Wissenschaft

Kein Weg zu weit

Wissenschaft ist mehr als Bibliothek, Computer und Labor. Auch heute noch forschen Menschen an abgelegenen und schwer zugänglichen Orten, denn die spannendsten Erkenntnisse warten im Unbekannten. Drei Geschichten aus einer isolierten Polarstation, labyrinthischen Höhlen und der Tiefe des Meeres.

Die Ärztin Beth Healey hat zu Forschungszwecken in der Antarktis überwintert. (Bild: ESA/IPEV)

Die Telemedizinerin
Wer den Winter in der Forschungsstation Concordia überstanden hat, darf sich mit einem Wegweiser verewigen. In der Werkstatt schnitzt Beth Healey „Hereford: 16.533 Kilometer“ in ihr Schild. Die Britin ist in diesem Moment weiter von ihrem Heimatort entfernt als die Raumstation ISS, sowohl von der Distanz als auch von der Reisedauer. Die Forschungsstation liegt 1.000 Kilometer von der Küste der Antarktis entfernt, auf einem Hochplateau 3.233 Meter über dem Meeresspiegel. Ursprünglich wurde sie für Eisbohrungen errichtet, mit denen das Klima der Vergangenheit erforscht werden kann. Doch Beth Healey überwintert hier 2016 im Auftrag der Europäischen Weltraumagentur. Als Forschungsärztin betreut sie die anderen 12 Crewmitglieder. Vor allem aber untersucht sie, welche Auswirkungen extreme Bedingungen und Isolation auf Körper und Psyche haben. Ihre Erkenntnisse sollen helfen, Marsmissionen vorzubereiten.

Concordia steht an einem der lebensfeindlichsten Orte der Erde, dem sogenannten „Weißen Mars“. Im Winter sinken die Temperaturen auf minus 80 Grad. Im Notfall könnte kein Flugzeug Hilfe bringen, weil Kerosin bereits bei minus 50 Grad friert. Anfang Mai versinkt die Sonne hinter dem Horizont, 105 Tage dringt kein Lichtstrahl zu den Forscherinnen und Forschern. Durch die Höhenlage enthält die Luft ein Drittel weniger Sauerstoff als auf Normalnull. Jeder Gang wird zum anstrengenden Dauerlauf.

Mit smarten Armbändern überwacht Beth Healey die Körperwerte der Crew. Außerdem kann sie nachvollziehen, wer im Gemeinschaftsraum zusammensitzt oder sich selbst noch weiter isoliert. Alltagsbeobachtungen über die Stimmung des Teams protokolliert sie in Videotagebüchern. Schnell wird klar, dass sich Menschen auch nach langer Zeit kaum an die extrem niedrige Sauerstoffversorgung anpassen können. Die Polarnacht zehrt an den Nerven: „Die Dunkelheit ist brutal. Erst wenn die Sonne fehlt, merkt man, wie sehr sie uns sonst mit dem Rest der Welt verbindet,“ sagt Healey. Die Schlafrhythmen der Crew geraten durcheinander. „Zu Beginn war ich vier Nächte am Stück wach.“ Weil alle sich für eigene Forschungsprojekte zurückziehen, ist die Teilnahme an den gemeinsamen Mahlzeiten verpflichtend. „Während die einen frühstückten, nahmen die anderen schon ihr Abendbrot ein“, sagt Healey. „Und immer fühlte es sich an, als äßen wir um 3 Uhr nachts Nudeln.“ Der Appetit schwindet, alle verlieren an Gewicht, werden blasser. „Ich hatte das Gefühl, mein Körper fällt auseinander.“

Die psychische Stabilität des Teams und seiner Mitglieder kann während einer realen Raummission über Leben oder Tod entscheiden. Im Notfall sind Crews dann auf Telemedizinerinnen oder -mediziner angewiesen, die nicht nur die körperliche, sondern auch eine seelische Heilung einleiten können. Diagnose und Behandlung aus der Distanz will Beth Healey weiter erforschen, die Telemedizin voranbringen. Nicht nur, weil es ihr großer Traum ist, irgendwann selbst ins All zu fliegen: „Auf der Erde wohnen viele Menschen weit entfernt von medizinischer Versorgung. Unsere Forschung kann auch ihre Lebensbedingungen verbessern.“

