Hartmut Rosa im Gespräch
Gefahr aus nächster Nähe
Viele Menschen haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass die Verbindungen mit der Welt loser geworden sind – man geht den gewohnten Hobbys nicht mehr so intensiv nach wie früher oder trifft seltener Freundinnen und Freunde. Stattdessen greift ein Gefühl der Stumpfheit und der Entfremdung um sich, was eine Theorie von Hartmut Rosa stützt: Für ein gelingendes Leben sei es absolut erforderlich, so der Soziologe, dass wir unsere Umwelt wahrnehmen und uns auf sie einlassen – ohne über sie verfügen zu wollen. Kurz: Dass wir mit ihr in Resonanz treten. Was aber, wenn die Bereitschaft dazu etwas eingerostet ist? Frank Haas hat sich mit Hartmut Rosa über Entschleunigung, soziale Interaktionen und die Folgen von Social Distancing unterhalten.
Herr Rosa, die Menschheit hat nun schon zwei Jahre hinter sich, in denen wir stark auf Abstand zueinander gehen mussten und das sogenannte Social Distancing ist normal geworden. Was hat das mit uns gemacht?
„Social Distancing“ ist eigentlich der falsche Begriff. Man wollte die Leute ja nicht sozial auseinander bringen, sondern räumlich. Mittlerweile aber ist schon auch eine echte Social Distance eingezogen, eine soziale Distanz zum anderen, insbesondere, was die körperliche Begegnung angeht, also, dass der andere potenziell als Gefahr wahrgenommen wird. Man hat direkt körperlich das Gefühl, da ist eine Bedrohung, wenn man in die Nähe von Menschen kommt. Und interessanterweise hat sich auch unser Raumsinn geändert. In den Lockdown-Phasen ist ein neuer Ausnahmemodus entstanden: das Gefühl, dass sich die Welt in konzentrischen Kreisen um uns herum aufbaut. Früher war das der Normalmodus. Die Wohnung war der Mittelpunkt, das war unsere Welt, dann kam der Garten und die Straße bis zum Laden, alles eng und vertraut. Dahinter lag der Dorfrand oder, je nachdem, wo man lebte, der Wald, die Berge, das alles war noch erreichbar. Dahinter wiederum wurde es immer diffuser und London und New York waren überhaupt nicht erreichbar, sondern unverfügbar. Früher war es nicht normal, dass man dachte, nächstes Wochenende bin ich in Wien, danach habe ich noch diesen Termin in Innsbruck und die Welt ist wie ein Atlas, der vor mir liegt und auf dem ich mich bewege. Das hat sich während der Pandemie wieder geändert.
Obwohl wir uns jetzt in einer Phase befinden, in der die Infektionszahlen sinken und die Hoffnung auf eine Normalisierung keimt, habe ich persönlich mittlerweile ein Gefühl von Welthemmung. Ich bekomme zwar endlich wieder Einladungen, denke aber, dass ich eigentlich gar nicht mehr so richtig mag. Können Sie das nachvollziehen?
Das kann ich nicht nur nachvollziehen, das kann ich auch erklären. Was Sie mit Welthemmung meinen, ist die Beobachtung, dass eine Art von Distanz zwischen mir und der Welt eingetreten ist. Ich hatte schon im Mai 2020 den Eindruck, dass sich dieses Gefühl wie Mehltau über die Gesellschaft legt. Viele Menschen berichteten, dass man Einladungen gar nicht mehr unbedingt annehmen will, oder dass man denkt „Ich könnte zwar den oder die mal wieder anrufen und mit ihm oder ihr reden – aber ich hab irgendwie keine Lust darauf“. Wo kommt das her? Mir ist aufgegangen, dass man zunächst Energie braucht, um sich in die Interaktion mit der Welt zu stürzen. Das gilt übrigens für alle Arten von Interaktion, auch zum Beispiel für das Rausgehen, wenn die Sonne scheint. Da denkt man ja auch schnell „Eigentlich habe ich keine Lust, ich bin zu müde oder zu abgeschlafft oder zu lustlos, ich bleibe lieber auf dem Sofa“. Die Energie kommt aber durch die Aktivität, die ist nicht einfach in mir, und das gilt insbesondere für soziale Interaktion. Und je weniger soziale Interaktion stattfinden, desto weniger scheinen Menschen das Bedürfnis danach zu haben. Das wissen wir aus der Einsamkeitsforschung. Wenn Menschen lange genug allein sind, haben sie irgendwann gar kein Bedürfnis mehr, mit anderen zu reden. Die Anderen werden dann genau zu dem, was wir schon besprochen haben, nämlich zur Gefahr oder zum Krafträuber. Und erst, wenn man sich überwindet und trotzdem wieder in die Volleyballgruppe geht oder in den Chor, oder wo immer man sein mag, dann stellt man fest, was man die ganze Zeit vermisst hat und wie sehr wir solche Begegnungen als Lebenselixier brauchen. Das, was uns zusammen hält und uns wechselseitig Energie und Kreativität verleiht, ist durch die Pandemie zum Erliegen gekommen. Und ich glaube, wir können es nur überwinden, indem wir diese Dinge wieder aufnehmen und hingehen, obwohl wir keine Lust dazu haben. Es ist die alte Sache mit dem Schweinhund.
