Der erste Mensch am Nordpol

Der Gütige am Nordpol

Vor 133 Jahren brach ein Expeditionsteam auf, um den nördlichsten Punkt der Erde zu erreichen. Mit dabei war der Afro-Amerikaner Matthew Henson. Gut möglich, dass er der erste Mensch am Nordpol war.

Matthew Henson. (Bild: Wikimedia Commons)

Es ist 1887, als Matthew Henson in einem Hutgeschäft auf einen Mann trifft, der sich als Robert Peary vorstellt. Dieser sucht einen Assistenten für seine Reisen. Henson willigt ein, nicht wissend, dass er zwei Jahrzehnte später mit jenem Mann 665 Kilometer Marsch bestreiten wird, bis sie glauben, auf dem nördlichsten Punkt der Erde zu stehen.

Matthew Alexander Henson kommt am 8. August 1866 in Maryland zur Welt, in einer für einen Afro-Amerikaner aufwühlenden Zeit, der Bürgerkrieg ist erst ein Jahr vorbei. Nach dem Tod der Eltern wird Henson mit 12 Jahren Kabinenjunge auf dem Schiff Katie Hines und bereist Europa, Asien und Afrika. Als er nach Washington D.C. zurückkehrt, begegnet der mittlerweile 21-jährige Henson dem zehn Jahre älteren Robert Edwin Peary, einem Ingenieur der US-Marine. Für die nächsten zwei Jahre begleitet Henson Peary nach Nicaragua und hilft ihm bei Vermessungsarbeiten. Henson muss Peary sehr beeindruckt haben, denn er heuert ihn für sein nächstes Vorhaben wieder an – für diese Zeit eher untypisch. Doch Peary hat ein ehrgeiziges Ziel, das ihn die gesellschaftlichen Konventionen im Umgang mit Afro-Amerikanern vorerst ignorieren lässt: Er will als erster Mensch den Nordpol erreichen.

Für das Expeditionsteam ist Henson von unschätzbarem Wert: Mit seinen Fähigkeiten als Handwerker baut und wartet er die Schlitten. Von den Inuit lernt er, wie man in der Arktis überlebt. Er wird ein begnadeter Hundeschlittenfahrer: „[Henson] kann besser mit einem Schlitten umgehen und ist wahrscheinlich ein besserer Hundeführer als jeder andere lebende Mann, mit Ausnahme einiger der besten Eskimo-Jäger selbst“, schreibt Peary über ihn. Henson adaptiert nicht nur die Strategien der Inuit, er lernt auch ihre Sprache und Lebensweise – und wird zu ihrem Freund. „Mahri Pahluk“ nennen sie ihn: Matthew der Gütige.

Gemeinsam unternehmen Henson und Peary ab 1891 mehrere Expeditionen nach Grönland mit Anläufen zum Nordpol, die jedoch erfolglos bleiben. Zu brutal ist die Arktis mit Temperaturen von 50 Grad unter null. Bei einem der Versuche verliert Peary acht Zehen. 1908 wollen sie es ein letztes Mal wagen: Mit dem Schiff Roosevelt kommen sie im September in Ellesmere Island an und verbringen dort den langen arktischen Winter mit der Lagerung von Vorräten. Ende Februar 1909 ist es so weit, das Team aus 24 Männern, 19 Schlitten und 133 Hunden verlässt das Festland und betritt den gefrorenen arktischen Ozean. Vor ihnen wartet ein ca. 665 Kilometer langer Marsch zum Pol.

In den ersten Tagen kommen sie kaum voran. An den Küsten staut sich Packeis zu meterhohen Bergen. Das Eis bricht immer wieder es driftet weg, manchmal bis zu zehn Kilometer Richtung Süden, weg vom Pol. Offene Wasserrinnen behindern den Weg, der Wind schneidet ins Gesicht, Schneestürme zerren an Kräften und Psyche der Expediteure. „Wir überquerten mehrere, meist zugefrorene Rinnen und waren über zwölf Stunden unterwegs. Die Kilometerleistung war gering, und statt Freude empfand ich Entmutigung. Ich war so erschöpft wie noch nie,“ schreibt Henson später in seiner Autobiografie. Ab der dritten Woche wird die Route einfacher.

