Medizinische Versorgung
Das Herz von Australien
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Michael Amendolia
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Das Risiko an einer Herzkreislauf-Erkrankung zu sterben, ist in Australiens abgelegenen Regionen fast doppelt so hoch wie in den Großstädten. Vor allem weil der Weg zu Diagnose und Behandlung weit ist. Medizinische Versorgung per Sattelschlepper ist da eine Möglichkeit.
“Diese Ungleichheit dürfen wir nicht einfach tolerieren”, sagt Dr. Rolf Gomes, “wir müssen die Versorgungskette in Ordnung bringen – weil wir es können.” Der Kardiologe aus Brisbane ist kein Mensch, der fordert und jammert, er ist jemand, der Probleme löst. Als Assistenzarzt war er viel in den ländlichen Gegenden von Queensland unterwegs, einem Bundesland, in dem fünf Millionen Menschen auf einer Fläche leben, die mehr als viermal so groß ist wie Österreich und Deutschland zusammen. Täglich erlebte er, wie Ärztinnen und Ärzte mit beschränkten Mitteln arbeiten mussten. Er ließ sich in der Landeshauptstadt Brisbane nieder, doch die Menschen im Outback vergaß er nicht. Er sah sich in seiner Praxis um: Laufbänder, Ultraschallgeräte, Herzrhythmus-Monitoren, und fragte sich: “Was spricht dagegen, all die Geräte in ein Fahrzeug zu packen und zu jenen Leuten zu bringen, die sie dringend brauchen?”
Ein simpler Gedanke, zugleich ein teures und ehrgeiziges Unterfangen. Fünf Jahre plante und kämpfte Gomes, suchte und fand Partner und Sponsoren, entwarf eine mobile Klinik auf dem Papier, überzeugte Kolleginnen und Kollegen und setzte seine Idee in die Tat um. Seit 2014 fährt das “Heart of Australia” ärztliches Fachpersonal und das Handwerkszeug über Tausende von Kilometern durch das Bundesland, das berühmt ist für sein Barriere Riff vor der Küste und die Regenwälder im Norden. Längst rollt der erste Sattelschlepper mit dem Nummernschild “Heart1” nicht mehr allein durch den Nordosten des Kontinents: Im Februar wurde bereits die fünfte rollende Spezialklinik auf die Reise geschickt. “Es sind nicht mehr fünf Orte wie zu Beginn, sondern 32 Stationen, die unsere Sattelzüge auf drei festen Routen ansteuern”, sagt Dr. Gomes. “Inzwischen sind wir 23 Fachleute, die mehr als 11.000 Menschen behandelt und mindestens 500 Leben gerettet haben.” Die Trucks bedienen drei feste Routen, ein kleinerer Laster ergänzt das Angebot in Notfällen. Die Ärztinnen, Ärzte und Sonografen fliegen oder fahren für ein paar Tage an ihre jeweiligen Einsatzorte. Dann kommt ein neues Team. “Wenn man sich so ein Projekt ausdenkt, ist nicht wirklich klar, ob es funktioniert”, sagt Gomes rückschauend. “Aber heute sind das Team und ich wirklich stolz auf das, was wir erreicht haben.” Und die Bevölkerung ist unendlich dankbar.
Starkregen statt Klinikalltag
260 Kilometer sind es von Dalby nach Stanthorpe. Ein moderner Sattelschlepper bewältigt diese Strecke in gut drei Stunden. Erst recht “Heart 2”, eine Kenworth K200 Zugmaschine, die ihre 44 Tonnen schwere und gut 25 Meter lange Diagnoseklinik durch Wälder und Weideland zieht. An diesem Morgen allerdings setzen sich die 34 Räder des medizintechnischen Wunderwerks erst gar nicht in Bewegung. In weniger als 24 Stunden sind in Dalby 300 Millimeter Regen gefallen, Flüsse sind über die Ufer getreten, Landstraßen und Highways stehen unter Wasser. Statt Echokardiogramme, Herzfrequenzen und Ultraschallbilder beobachtet das “Heart auf Australia”-Team Pegelstände und Wetterprognosen. Logistik-Chefin Maria Abrigado bucht Patientinnen und Patienten um, storniert Unterkünfte, telefoniert mit Einsatzkräften und Straßenverkehrsdiensten.