Sie selbst sind während der Pandemie zu einem sehr gefragten Gesprächspartner geworden, weil Ihre Philosophie offenbar gerade einen Nerv trifft. Wie sehen Sie das?
Ja, ein bisschen ist das so, aber ich habe das in keiner Weise vorausgesehen. Corona hat ja zwei Seiten: Die eine ist das Virus und was es mit uns körperlich macht. Die andere Seite ist, wie wir als Gesellschaft darauf reagieren und welche Politik, welche Maßnahmen wir dabei erfahren. Im Zusammenhang mit diesen beiden Seiten hat die Corona-Zeit alle meine drei Forschungsdimensionen in den Vordergrund gestellt – Beschleunigung, Resonanz und Verfügbarkeit. Zunächst war nur Beschleunigung mein großes Thema und das ist ja auch für ein Logistikunternehmen interessant. Seit Gründung von Gebrüder Weiss 1474 hat die kinetische Unruhe – damit meine ich die materielle, physische Bewegung auf der Welt –ununterbrochen zugenommen. Selbst in Rezessionsphasen war das so und erst recht in Kriegsphasen, wo ja ganz viel in Bewegung gesetzt wird. Es geht mir dabei aber nicht um Spitzengeschwindigkeiten, sondern darum, wie viel Materie, also wie viele Menschen, wie viele Waren, wie viele Rohstoffe zu einem bestimmten Zeitpunkt insgesamt weltweit unterwegs sind. Und da stellen Sie fest, dass dieses Volumen und die Durchschnittsgeschwindigkeit eigentlich immer weiter zugenommen hat. Dieses Welt-in-Bewegung-setzen ist mit Flugzeugen noch deutlich verschärft worden und inzwischen schickt Elon Musk irgendwie 30.000 Satelliten ins Weltall, das muss man sich mal vorstellen! Und die Corona-Krise hat diese Bewegung zum ersten Mal massiv angehalten oder sogar umgedreht. Bis zu 95 Prozent des Flugverkehrs blieb am Boden, der innerstädtische Verkehr ist um bis zu 80 Prozent zurückgegangen, der auf Autobahnen um bis zu 50 Prozent, das ist eigentlich irre! Die Welt so anzuhalten, um ein Virus auszubremsen! Das war eine radikale Entschleunigung, die Sie sogar seismografisch messen konnten. Das gilt vielleicht nicht, wenn man im Gesundheitswesen tätig ist, und auch nicht, und wenn man digitale Software oder Hardware herstellt, aber insgesamt ist für sehr, sehr viele plötzlich das Lebenstempo gesunken und die Kalender haben sich geleert statt gefüllt.
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und hat seit 2002 eine Gastprofessur an der New School University in New York. Im Rahmen seiner »Soziologie des guten Lebens« hat er das soziologische Konzept der Resonanz beschrieben, bei dem Körper und Seele beziehungsweise Mensch und Umwelt so miteinander in Einklang gebracht werden, dass sie sich gegenseitig anregen und eine Schwingung entsteht. (Bild: Jürgen Scheere)
Die normale Erfahrung war zuvor, dass jede noch so kleine Lücke im Kalender irgendwie zugeschrieben wird – durch einen privaten Termin, einen Arzttermin, einen Termin beim Steuerberater, egal durch was. Und auf einmal wird der Geschäftstermin abgesagt, die Schulfeier fällt aus, die Hochzeit und die Party auch, die Theaterkarten werden storniert. Menschen haben im großen Maße Entschleunigung erfahren, und da gab es dann die Idee, dass wir jetzt neue Resonanzerfahrungen machen, wenn wir endlich Zeit dafür haben. Manche haben vielleicht gedacht, sie würden endlich Wagner hören oder Klavier spielen, und dann mit dem Instrument eine Resonanzbeziehung eingehen. Oder sie würden anfangen zu kochen, anstatt sich immer nur Tiefkühlpizza zu machen - Kochen ist eine elementare Weltbeziehung. Oder endlich gärtnern. Und jetzt hatten die Menschen also die Gelegenheit, alles das zu tun, und viele haben festgestellt, dass es so einfach gar nicht ist. Man kann eine Resonanzachse nicht ohne Weiteres anknipsen. Insofern war die Corona-Zeit auch eine Phase der Desillusionierung.