Für Keneiloe Molopyane ein gewöhnlicher Arbeitsplatz, für die meisten anderen unerreichbar: die Rising-Star-Höhlen in Südafrika. (Bild: Mathabela Tsikoane)

Die Paläoanthropologin
Wer den Stammbaum des Menschen erforschen will, stützt sich meist auf Fossilien. Aus ihnen kann man auf Körpergröße, Gehirnvolumen und Lebensweise unserer entfernten Verwandten schließen. Doch vollständige Überreste von Vor- und Frühmenschen werden selten ausgegraben. Oft findet sich nur ein Zahn oder das Fragment eines Schädels. Einzigartig ist deshalb der Schatz, den die Rising-Star-Höhlen in Südafrika bergen. Mehr als 1.500 Fossilien wurden hier, etwa 50 Kilometer nordwestlich von Johannesburg, gefunden. Es sind die Knochen von mindestens 15 Individuen einer zuvor unbekannten Art, die Homo naledi getauft wurde. Darunter ist sogar ein etwa sechsjähriges Kind, dessen fragile Schädelknochen wie durch ein Wunder 250.000 Jahre erhalten geblieben sind.

Es ist kein langer Weg, den Keneiloe Molopyane zurücklegen muss, wenn sie in die beiden Kammern gelangen will, in denen Homo naledi entdeckt wurde: Nur etwa 100 Meter. „Usain Bolt läuft diese Distanz in weniger als 10 Sekunden“, sagt die südafrikanische Paläoanthropologin. „Wir brauchen mindestens 45 Minuten und müssen die ganze Zeit hochkonzentriert sein.“ Der Weg in die Tiefe ist anstrengend und nervenzehrend. Neben Keneiloe Molopyane gibt es nur eine Handvoll Menschen, die es überhaupt durch das Höhlenlabyrinth schaffen. Als die Universität Witwatersrand 2013 das erste Team zusammenstellte, klang die Stellenanzeige so: „Exzellente Paläontologen mit Erfahrung in der Höhlenforschung. Die Personen müssen fit und so klein und dünn wie möglich sein. Sie dürfen nicht klaustrophobisch sein. Erfahrung im Klettern ist ein Bonus.“ Bis heute sind es überwiegend Frauen, auf die alle Kriterien zutreffen: die Underground Astronauts.

Tief in der Höhle müssen sie sich durch einen Spalt zwängen, der als „Superman-Krabbler“ bekannt ist: Sie können ihn nur passieren, wenn sie minutenlang auf dem Bauch vorwärts kriechen, einen Arm eng an den Körper legen und den anderen am Kopf entlang nach vorne strecken, wie Superman im Flug. Später führt eine 12 Meter tiefe, beinahe senkrechte Rutsche in die Fossilienkammer. Der stockdunkle Spalt ist gespickt mit Felsvorsprüngen und verengt sich zu einer 18 Zentimeter schmalen Öffnung. „Ich bin schon sehr oft steckengeblieben“, sagt Keneiloe Molopyane. Ein Moment der Unachtsamkeit, fehlender Schwung beim Einstieg, zu wenig Griff am glitschigen Gestein: „Schon steckt man gefühlt stundenlang fest.“ Gemeinsam versucht das Team dann einen Ausweg zu finden. „Meistens hilft es, im richtigen Moment einzuatmen und den winzigen Schwung des Ausatmens zu nutzen, um sich ein wenig herauszubewegen.“ Allen ist klar: Wer sich verletzt, muss bis zur Genesung unter der Erde leben. Eine Rettung wäre riskanter als die Versorgung in der Höhle.

Endlich angekommen, arbeiten die Underground Astronauts eine sechsstündige Schicht in der Ausgrabungskammer. Manchmal bringen sie auf dem Rückweg sogar noch zerbrechliche Fossilien an die Erdoberfläche, wo sie weiter untersucht werden können. Bis heute wissen die Forschenden zum Beispiel noch nicht, wie Homo naledi vor 250.000 Jahren in die Höhle kam, und warum. „Früher war es üblich, alles für sich zu behalten, sagt Keneiloe Molopyane. „Aber dann würden wir nur unsere eigenen Ideen immer wieder aufkochen. Wissenschaft lebt durch frische Perspektiven.“ Andere Forschende können deshalb auf alle Erkenntnisse zugreifen. So unzugänglich der Fundort ist, so zugänglich soll das Wissen über ihn sein.

