Ärzte ohne Grenzen

Von der Schraube bis zum OP-Saal

Innerhalb weniger Tage kann Ärzte ohne Grenzen praktisch überall auf der Welt Kräfte bündeln und ein Camp samt kleinem Hospital aus dem Boden stampfen. Möglich machen das eine ausgeklügelte Logistik – und das Engagement der Mitarbeiter.

Um die Verletzten zu versorgen, werden in Krisengebieten aufblasbare Krankenhäuser aufgestellt. (Bild: Benoit Finck/MSF)

Im Juni 2015 brechen 21 Menschen auf, um 80.000 Menschen in der Wüste zu retten. Andreas Karden ist einer aus diesem Team, das die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen kurzfristig in den Südsudan entsendet. Während Karden im Flugzeug sitzt, denkt er darüber nach, was vor ihm liegt. Der Bürgerkrieg im Südsudan hat sich verschärft, ein Vertriebenenlager, in dem 40.000 Menschen leben, wird förmlich überrannt von neuen Binnenflüchtlingen. 80.000 sind schon eingetroffen, jetzt sind insgesamt 120.000 Menschen dort. Karden und die anderen werden versuchen, die Versorgung in dem Camp aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass es zu einer humanitären Katastrophe kommt. Aber was kann das kleine Team schon bewegen?

Nun, Karden ist es gewohnt, eine ganze Menge zu bewegen. Der 36-jährige ist bei Ärzte ohne Grenzen zuständig für die Logistik. Er war bereits im Tschad, im Jemen, der Demokratischen Republik Kongo und in der Zentralafrikanischen Republik, teilweise dauerten seine Einsätze acht, neun Monate. Karden ist Installateur, Rettungssanitäter, Bauingenieur, er hat einen MBA-Abschluss in Projekt-Management. Wenn es darum geht, Probleme zu lösen und Dinge zu beschaffen, dann ist er der richtige Mann. Wie kompliziert die Situation auch ist, die Karden vor Ort vorfindet, wie ausweglos die Lage auch scheinen mag – am Anfang stehe immer eine Frage, sagt Karden: „Was brauchen die Menschen?“ Als Karden in dem völlig überfüllten Camp im Südsudan ankommt, wird ihm sofort klar, dass es erst einmal darum gehen muss, die Basisbedürfnisse zu befriedigen. Das bedeutet: Holz muss beschafft werden, um Latrinen zu bauen. Es fehlt an Trinkwasser, Nahrung, Medikamenten, von Strom ganz zu schweigen. Wie lässt sich das alles beschaffen?

Das Netzwerk von Ärzte ohne Grenzen, auf das Karden zurückgreifen kann, hat drei Ebenen. Da ist einmal die Ebene direkt am Einsatzort mit einem sogenannten „Emergency Coordination Team“, diese Rolle übernehmen im Südsudan Karden und seine Kollegen. In den Hauptstädten und größeren Ballungszentren der jeweiligen Länder, wo die Hilfseinsätze stattfinden, sitzt ein sogenanntes Koordinationsteam. Und dann sind da noch die Headquarter in Europa. Wenn Karden etwas beschaffen muss, was er vor Ort nicht bekommt, wendet er sich an die Koordinatoren in den Hauptstädten, im Falle von Südsudan ist das Juba. „Die Kollegen versuchen dann auf den Märkten und in den Geschäften das zu bekommen, was ich brauche, und mir schicken zu lassen. Dinge wie Holz oder Eimer gibt es hier immer, die würden wir nie aus Europa einfliegen lassen“, sagt Karden.

Erst wenn etwas nicht verfügbar ist in den Hauptstädten, wenden sich die Städtekoordinatoren an die nächste Ebene: die Einsatzleiter in Europa. Hierbei schafft die schiere Größe des weltweiten Netzwerkes von Ärzte ohne Grenzen Möglichkeiten, die nur wenige Organisationen haben: Die jährlichen Ausgaben belaufen sich auf fast 1,3 Milliarden Euro. Derzeit betreibt Medécins sans Frontières, so der internationale Name der 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Hilfsorganisation, Projekte in mehr als 60 Ländern weltweit, mit teilweise mehr als 1.000 Mitarbeitern in einem Einsatzland. In einem der Logistikzentren in Brüssel lagern auf 6.500 Quadratmetern Medikamente, Hilfsgüter und fertig gepackte Notfall-Kits. 20.000 verschiedene Artikel hält Ärzte ohne Grenzen hier bereit, von der winzigen Chlortablette, die Wasser zu Trinkwasser aufbereitet, über medizinische Instrumente und aufblasbare OP-Säle bis hin zum mehrere Tonnen schweren Stromgenerator. Für den Transport selbst hat die Organisation nur wenige eigene Maschinen, Jeeps und Boote, das meiste mietet man kurzfristig an. Das ist weniger teuer.