“Wir Ärzte finden meist einen Weg, zur Not fliegen wir in die Einsatzorte, um die Patienten zu sehen”, sagt Dr. Alexander Dashwood in Brisbane. “Ich komme aus England, ich kenn’ mich mit Regen aus, aber was da draußen gerade vom Himmel rauscht, habe ich noch nie gesehen.” Schafft es der Laster nicht durch die Überschwemmungsgebiete, macht auch kein eingeflogener Kardiologe Sinn. Zum Glück passiert derlei selten – bei Wetterextremen wie in diesem sehr nassen La Niña-Sommer, den Australiens Südwesten 2022 erlebt, bei Wirbelstürmen oder Waldbränden. Oft finden die Fahrer selbst dann einen (Um)weg. An diesem Nachmittag gelingt es Ben Williams, “Heart 2” über eine Ausweichroute zu steuern. Mit einem Tag Verspätung erreicht das Team den 5.000-Einwohnerort Stanthorpe immerhin für den zweiten geplanten Diagnosetag.
Routineuntersuchungen und Spezialfälle
Sobald Williams auf den Messewiesen an der High Street geparkt hat, bleiben Anwohnende unter ihren Regenschirmen stehen und sehen zu, wie sich der Lastwagen zur Klinik verwandelt: Der Anhänger ist nicht nur so lang wie ein Schwimmbecken, per Knopfdruck wird er auch beinahe so breit: Auf 0,50 Meter schieben sich die Behandlungsräume seitlich heraus. Das Team klappt ein Vordach aus, hängt Treppen ein und testet die Hebebühne für Rollstühle. Maria Abrigado rückt das Mobiliar in den Sprechzimmern zurecht, prüft Telefonempfang, Internet und Diagnosegeräte: Echokardiograph, Laufbandmonitor und Spirometer sind angeschlossen. In der Bordküche macht Ben Williams Tee für alle, im einem der Behandlungszimmer schaltet der Endokrinologe Dr. Thomas Dover den Computer an. Stanthorpe hat zwei Jahre ausschließlich Dürre erlebt, doch seit zwei Tagen schüttet es wie aus Kübeln, Ben Williams stellt noch schnell Eimer für die Regenschirme auf. Australiens größte mobile Spezialklinik ist bereit für die ersten zu behandelnden Personen des Tages.
Kenneth Hargans hat Diabetes Typ 2, seine Frau Beverley Typ 1, beide müssen ihre Blutzuckerwerte genau im Blick behalten. Früher bedeuteten die Kontrollen und Gesundheitschecks für sie sechs Stunden Fahrt in die nächste Klinik. Dank des Herzlasters sind die regelmäßigen Kontrollen keine Strapaze mehr. “Es ist so ein Segen, dass dieser Dienst zu uns in den Ort kommt”, sagt Bev. Das Team sei hochqualifiziert und wunderbar, und ihre Gesundheit und Lebensqualität jetzt deutlich besser. Dr. Dover ist erleichtert, wie gut Bev Hargans mit dem neu entwickelten, kontinuierlichen Glukose-Monitor am Oberarm zurechtkommt. “Es ist eine Erleichterung, wenn wir neue Technologie in ländlichen Gemeinden einführen können, die sonst vernachlässigt werden”, sagt der Arzt, der seit zwei Jahren jeden Monat im “Heart of Australia” steht. Zu Beginn arbeiteten nur Dr. Gomes und weitere Kardiologen in den mobilen Kliniken. Doch nach und nach merkten sie, wie sehr auch andere Spezialkräfte gebraucht wurden.