Und das dritte Thema ist die Unverfügbarkeit. Sehr viel von der Welt ist unverfügbar geworden und die Kernthese in meinem Buch dazu ist, dass gerade unser Versuch, die Welt in allen Hinsichten beherrschbar zu machen, monströse Unverfügbarkeit hervorruft. Die Finanzmärkte sind beispielsweise unverfügbar geworden, weil eigentlich keiner mehr weiß, wie die genau ticken. Das ist ein hochexplosives Geschehen, in vielerlei Hinsicht. Und auch digital erreichbar gemachte Welt kann unverfügbar werden, wenn einfach das Internet ausfällt oder der Akku leer ist. Auch die Covid-Krise hat die Welt radikal unverfügbar gemacht, insofern ist es tatsächlich so, dass alle meine drei Themen einen massiven Boost durch diese Krise erlebt haben.
Nicht nur einen Boost, sondern auch Bestätigung. Und unsere Wünsche und unsere Hoffnungen, die wir am Anfang der Pandemie hatten, haben sich in der Regel nicht erfüllt, weil uns die Energie dafür gefehlt hat.
Ja, Covid hat die Resonanzdrähte zum Teil richtig angehalten. Mein nächstes Buch will ich deshalb über Energie schreiben, weil wir in den Sozialwissenschaften kein Konzept davon haben, was echt seltsam ist. Wir denken Energie immer physisch und dafür haben wir gute Konzepte in der Physik oder in der Chemie, also in den Naturwissenschaften. Allenfalls denken wir Energie noch psychisch und sprechen von Antriebsenergie und Motivationsenergie. Aber es ist ganz unklar, was das eigentlich ist. Und meiner Auffassung nach darf man Energie nicht einfach nur als einen individuellen Besitz verstehen, sondern als etwas zwischen mir und der Welt. Ich möchte allerdings eine Einschränkung machen: Ganz viele Leute berichten – und das ist auch meine eigene Erfahrung gewesen – dass es eine sehr verlässliche Resonanzachse gibt, die in der Krise einen richtigen Boom erlebt hat: die Natur. Wenn die Welt gefährlich wird und soziale Beziehungen nicht mehr so gehen, dann ist Rausgehen in die Natur ein resonantes Geschehen, in dem wir uns lebendig fühlen und Energie zurückgewinnen.
Und nun schlittert die Welt aber von der einen Krise in die nächste, wenn wir auf die Weltpolitik schauen. Sehen Sie da einen Zusammenhang? Sie haben eingangs das Phänomen beschrieben, den Anderen plötzlich als Gefahr wahrzunehmen.
Ich glaube, man muss vorsichtig sein, da kausale Verbindungen herzustellen. Aber wenn Sie mich als Soziologen fragen, dann möchte ich schon meinen, dass Corona zwei Dinge bewirkt hat: Zum einen hat die Pandemie unser Weltverhältnis prekarisiert, das heißt, wir trauen der Welt und dem Leben nicht mehr so ohne Weiteres. Wie gesagt, der andere wird zur Gefahr, sobald er mir zu nahekommt. Genau genommen, hat die Corona-Krise uns gelehrt, das man seinem Nächsten nicht trauen kann. Sogar ein Freund könnte einen umbringen, wenn er das Virus weitergibt und man selbst entsprechend vorbelastet ist. Und nicht einmal sich selbst und den eigenen Sinnen kann man mehr trauen, denn man sieht das Virus nicht, man hört es nicht, man riecht es nicht und kann trotzdem bereits damit infiziert sein und andere anstecken. Und dieses Gefühl generalisiert sich auch in die Politik, viele haben das Gefühl, dass man auch der Politik nicht trauen kann. Das schafft, so glaube ich, eine Grundbeziehung zur Welt, die von Angst und von Misstrauen geprägt ist. Die Kehrseite davon ist, dass die Menschen sauer werden, wenn sie nicht mit der Welt in Resonanz treten können. Die Welt soll dann entweder resonant gemacht werden oder bitte verschwinden. Das Verhältnis von Angst und Wut ist meiner Meinung nach etwas, das politische Konflikte kennzeichnet und beflügelt. Man misstraut einander, man hat das Gefühl, der Andere wird zur Bedrohung und zum Feind, den man am besten zum Schweigen bringen sollte. Allerdings gab es diesen Prozess auch schon vor der Pandemie. Schauen Sie sich die politische Kultur an, das kann man überall beobachten, zum Beispiel bei Brexit-Befürwortern und Brexit-Gegnern, die angefangen haben, sich zu beschimpfen, oder in den USA, wo Trump-Anhänger und Demokraten nicht einfach nur unterschiedlicher Meinung sind, sondern sich inbrünstig hassen. In Europa sind es vielleicht gerade die Impf-Befürworter gegen die Impf-Gegner. Wenn Menschen das Gefühl haben, die Welt sei eine Bedrohung, dann entsteht Wut. Und an die Stelle von echtem Dialog tritt eine Art Statement-Politik, wo man sich nur noch überbieten will und dem anderen zeigen muss, dass man noch härter ist und noch konsequenter im Abbügeln aller Arten von von Verbindungen. Ich glaube, dass das in die Katastrophe führt und ich hoffe, dass wir alle da möglichst bald umlernen.