Paul Senger-Weiss im Gespräch mit Frank Haas.

Gemeinsam etwas formen

Paul Senger-Weiss ist Sohn einer alten Müller- und Handelsfamilie. An der Seite seiner Frau Heidi Senger-Weiss hat er Gebrüder Weiss von 1968 bis 2004 geleitet und die Expansion nach Mittel- und Osteuropa sowie nach China und in die USA vorangetrieben. 2005 wechselten beide in den Aufsichtsrat. Heute steht einer der Söhne des Paars, Wolfram Senger-Weiss, an der operativen Spitze des Konzerns.

Lieber Herr Senger-Weiss, vor dem Hintergrund Ihrer langen Erfahrung: Leben wir gerade in besonders beunruhigenden Zeiten?
Sicher befinden wir uns als Gesellschaft in der schwierigsten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg. Meine Generation hat ja das Glück, dass wir die Auswirkungen des Kriegs gar nicht mehr so bewusst mitbekommen haben. Und dann war lange Zeit Frieden in Europa – bis vor Kurzem. Den Krisen, die sich dadurch ergeben, müssen wir uns stellen, und wir werden durchkommen. Aber es wird nicht einfach. Man muss bereit sein, sowohl persönlich als auch auf unternehmerischer Seite Investments zu machen.

Sie selbst haben immer versucht, mit der Logistik andere Märkte zu erschließen, miteinander zu verbinden. Momentan haben wir aber starke Abschottungstendenzen und es gibt wieder harte Grenzen. Hätten Sie das gedacht?
Ich sehe das Problem, aber das hat es immer schon gegeben. Sehen Sie, wir sind mit dem Eisernen Vorhang aufgewachsen. Das hat zum Beispiel bedeutet, dass ein einfacher Skiausflug nach Polen, als ich 19 Jahre alt war, wie eine Reise in eine andere Welt war. An der Grenze gingen vor und hinter unserem Auto eiserne Traversen zu und wir wurden erst einmal gründlich untersucht, bevor wir weiterfahren konnten. Ich habe also auch damals schon Abschottung erlebt – und dennoch haben wir uns ab den 80er-Jahren im Unternehmen mit neuen Märkten beschäftigt und es gab Zusammenarbeit der Menschen untereinander auch über Grenzen hinweg. Wir haben zum Beispiel schon damals tschechische Lkw verwendet, um nach England zu fahren. Die Auswirkungen von Abschottung sind heute nur größer, weil wir auf der Welt inzwischen alle voneinander abhängig sind.

Es heißt Logistics is a people’s business. Ist dieser Satz noch gültig?
Komplett. Das war schon immer so und hat sich nicht verändert. Mein Grundsatz ist deshalb Vertrauen – wobei da auch immer ein gewisser Realismus mitschwingen muss.

Wie stellen Sie Vertrauen her?
Ausschlaggebend ist natürlich immer der erste Eindruck, die menschliche Komponente. Aber danach geht es vor allem durch Beobachten. Man schaut sich den anderen in verschiedenen Situationen an und dadurch baut sich so nach und nach etwas auf, im Normalfall ist das also eine Entwicklung: Vertrauen entsteht durch die Erfahrung, dass Worte in die Tat umgesetzt werden. Und durch viele positive Erfahrungen mit anderen Menschen ist meine Bereitschaft zu vertrauen mit der Zeit gewachsen. Mit Sicherheit bin ich heute jemand, der schnell vertrauen kann.

