Ich weiss nicht, wie man Kartoffeln erntet. Klar, sie wachsen in der Erde, und man muss sie irgendwie an ihrem oberirdischen Grünanteil ziehend ins Freie befördern. Aber wie macht man das am besten? Und wie sehen Kartoffelblätter überhaupt aus?
Meine Urgroßeltern wären wohl entsetzt gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, dass ihr Urenkel vom theoretischen Konzept der Kartoffelernte hoffnungslos überfordert sein wird. Damals war dieses Wissen so selbstverständlich wie heute das Installieren von Smartphone-Apps, das Senden von E-Mails oder das Schimpfen über schlechte Akkulaufzeiten. Kartoffelwissen war damals wichtig. Heute ist es eher egal.
Jede Generation legt fest, welches Wissen als unverzichtbar gilt. Manches davon bleibt über Jahrhunderte gleich, aber vieles ändert sich. Und dann kann man grandios auf die Jugend von heute schimpfen: Schrecklich, was die alles nicht mehr wissen! Sie kennen zu wenig klassische Literatur, sie halten sich nicht an altbewährte Anstandsregeln, sie wissen nicht einmal, wie man eine Weihnachtsgans köpft, ausnimmt und zubereitet.
In der Wissenschaft lässt sich dieses Phänomen besonders deutlich beobachten. Die wissenschaftliche Forschung ändert sich sogar noch schneller als die allgemein akzeptierten Anstandsregeln. Ein Physiker musste noch vor wenigen Generationen seitenlange Berechnungen durchführen können, exakt und ohne Fehler. Diese Fähigkeit spielt heute kaum noch eine Rolle, die lästigen Zahlenrechnereien erledigt der Computer, der Physiker kann sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren.
Ein früher Chemiker (damals nannte man sie noch Alchemisten) musste genau wissen, wie man aus welchen Pflanzen und Gesteinen welche Substanzen gewinnen kann, mit denen sich dann erstaunliche Kunststücke vollführen lassen. Das kann dem Chemiker heute völlig egal sein. Er bestellt seine Chemikalien im Internet. Dafür muss er über Atomorbitale, Wasserstoffbrückenbindungen und Elektronegativität Bescheid wissen – diese Worte konnte der alte Alchemist nicht einmal buchstabieren.
Was früher wichtig war, ist heute egal. Was heute wichtig ist, war früher unbekannt. Und eines Tages wird auch das heutige Wissen unwichtig geworden sein. Das ist der Lauf der Welt. Dieser ständige Erneuerungsprozess gehört zu den ganz wenigen Dingen, die sich tatsächlich niemals ändern werden. Und das ist gut so. Denn es bedeutet, dass sich die Menschheit weiterentwickelt. Was sich verändert, lebt. Nur was tot ist, bleibt gleich.
Florian Aigner ist Wissenschaftspublizist und lebt in Wien.