Inzwischen sind regelmäßig Fachärztinnen und -ärzte der Endokrinologie, Geriatrie, Neurologie, Urologie und Gynäkologie sowie ein Psychologe an Bord. Sie verpflichten sich für mindestens zwei Tage Einsatz pro Monat – neben ihren eigentlichen Jobs in Praxen und Kliniken der Großstadt. Selbst nach fünf Arbeitstagen im Herztransplantationsteam der Kardiologie in Brisbane sind die Wochenendeinsätze im Truck für Dr. Dashwood eine Freude: “Ich mag die ländliche Bevölkerung, die Menschen sind widerstandsfähig, pragmatisch, hartnäckig und sie sind oft überwältigend dankbar”, erklärt er, weshalb der Extra-Arbeitstag ihm Spaß macht. “Für mich ist es mental weniger anstrengend, ich kehre von den Einsätzen zufriedener nach Hause, auch weil wir draußen im Bush einen echten Unterschied machen.”
Vom Bush reden Australier, wenn sie über Gegenden außerhalb von Städten und Vororten sprechen. The Bush meint das Outback, in dem es keine Zäune, wenig Menschen, aber um so mehr Horizont gibt, the Bush sind aber auch Ortschaften mit 400 oder 4.000 Einwohnern, die riesige Einzugsgebiete von Farmland oder Bergbaugegenden versorgen. In größeren Orten praktizieren häufig zwei oder drei Allgemeinmediziner und -medizinerinnen, manche haben ein kleines Hospital, das Armbrüche versorgt oder Gegengifte für Schlangenbisse verwahrt. Notfälle werden in die Großstadt geflogen. Aus dem Outback-Ort Winton zum Beispiel fahren Landwirte zehn Stunden bis zur Küste, in die Hauptstadt sind es weitere fünf. Das dramatische an dieser großen Distanz ist, dass viele Menschen ihre Gesundheitsvorsorge deshalb vernachlässigen oder Warnzeichen ignorieren – einfach, weil es mühsam erscheint, zwei Tagesreisen einzuplanen, um ein Geräusch in der Brust zu checken.
“Ein 50-Jähriger kam kürzlich eigentlich nur auf Drängen seiner Tochter zu uns in den Truck”, erzählt Dashwod. “Der Mann hatte seit Woche Schmerzen in der Brust und wollte gerade gut 300 Kilometer weiter ins Outback fahren, um ein paar hundert Schafe zu scheren.” Der Stresstest zeigte klar, dass etwas mit seinem Herzen nicht stimmte. Der Mediziner überzeugte den Patienten, statt zu den Schafen sofort nach Brisbane zu fliegen, wo ihm am gleichen Nachmittag ein Stent eingesetzt wurde – der dem Farmer mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben rettete.
Sinnstiftende Arbeit
“Die Arbeit ist lohnend und dankbar”, stimmt Endokrinologe Dover mit Dr. Dashwood überein. Beide lieben die vielseitige Arbeit im kleinen Team, zu dem außer dem Facharzt, eine medizinisch-technische Assistentin, der Fahrer und ein Ultraschalldiagnostiker gehört. Ben Williams steuerte früher noch gigantischere Laster aus Bergwerken in der westaustralischen Pilbara-Region zur Küste. Doch der “Heart of Australia”-Job liegt ihm mehr: “Vor allem weil ich hier nicht nur hinterm Steuer sitze, sondern Kontakt mit Menschen habe”, erzählt der 43-Jährige. Er holt die Ärzte vom Flughafen, wenn sie eingeflogen werden müssen, kocht für das Team, hilft Patienten über die Hebebühne in den Truck wenn nötig, und freut sich über die gute Stimmung: “Die Leute sind so froh wenn wir kommen, und jeder hat ein freundliches Wort für uns.”