Für einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin eröffnen sich durch Vertrauen ja mehr Handlungsspielräume …
Ja, aber es bringt auch Verantwortung mit sich und dem wollen die Leute meistens gerecht werden. Wenn ein Handwerker mir erklärt, dass er eine bestimmte Leistung so und so ausführt, dann sage ich ihm, dass ich Vertrauen habe, dass er das schon gut machen wird. Und das wirkt! In der Regel übernimmt er dann nämlich die Verantwortung dafür, dass es auch so kommt. Wenn ich andauernd alle kontrolliere, dann bleibt die Verantwortung immer bei mir. Also, grundsätzlich ist es gut, wenn man Vertrauen schenken kann. Ab und zu einmal nachzufragen, schadet aber nicht, sondern zeigt den Leuten nur, dass man die Sache mit dem Vertrauen realistisch sieht. Natürlich ist mir dabei wichtig, dass die Verantwortung auch akzeptiert wird. Nehmen wir zum Beispiel Yongquan Chen, Landesleiter von Gebrüder Weiss China: Der sagte mir immer, es sei unglaublich, zu welch frühem Zeitpunkt ich Vertrauen in die Entwicklung Chinas hatte. Das hat ihn motiviert und er hat diese Verantwortung
übernommen. Ich glaube, es ist das Wichtigste, jemandem die Chance zur Entwicklung zu geben. Umgekehrt trifft es mich schwer, wenn jemand Verantwortung schleifen lässt. Aber wenn mir einzelne Elemente im Visavis nicht gefallen, dann versuche ich, das zu klären. Meine Frau hat das immer geschickt gemacht: Sie hat sich immer die Zeit für die Leute genommen, die notwendig war. Ich war da manchmal zu eilig.Das merke ich jetzt, wo ich tatsächlich mehr Zeit habe, dass man damit doch zu deutlich besseren Ergebnissen kommt.

Sie meinen Zeit für bessere Lösungen oder Zeit, um sich ein besseres Bild vom Gegenüber zu machen?
Um mit dem Gegenüber wirklich zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen, das in die Richtung führt, in die man will. Klar war das in den vielen Jahren, in denen ich etliche Gespräche führen musste, nicht immer möglich. So manches Mal musste man sich deshalb auch wieder voneinander verabschieden, wenn das nicht geklappt hat.

Als Sie 1968 gemeinsam mit Ihrer Frau das Unternehmen übernommen haben: War das Thema Vertrauen maßgeblich für Ihren Führungsstil?
Maßgeblich war damals in erster Linie der Aufbau einer Struktur. Die hat es gebraucht, damit aus einem Flickenteppich eine Einheit wird. Sie müssen sich vorstellen, Gebrüder Weiss war früher extrem dezentral organisiert. Es gab Niederlassungen in mehreren österreichischen Bundesländern plus eine in Hamburg. Und jede Niederlassung hat eigene Formulare und eigene Berichte gehabt, nichts war einheitlich – mit Ausnahme der Vorarlberger Niederlassungen. Aus dieser Zeit noch, genauer aus dem September 1968, stammt übrigens unser Logo. Das war einer der ersten Schritte, um Dinge zusammenzuführen und zu einem gemeinsamen Auftritt zu kommen, der heute alle Niederlassungen umfasst. Die dezentrale Organisation sollte nicht aufgegeben werden, aber wir wollten die Stärken und die Erfahrung, die es gab, zusammenlegen und besser nutzen. Dafür mussten viele Menschen umdenken und lernen, dass nicht mehr nur die eigene Niederlassung im Vordergrund steht, sondern das Große und Ganze.

Zu dieser Zeit hat sich ja vieles verändert, auch gesellschaftlich. Es gab die Studentenunruhen, die Flower-Power-Bewegung, die Hippies und so weiter. Nun ist Bregenz nicht San Francisco, aber haben diese Entwicklungen Sie trotzdem gestreift?
Zur Flower-Power-Zeit war ich tatsächlich in San Francisco. Meinen Führerschein hatte ich zuvor in Pennsylvania gemacht, wo ich studiert hatte, und musste dann in Kalifornien noch einmal einen Führerschein machen. Während der Fahrprüfung bin ich durch die Gegend gefahren und habe auch genau diesen Park gesehen, wo diese Flower-Girls und Flower-Guys auf den Bäumen saßen – die Stadt hat denen damals gesagt, bitte verteilt euch auf den Bäumen, damit die Bäume nicht kaputtgehen.
Es war ein wunderbares Leben, man hatte immer eine Bottle hinten im Auto, ist zur Küste gefahren und hat den Sonnenuntergang angeschaut. Aber ichgebe zu: Voll eingetaucht bin ich in dieses Leben nicht und ich habe eher zufällig von den Entwicklungen dieser Zeit mitbekommen. Meine eigentliche Aufgabe lag nach dem Tod von Ferdinand Weiss in Bregenz
und die Orientierung war klar. Dort konnten wir gemeinsam mit anderen Menschen etwas formen. Und wir haben uns gesagt, meine Frau und ich, dass wir da durchmüssen und dass wir das schaffen. Die Aufgabe hat uns den Rücken gestärkt, kann man sagen. Denn die Verantwortung war natürlich beträchtlich.