Victor Vescovo. (Bild: Discovery / Atlantic Productions / Tamara Stubbs)

Der Tiefseetaucher
6.000 Meter unter dem Meeresspiegel beginnt eine unbekannte Welt. Nur ein Prozent der Ozeane ist tiefer, reicht hinab in eine Zone, die nach dem griechischen Gott der Unterwelt benannt ist: die Hades-Zone. Es ist eine Welt der ewigen Finsternis unter dem Druck kilometerdicker Wassermassen. Erst 1960 gelang es Forschern, an den tiefsten Punkt der Erde vorzudringen: Das Challengertief im Marianengraben, 10.928 Meter unter dem Meeresspiegel. Bis heute schafften es weniger Menschen dorthin als auf den Mond. Selbst die Oberfläche des Mars ist besser vermessen als der Boden der Ozeane. Dabei werden Daten über die Tiefsee immer wichtiger: für die Erforschung des Klimawandels, für den Schutz der Küsten, für die Gewinnung von Energie und Rohstoffen.

Um die Tiefsee zu erforschen, braucht man Geld, modernste Technik und Mut. Der US-Amerikaner Victor Vescovo hat all das. Und er setzt es ein, um seinen Traum zu verwirklichen: Als erster Mensch reiste der ehemalige Marineoffizier hinab zu den tiefsten Stellen aller fünf Ozeane. Für die Expedition „Five Deeps“ umsegelte er zwei Jahre lang die Erde, kreuzte mit seinem 30-köpfigen Team insgesamt 87.000 Kilometer zwischen Arktis und Antarktis und tauchte in Gewässern, die berüchtigt sind für ihr gefährliches Wetter.

Das Team hatte dafür ein besonders sicheres Triton-Tauchboot aus Titan entwickelt, die „Limiting Factor“. Es kann zwei Menschen in die Tiefe bringen, oft tauchte Vescovo aber auch allein. „Es ist eine sehr intensive Erfahrung, die ich genieße“, erklärt er. „Es gibt dann nur mich, die Maschine und die Umgebung.“ Er verbringt bis zu 13 Stunden in der engen Tauchkapsel, begrenzt nur durch den Ladestand der Akkus und seine eigene körperliche Ausdauer. „Klaustrophobisch darf man wirklich nicht sein“, sagt er. „Und man sollte sich dick anziehen: Es wird eiskalt in der Kapsel.“

Die drei Stunden, die Vescovo unten am Meeresboden verbringen kann, sind eine Zeit des Staunens, etwa über die Lebewesen, die sich an diese lichtlose, nährstoffarme Umwelt angepasst haben. Rund 40 neue Arten hat Vescovo bei seinen Tauchgängen entdeckt. „Einige Lebewesen passen in meiner Vorstellung eher auf fremde Planeten als auf die Erde“, sagt er. Die gesamte Zeit filmen hochauflösende Kameras die Umgebung, drei Robotersonden sammeln Wasser- und Bodenproben. „Je mehr wir sammeln, desto größer ist die Chance, dass wir bei den Analysen später etwas Bemerkenswertes finden.“ Die größte Aufmerksamkeit erregte allerdings ein trauriger Fund: Auf dem Boden des Marianengrabens, in fast 11.000 Metern Tiefe, entdeckte er Müll. „Natürlich war ich unglaublich ernüchtert. Noch viel mehr beunruhigt mich aber das, was ich nicht sehen konnte: Mikroplastik ist in jedem Ozean, jeder Tiefe, jeder Nahrungskette.“

Mit seinen spektakulären Expeditionen macht Victor Vescovo auf die Verletzlichkeit der Meere aufmerksam. Alle gesammelten Daten stellt er für die Forschung frei zur Verfügung. Sein Team sondiert weiterhin jeden Monat zehntausende Quadratkilometer der Tiefsee und unterstützt damit das Projekt „GEBCO 2030“. Sein Ziel: die lückenlose Kartierung des Meeresbodens.


Stefanie Hardick schreibt als freie Journalistin über Wissenschaft und historische Themen.

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