Kasachstan
Ein weißer Fleck auf der Neuen Seidenstraße
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Edda Schlager
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Das zentralasiatische Land ist nicht nur das größte Binnenland der Welt, es liegt von allen Weltmeeren auch am weitesten entfernt – mittendrin eben. Und deshalb ist es als Drehscheibe für den internationalen Handel im Rahmen der „Belt and Road Initiative“ zunehmend bedeutender.
Manchmal kommen die Züge aus China zu spät. Dann warten die Arbeiter am Dry Port in Khorgas an der Grenze zwischen Kasachstan und China ungeduldig, bis irgendwann aus der Ferne das Signal ertönt und sich ein Zug durch lautes Hupen ankündigt. Auf dem letzten Stück rollen dann die Waggons mit Dutzenden von Containern langsam über das Gleis, bis sie schließlich an einem der Prellböcke mit der chinesischen Flagge zum Stehen kommen.
Drei riesige Portalkräne überspannen im Dry Port mehrere parallel nebeneinander liegende Gleise. Mit ihrem gelben Anstrich, der sich leuchtend gegen den meist blauen Himmel hier im äußersten Osten Kasachstans abhebt, sind sie mittlerweile das schnell erkennbare Markenzeichen von Khorgas geworden, einem der wichtigsten Waren-Umschlagspunkte zwischen Ost und West. Einige der Gleise sind 1435 Millimeter breit für die aus China kommenden Züge, die anderen, deren Prellböcke die kasachische Fahne tragen, sind 1524 Millimeter breit und verlaufen von hier aus gen Westen, hinein nach Kasachstan. Wegen der unterschiedlichen Spurbreite werden die Container in Khorgas von den chinesischen auf kasachische Züge umgeladen, um ihre Reise weiter in Richtung Europa fortzusetzen. Kasachstan, das bis 1991 zur Sowjetunion gehörte, hat die gleiche Spurbreite wie Russland und die meisten anderen Ex-Sowjetrepubliken, China dagegen dieselbe wie Europa.
Khorgas ist einer von zwei Grenzpunkten zwischen Kasachstan und China. Hier werden Waren umgeschlagen, die von Lianyungang oder Chengdu kommend weiter in Richtung Kaspisches Meer und von dort bis nach Hamburg transportiert werden. Rund 200 Kilometer nordöstlich, am Grenzübergang Dostyk – Alashankou, werden Waren aus Zhengzou, Shenzhen und Chengdu abgefertigt, die über Kasachstan, Russland und Polen auf der Nordroute weiter nach Deutschland und Europa gelangen.
In den vergangenen Jahren ist Kasachstan ein wichtiges Transitland auf der Neuen Seidenstraße geworden, dem gewaltigen Infrastrukturprojekt, das 2013 von China ins Leben gerufen wurde. Von China aus sollte, angelehnt an die historische Seidenstraße aus dem Mittelalter, ein Transportkorridor quer über den eurasischen Kontinent Asien und Europa verbinden. Die Zeit, in der Waren von China nach Europa gelangen, verkürzte sich so deutlich, von 45 Tagen übers Meer um Indien herum auf 16 Tage auf dem Landweg.
Sowohl das Autobahn- als auch das Schienennetz wurden in Kasachstan seitdem stark ausgebaut. Doch egal, welches Verkehrsmittel man nutzt, die Reisewege sind hier gewöhnlich ausgesprochen lang. Denn Kasachstan ist das neuntgrößte Land der Erde. Es erstreckt sich von der chinesischen Grenze über 3.000 Kilometer bis zum Kaspischen Meer. Wer von Khorgas bis nach Aktau, der wichtigsten Hafenstadt Kasachstans ganz im Westen des Landes am Kaspischen Meer, reisen will, ist – bei guter Verbindung – mit der Bahn zweieinhalb Tage unterwegs und durchkreuzt dabei zwei Zeitzonen. Und er lernt ein faszinierendes Land zwischen Orient und Okzident kennen, das in Europa meist als weißer Fleck auf der Landkarte wahrgenommen wird.
Von Khorgas kommend kreuzen Züge die Turkestan-Sibirischen Eisenbahn, kurz Turksib. Seit ihrer Fertigstellung im Jahr 1931 verbindet sie Russland mit den zentralasiatischen Republiken. Rund 2.350 Kilometer lang ist die Turksib und verläuft vom russischen Nowosibirsk bis nach Arys in der Nähe von Shymkent im Süden Kasachstans. Sie bindet die bis heute wichtigen Bergbaustädte Semei (früher Semipalatinsk) und Öskemen (früher Ust-Kamenogorsk) im äußersten Nordosten Kasachstans an den Rest des Landes an. Nicht auf der Strecke der Turksib, sondern 700 Kilometer westlich, umgeben von weiter Steppe, liegt die Hauptstadt Kasachstans – Nur-Sultan. Die Stadt wurde mehrfach umbenannt, stets aus politischen Gründen, um ein jeweils neues Zeitalter in der Geschichte Kasachstans zu markieren. Bis 1991 hatte sie Zelinograd geheißen, wurde dann anlässlich der 1991 erlangten Unabhängigkeit in Aqmola umbenannt. Und nachdem die Stadt zur neuen kasachischen Hauptstadt ernannt worden war, bekam sie wieder einen neuen Namen – Astana. Seit 2019 heißt die Millionenstadt nun Nur-Sultan, zur Ehrung des langjährigen Präsidenten Nur-Sultan Nasarbajew, der 2019 zurückgetreten ist.
