Nora Gomringer antwortet

Ist es naiv, an das Gute im Menschen zu glauben?

Nora Gomringer (Bild: Judith Kinitz)

Vor kurzem besuchten meine Mutter und ich das Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Hannover, und es war ein kalter, schöner, schneeloser Wintertag. Fast alleine lief ich bei einsetzender Dämmerung über das Gelände, dessen Topografie uns im Dokumentationszentrum erklärt und bebildert wurde. Die Geschichte der weitläufigen Anlage, die verschiedenen Nutzungsphasen, einzelne Schicksale, Versorgungslogistik und Barackenbau, Befreiung und Institutionalisierung zur offiziellen Gedenkstätte sind gebannt in diesem beeindruckenden Gebäude aus schwerem Beton, der alles schallverdichtet, sichtkonzentriert, den Geist ausschließlich auf diesen Ort einlässt wie eine Intarsie.

Massengräber von 1.000, 1.500, 2.000 und 5.000 Leichen sind an mehreren Stellen auf dem Außengelände markiert und durch aufgeschüttete, flache Hügel kenntlich gemacht. Außerdem gibt es in Stein gehauene Schrift, die die Besucher mahnt: »Hier ruhen 5.000 Tote.« Zwischen 1941 und 1945 starben geschätzt 70.000 Menschen an diesem Ort. Im Wind raunt es, es ist nie ganz still, Bäume nahebei ächzen, als Besucher ertappt man sich seufzend, fröstelnd, in tiefem Unbehagen.

Die holländischen Mädchen, die – ich behaupte es oft und bleibe dabei – berühmteste Autorin der Literaturgeschichte und ihre Schwester, Anne und Margot Frank, sind hier an diesem Ort an Typhus gestorben. Vor allem in den letzten Monaten des Lagers – es wurde am 15.4.1945 von britischen Truppen befreit – herrschte Versorgungschaos, und 10.000 Menschen starben an Unterernährung, Diphtherie und Typhus.

Als die Zäune gekappt, die Tore geöffnet wurden, die Insassen des Lagers für »frei« erklärt waren, konnten viele sich tagelang, wochenlang nicht rühren, blieben einfach am Ort der Entmenschlichung, stellten völlig unerwartete, ungekannte Herausforderungen an ihre Befreier. Nach der akuten Nothilfe mussten die Befreiten über Wochen vor Ort ernährt und gepflegt werden, bevor sie sich auf eine längere Reise machen konnten. Ich stand dort in warmer Winterjacke, sah auf die Gedenksteine, die, wenn, dann nur durch Zufall einen tatsächlichen Grablegungsort markieren konnten, und fror, fror bitterlich. Wie mussten die Menschen gefroren haben, monatelang, in dünner Leinenkleidung, nur manchmal mit einem zugewiesenen Mantel zusätzlich bedeckt; sehr wahrscheinlich das Kleidungsstück eines Toten, der an diesem Ort verstorben war. Die Nazis setzten ständig Ärzte und Beobachter in dem Lager ein. Mancher von ihnen wurde als nicht bösartig, aber »naiv« beschrieben, an den Insassen interessiert wie an zu erforschenden Tieren, völlig eingenommen von der Rassenlehre, ihren brutalen Verirrungen und Folgen für Forscher und Erforschte.

Als Jugendliche fühlte ich mehr Verzweiflung beim Betrachten der Filmsequenzen über die Lagerbefreiung, gedreht von einem Filmteam der BBC. Ich kann mich erinnern, weil mich die Leichenberge und die zur Strafe ins befreite Lager kommandierten Bauern der Umgebung auf den schwarz-weißen Filmstrips kindlich faszinierten, als wäre alles Requisite und Komparsenspiel in Szenen eines inszenierten Filmgeschehens. Kaum nahm der Verstand auf, was er da sah. Wie so viele der Bauern beteuerten, nichts, absolut nichts von den Vorgängen an diesem Ort gewusst zu haben, wo doch gerade dörflichen Gemeinschaften nachgesagt wird, so oft alles vom auch Kilometer entfernten Nachbarn zu wissen. Die Filme der BBC erschüttern mich heute, wenn nicht die Leichen, der Tod, die beschämte, bestürzte, fassungslose und stumme Masse der Betrachter in den Blick der Linse rücken, sondern die jungen Soldaten. Kaum 20-jährige Männer, kaum »Männer«, stehen die meisten von ihnen zum ersten Mal vor einer Kamera, sprechen zum ersten Mal Worte, die noch heute von ihrem Dilemma berichten, ihrer grundtiefen Verstörung.

An diesem Ort angelangt, sind sie davon überzeugt worden, dass das Gute im Menschen ein bloßes Konstrukt ist, ein Wunsch, von einem Kollektiv formuliert, die große Hoffnung. Vorsätzlich blind, taub und ungerührt vielleicht kann einer sich geben, aber nicht naiv, wenn naiv verstanden wird als unschuldig, zart, neuen Blicks und Gefühls, pink. Naivität ist ein Privileg, und Privilegien werden zugeteilt.

Ich will wohl sagen, dass bis zu dem Moment der Realisation, dass das Gute im Menschen ein Wunsch ist, der Mensch naiv sein darf. Es ist sein ihm geschenktes Recht, sein Denken von dieser Grundgestimmtheit bestimmen zu lassen. Hernach muss er mit dem ihm eigenen Wissen tun, was er meint verantworten zu können. Zwischen ihm und seinem Handeln steht sein Wissen um die Folgen seiner Handlungen. Dieses Wissen erlangt er aus Erfahrung und Betrachtung, Mitleiden und Erleben. Es ist der junge Mensch, der uns fasziniert, weil er naiv sein darf. Es ist eine kollektive, stillschweigende Erlaubnis, die er besitzt. Sie verwirkt mit Zeit.


Nora Gomringer, Schweizerin und Deutsche, lebt in Bamberg. Sie schreibt, vertont, erklärt, souffliert und liebt Gedichte.

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