Auch für Heartbus-Erfinder Gomes, der nach wie vor bis zu fünf Tage pro Monat in den mobilen Kliniken arbeitet, ist das positive Feedback Bestätigung und Antrieb zugleich. “Wir haben heute so viele Behandlungsmöglichkeiten - aber sie nützen nur, wenn sie auch für jene verfügbar sind, die sie brauchen”, sagt er. Und das sind sie jetzt: In Longreach, mehr als eine Tagesreise von der Landeshauptstadt entfernt, oder in Weipa am Cape York, wo sich das Team derzeit noch hinfliegen lässt, weil die Schotterstraße zu schlecht für die Fahrzeuge ist. Gomes kennt schwierige Lebensbedingungen. Als Zehnjähriger zog er mit den Eltern und Geschwistern aus Indien nach Australien. Sein ältester Bruder starb mit fünf, vermutlich weil er wegen eines Stromausfalls zu früh aus dem Krankenhaus in Kalkutta entlassen wurde. Gomes’ Eltern wollten eine bessere Zukunft für ihre Kinder und wanderten aus. Rolf wurde Elektroingenieur, merkte aber bald, dass ihn Menschen mehr interessierten als Computer. 1998 begann er Medizin zu studieren, und von Beginn an faszinierte ihn das Herz am meisten: “Es pumpt und pumpt, oft 80 Jahre lang ohne Unterbrechung - was für ein Meisterwerk.” Aber seine Ingenieurskenntnisse blieben nützlich, sie halfen beim Entwickeln und Entwerfen der Klinik auf Rädern.
Ausgedehntes Fördernetzwerk
Für eine Million Australische Dollar (damals 700.000 Euro), baute Gomes sein erstes Diagnosemobil. Eine weitere Million veranschlagte er für den Betrieb im ersten Jahr. Er fand Sponsoren, Staat und Bundesland gaben zum Start insgesamt eine halbe Million Dollar dazu. Gomes selbst nahm eine zweite Hypothek auf sein Haus auf, nicht gerade zur Begeisterung der Familie. “Wer viel Geld von anderen erbittet, muss auch selbst bereit sein zu investieren.” Derzeit bezuschusst die australische Regierung das Heart of Australia-Projekt mit einer Drei-Jahres-Förderung von 12 Millionen Dollar, den Großteil der Kosten bestreiten jedoch Sponsoren wie die Energiefirma Arrow, die seit der Gründung dabei ist. Andere Unternehmen stellen etwa Begleitfahrzeuge und Treibstoff zur Verfügung." Kliniken spenden Material, eine Fluglinie fliegt die Spezialisten bei Bedarf ein, eine deutsche Pharmafirma unterstützt das Nachwuchsprogramm für jährlich sechs Studierende, die in den Trucks über mehrere Wochen Erfahrungen sammeln und lernen. Auch Queensland steckte nach langem Zögern zuletzt 2 Millionen australische Dollar in den Bau des jüngsten Lasters: Vor allem weil der mit Spezialdiagnostik ausgestattete “Heart 5” in die Bergbauregionen des Landes fährt um Arbeiter und ehemalige Bergleute auf Lungenkrankheiten zu untersuchen. Zum ersten Mal bringt der neue Truck nun sogar Röntgengeräte und Computertomografen direkt dorthin, wo sie gebraucht werden. Der Erfolg des Projekts soll nicht nur Menschen in Queensland helfen, nicht ohne Grund hat Gomes seinen ersten Lkw “Heart of Australia” genannt: “Meine Vision war immer, das Programm eines Tages auf den ganzen Kontinent auszuweiten, sagt der Mediziner. Aber natürlich mussten wir irgendwo anfangen. Jetzt wissen wir, dass es funktioniert. Wir haben die mobile Gesundheitsversorgung einen großen Schritt weitergebracht.
Julica Jungehülsing lebt und arbeitet seit 2001 in Australien. Sie ist Mitglied des Korrespondentennetzwerks weltreporter.net.