Entgegen der weitverbreiteten Meinung wurde die kasachische Hauptstadt keineswegs erst in den vergangenen 30 Jahren „aus dem Boden gestampft“. Tatsächlich besteht sie nur zur Hälfte aus einem komplett neu erschaffenen, modernen Stadtteil am Südufer des Flusses Ishym. Hier hat unter anderem der britische Architekt Sir Norman Foster seine Spuren hinterlassen und beispielsweise das Einkaufszentrum Khan Shatyr entworfen, hier stehen der Präsidentenpalast, der Aussichtsturm Baiterek und das Gelände der Expo-2017, das heute das Finanzzentrum des Landes beherbergt. Am Nordufer des Ishym jedoch erinnert Nur-Sultan noch immer an eine kleine graue Provinzstadt, die inmitten der riesigen, flachen Steppe den eisigen Schneestürmen und der unerträglichen Hitze zu widerstehen sucht.
Für viele Kasachen ist jedoch bis heute die frühere Hauptstadt Kasachstans das kulturelle Zentrum des Landes: Almaty, das frühere Alma-Ata, liegt rund 1.200 Kilometer weiter südlich von Nur-Sultan. Mit dem Zug dauert die Fahrt zwischen Almaty und Nur-Sultan fast einen ganzen Tag, oder, wenn man die schnellen Talgo-Züge nimmt, „nur“ zwölf Stunden. Wenn man dann meist am Morgen in die Stadt einfährt, türmen sich vor einem die bis zu 5.000 Meter hohen Berge des Tien-Shan-Gebirges auf, an dessen Füße sich die Zwei-Millionen-Metropole schmiegt. Almaty hat ein fast mediterranes Flair, gilt als modern und trotzdem grün, mit einem angenehmen Klima aus heißen, trockenen Sommern und mäßig kalten Wintern.
Theater, Klubs, das Opernhaus, Dutzende Parks und hunderte Restaurants lassen Einwohner und Gäste die ganz besondere Atmosphäre eines modernen Landes zwischen europäischem und orientalischem Lifestyle spüren. Rund 120 verschiedene Ethnien leben in Kasachstan, neben Kasachen auch Russen, Ukrainer, Türken, Koreaner, Uiguren, Deutsche und viele andere Nationen. Kasachstan ist ein Vielvölkerstaat. Moscheen, Kirchen und Synagogen stehen hier genauso friedlich nebeneinander, wie die Streetfood-Stände am Grünen Basar, wo es Manty, Piroschki und Samsa, mit Fleisch gefüllte gedämpfte, frittierte oder im Lehmofen gebackene Teigtaschen gibt, scharfe koreanische Salate, wo ganze Rinder- und Pferdehälften von der Decke hängen und Plov, ein opulentes Reisgericht mit Fleisch, Mohrrüben, Kichererbsen und Berberitzen aus großen, direkt über dem Feuer stehenden gusseisernen Pfannen verkauft wird.
Die Kasachen, die heute rund zwei Drittel der Bevölkerung des Landes ausmachen, sind ein ehemaliges Nomadenvolk. Und obwohl sie mit der Industrialisierung Kasachstans gezwungen waren, das nomadische Leben aufzugeben, sind vor allem in den ländlichen Regionen die Spuren davon noch zu sehen. Da stehen Jurten, die Filzzelte der Nomaden, zwischen gemauerten Häusern und in den Sommermonaten finden auf den Dörfern wilde Reiterspiele statt. Von Almaty aus verlaufen sowohl eine Autobahn als auch eine Eisenbahnlinie als wichtiger Ost-West-Korridor Kasachstans und Teil der Neuen Seidenstraße in Richtung Kaspisches Meer.
Vor allem das Zugfahren ist in Kasachstan ein ganz eigenes besonderes Erlebnis, richten sich die Menschen doch für die tagelange Reise oft häuslich ein. Kurz nach der Abfahrt schlüpfen sie in Jogging-Hosen und Hausschuhe und machen es sich in den Abteilen mit den Doppelstockliegen so gut es geht gemütlich. Jeder Waggon hat zwei eigene Schaffner, die sich im Dienst abwechseln und regelmäßig den großen Boiler an einem Ende des Waggons kontrollieren, damit es stets heißes Teewasser gibt. Stundenlang geht es dann durch die flache Steppe. Egal zu welcher Jahreszeit sieht man Viehhirten zu Pferd, die ihre Schaf- und Kuhherden gemächlich zum nächsten Dorf treiben. Pferdeherden weiden zu Füßen der Hunderte Kilometer langen Bergkette. Die Fahrt führt an Turkestan vorbei, das mit dem von einer blauen Kuppel gekrönten Mausoleum von Hodscha Ahmad Yasawi, einem Gelehrten des Mittelalters aus der Timuriden-Zeit, an Märchen aus Tausend und einer Nacht erinnert, und am russischen Weltraumbahnhof Baikonur. Mit etwas Glück sieht man eine der Abschussrampen, von denen Passagier- oder Lastraketen ins All geschossen werden.
Kurz vor dem Ziel in der Küstenstadt Aktau hat sich die Steppe in Wüste verwandelt, statt Pferden sieht man hier Kamele neben Autobahn oder Bahngleisen stehen. Und die langsam wippenden Ölpumpen weisen auf den großen Reichtum Kasachstans an Bodenschätzen hin. Das Land hat riesige Lagerstätten an Erdöl, Erdgas, Kupfer, Kohle, Uran und vielem mehr. In Aktau, rund 3.000 Kilometer von Khorgas entfernt, endet der kasachische Teil der Neuen Seidenstraße. Viele der hier ankommenden Waren werden von Zügen auf Schiffe umgeladen. Von hier aus geht es über das Kaspische Meer, durch den Südkaukasus, das Schwarze Meer weiter bis nach Europa. Doch das ist eine andere Geschichte.