Im WeissBuch steht über Ihre Hochzeit mit Heidi Senger-Weiss ein erstaunlicher Satz: Es gab keinen Polterabend, aber am Vorabend der Hochzeit eine kleine Feier mit dem obersten Management von Gebrüder Weiss, weil der Bräutigam damals das Private mit dem Geschäftlichen verbinden wollte. Die meisten Menschen wollen das Private vom Geschäftlichen trennen, Sie wollten genau das Gegenteil. Was wollten Sie erreichen?
Ich wollte die GW-Familie gründen. Die hat mir schon damals viel bedeutet. Für mich war es außerdem ein Zeichen von Respekt, die Menschen, die mit einem arbeiten, an so einem wichtigen persönlichen Schritt teilhaben zu lassen. Nicht strikt zwischen privater und beruflicher Familie zu trennen, ist sicher ein Kennzeichen der besonderen DNA von Gebrüder Weiss. Und die Identifizierung mit dem Unternehmen war mir immer sehr, sehr wichtig. Ich denke, dass man uns das auch abgenommen hat, das war nie gespielt, es war immer echt.

Haben sich im Rahmen der Expansion auch Schwierigkeiten ergeben, was die Aufnahme neuer Mitglieder in die Unternehmensfamilie angeht? Haben Sie eher auf lokale Manager gesetzt und damit Probleme mit dem Kulturtransfer riskiert oder haben Sie mit der Marke die Manager dazu gleich mit exportiert?
Wenn Sie mich das heute fragen, muss ich sagen, dass wir damals auch Fehler gemacht haben, wen wir in die mittel- und osteuropäischen Märkte hineingegangen sind, zumindest menschlich, in Bezug auf Personaleinsatz. Wir hätten nicht irgendwelche Personen, die aus irgendwelchen Gründen mit den Ländern jeweils eine Verbindung hatten –, die also die Landessprache konnten oder dieselbe Nationalität hatten – nehmen sollen, sondern unsere allerbesten Leute von hier. Ich weiß nicht, ob das dann immer gelungen wäre, aber zum Teil waren das damals gar keine richtigen Manager, die mit Controlling, mit Führung und so weiter gearbeitet haben. Das waren sogar einzelne crooks oder Leute, die sich in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Das haben wir nicht sofort gesehen, irgendwann dann aber doch. Und wir waren nicht die Einzigen, die solche Erfahrungen gemacht haben. Die westeuropäischen Firmen, die das abstreiten, die sagen nicht die ganze Wahrheit. Alle hatten damals dieses Problem, weil sie die Menschen noch nicht richtig kannten. Ich erinnere mich, dass ich bei Wien am Donau- Kanal einmal in einer großen Wirtschaft gesessen habe, zusammen mit den westlichen Niederlassungsleitern. Die haben gesagt, wir helfen denen im Osten, wir zahlen die Verluste, die die da drüben machen,
hineingehen wollte aber keiner. Und die Trendwende, die Menschen dann in die richtige Richtung zu führen, war nicht ganz einfach und hat längere Zeit gedauert. Aber wir haben es geschafft.

Vom Unternehmen einmal abgesehen – womit identifizieren Sie sich noch? Wie würden Sie sich beschreiben? Als Österreicher? Vorarlberger? Waldviertler? Europäer?
Wir wohnen hier in Vorarlberg natürlich in einer ganz wunderbaren Umgebung. Wenn möglich, gehe ich jeden Tag schwimmen im Bodensee, wir können Skifahren und so weiter, die Lebensqualität ist sicher sehr gut. Aber auf der anderen Seite ist Wien mit all der Kultur auch toll und andere Gegenden auch. Wenn ich mich also festlegen muss, dann bin ich in erster Linie ein glühender Europäer.

Frank Haas ist Leiter für Markenstrategie und Kommunikation bei Gebrüder Weiss – und als Chefredakteur verantwortlich für
den ATLAS

Paul Senger-Weiss (Illustration: Shiwen Sven Wang)
Paul Senger-Weiss (Illustration: Shiwen Sven Wang)
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