Auf dem Weg schickt Peary nach und nach Teammitglieder zurück – eine übliche Taktik damals. Er nutzt erst ihre Arbeitskräfte und spart später ihr Transportgewicht. Niemand kann sich sicher sein, dass er am nächsten Tag noch mit dabei ist. Als wieder einer gehen muss, schreibt Henson: „Mein Herz hörte auf zu klopfen, ich atmete leichter, und mein Geist war erleichtert. Ich war noch nicht an der Reihe, ich durfte weitergehen.“ Am 1. April, kurz vor dem 88. Breitengrad, schickt Peary zum letzten Mal einen Mann zurück. Es ist Kapitän Bartlett, der beste Navigator des Teams. Diese Entscheidung wird später viele Fragen aufwerfen.

Am Ende sind es noch Peary, Henson und vier Inuit: Ootah, Egingwah, Seegloo und Ooqueah. Sie legen die verbliebenen 240 Kilometer im rekordverdächtigen Tempo zurück, Henson als Hundeschlittenführer fährt vor. Am 6. April schätzt er, dass sie angekommen sind, und macht Halt. „Ich spürte, dass das Ende unserer Reise gekommen war.“ Peary trifft eine dreiviertel Stunde später ein. Für viele ist das der Hinweis, dass womöglich nicht Peary, sondern Matthew Henson als Erster den Nordpol erreicht hat. Am nächsten Tag, als sich der Nebel lichtet, bestätigt Peary mit seinen Berechnungen ihre Position. Es ist geschafft! Die Männer hissen die US-Flagge und machen Fotos. Erst Tage später vermerkt Peary auf einem losen Zettel: „Endlich der Pol. Der Preis dreier Jahrhunderte, mein Traum und Ziel seit 23 Jahren.“ Auf dem Rückweg spürt Henson, dass Peary sich von ihm distanziert. „Von dem Moment an, als ich Commander Peary sagte, dass ich glaubte, wir stünden auf dem Pol, hörte er offenbar auf, mein Freund zu sein", erzählt Henson später. In den USA bricht Peary abrupt den Kontakt zu ihm ab.

In den Wochen darauf wird es kurios: Eine seltsame Geschichte droht ihren Triumpf zu zerstören. Der Abenteurer Frederick Cook behauptet, er sei schon am 21. April 1908, also ein Jahr früher als Peary, am Nordpol gewesen. Es kommt zum bitteren Streit. Was die Beweisführung so schwierig macht, hat mit der Besonderheit des geographischen Nordpols zu tun. Er hat keinen Fixpunkt auf einer festen Landmasse, da sich die Eislandschaft in der Arktis ständig verändert. Wer auch immer beansprucht dort gewesen zu sein, muss eine präzise Dokumentation der Route und genaue Positionsangaben vorweisen. Sowohl in Cooks als auch in Pearys Expeditionstagebüchern gibt es auffällige Lücken und nachträgliche Änderungen, keiner der beiden hat am Ziel einen Navigationsexperten an der Seite, der ihre Position bestätigen kann. Neue Untersuchungen zeigen: Zumindest das Team von Peary und Henson ist innerhalb eines Radius um den Nordpol gewesen. Im besten Fall haben sie den Nordpol tatsächlich erreicht, im schlechtesten Fall waren sie 111 Kilometer entfernt.

Wer auch immer der Erste am Nordpol gewesen ist, sie alle haben Unglaubliches geleistet. Sie haben hunderte Kilometer Distanzen überwunden und die Grenze des menschlich Erreichbaren erweitert. Sie haben neue Strategien und Techniken getestet, Daten für die Wissenschaft gesammelt. Und für Henson gilt: Ohne ihn und die Inuit wäre die Expedition nicht weit gekommen, geschweige denn erfolgreich gewesen. Ihre Rolle war entscheidend.

Doch diese Tatsache wird von der weiß dominierten Gesellschaft lange ignoriert. Nach etlichen Untersuchungen erklärt die National Geographic Society Robert Peary zum alleinigen „Entdecker“ des Nordpols. Er bekommt die Medal of Honor für seine Verdienste und zahlreiche Auszeichnungen. Und Matthew Henson? Für den afro-amerikanischen Polarreisenden gibt es zunächst keine Medaille und keinen Aufstieg in hochangesehene Geogesellschaften. Henson arbeitet als einfacher Angestellter im Zollamt und lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen. Erst nach dem Tod von Peary und mit dem Einsatz vor allem der afro-amerikanischen Community wird seine Geschichte mehr gehört – und seine monumentale Leistung endlich anerkannt.


Thuy Anh Nguyen wurde 1988 geboren und arbeitet als freie Redakteurin und Social-Media-Managerin mit Schwerpunkt Wissenschaft. Außerdem macht sie Medienprojekte mit Jugendlichen zu Diversität, Empowerment und Post-Migration.

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