In dem Camp im Südsudan kann die Basisversorgung überwiegend durch Beschaffungen vor Ort und in Juba oder Nairobi in Kenia gewährleistet werden. Doch Karden und sein Team nutzen auch alle Ressourcen und Vorarbeiten, die bereits geleistet wurden. So war in der Nähe des Camps ein 200 Meter tiefes Bohrloch vorhanden, um daraus Trinkwasser zu gewinnen, fehlten nur noch Pumpen und Rohre. Auch im Camp gab es schon neun Bohrlöcher. Trotz dieser vorhandenen Quelle bleibt die Bereitstellung von Trinkwasser für die insgesamt 120.000 Menschen eine Mammutaufgabe. Das Team von Karden war damit jedoch nicht alleingelassen. „30 unserer Kollegen von Ärzte ohne Grenzen waren schon seit Monaten im Camp, als nur 40.000 Menschen dort lebten. Zusätzlich, und das ist entscheidend, haben wir innerhalb kurzer Zeit viele Leute vor Ort angeworben“, sagt Karden. Erst diese neu eingestellten Mitarbeiter machen die Hilfsorganisation so wirkungsvoll, wie sie sind, nicht nur wegen ihrer Zahl, auch wegen ihrer Kenntnisse: Karden und sein Team haben bald 500 Menschen überwiegend aus dem Südsudan angestellt, vom einfachen Lastenträger bis zum Chirurgen sind alle möglichen Arten von Expertisen darunter. Und die brauchen Ärzte ohne Grenzen auch. Denn die Basisversorgung war erst der Anfang.

Bereits ein paar Wochen, nachdem Karden in dem Camp eingetroffen ist, hat Ärzte ohne Grenzen ein kleines Krankenhaus errichtet, geführt von 50 Mitarbeitern, mit 180 Betten. Inklusive Operationssaal! Als die Ärzte am ersten Tag ihre Arbeit aufnehmen, beginnen sie eine mehrere Hundert Meter lange Schlange von Kranken „abzuarbeiten“. Leben retten am Fließband.

Gerade medizinische Dinge können besonders schwierig zu transportieren sein, müssen sie etwa besondere Hygienestandards erfüllen oder gar gekühlt sein, wie es etwa bei Impfstoffen der Fall ist. Die Logistiker müssen daher noch mehr Sorgfalt und Planung in den Transport einfließen lassen, als ohnehin schon notwendig ist. Auch wegen des materiellen Werts der Transporte kommt es darauf an, verlässliche Partner zu haben. Hier hilft die Erfahrung der Organisation, die in mehreren Jahrzehnten in den meisten Ländern bewährte Partner gefunden hat.

Manchmal schon nach ein paar Tagen entsteht so um einen Einsatz herum rasch eine eigene Infrastruktur. Kleine Transportmaschinen fliegen fast wie Linienmaschinen zwischen Juba und dem Camp hin und her. Die Materialien und Medikamente für den Südsudan aus Europa werden mit Linienflügen oder über den Seeweg nach Nairobi gebracht und von dort aus weitertransportiert. So wird von den Lagern in Brüssel oder Amsterdam das durchgereicht, was die 120.000 Binnenflüchtlinge in der Wüste von Südsudan so dringend brauchen.

Karden und sein Team konnten mit ihrer Arbeit in dem überlasteten Camp einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die humanitäre Lage der Menschen zu verbessern. Bei anderen Einsätzen geht es nicht um Wochen, sondern um Tage oder gar Stunden. „Wenn eine Cholera-Epidemie ausbricht, dann kommt es tatsächlich auf Stunden an, um eine Basisversorgung aufzubauen“, sagt Karden. Auch nach dem Erdbeben in Haiti, als innerhalb von ein paar Minuten Hunderttausende Menschen obdachlos wurden, musste unmittelbar Hilfe geleistet werden. Noteinsatzteams wie das von Karden und seine Kollegen können dann Hunderte oder gar Tausende Leben retten. Um besonders schnell helfen zu können, sind die Notfall-Kits unentbehrlich, die Ärzte ohne Grenzen in Lagern wie Brüssel bereithält. In manchen finden sich Medikamente für die Grundversorgung für 1.000 Menschen, in anderen steriles Operationsbesteck, zum Beispiel für aufwändige Eingriffe im Bauchbereich.

Vor allem in Kriegsgebieten ist die Situation auch dort, wo Ärzte ohne Grenzen hilft, politisch oft äußerst angespannt. Die Organisation hat viel Erfahrung darin, für die Sicherheit der Mitarbeiter zu sorgen. Landes- und Projektkoordinatoren schätzen die Lage und die Gefahr für Einsätze vor Ort ein. „Auf deren Urteil verlassen wir uns“, sagt Karden. Ein mulmiges Gefühl bleibt manchmal trotzdem für die Kollegen, wenn sie in Krisenregionen unterwegs sind. Aber sie wissen immerhin, dass sie für eine Organisation unterwegs sind, die hoch angesehen ist – unter allen Konfliktparteien. Einer der Gründe: Ärzte ohne Grenzen gewährt allen Menschen Hilfe, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft und politischen oder religiösen Überzeugung. Das Symbol von Ärzte ohne Grenzen, eine mit Strichen gezeichnete weiß-rote Figur, wird an allen Fahrzeugen gut sichtbar angebracht, fast jeder kennt es und weiß, was es zu bedeuten hat. Wenn Karden in einem Jeep unterwegs ist, kommt nicht selten eine jubelnde Gruppe von Kindern auf ihn zu. Denn sie wissen: Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen sind ihre große Hoffnung, die Krise ohne bleibende Schäden zu überstehen. „Vor Ort wird mir immer wieder aufs Neue klar, dass ich hier wirklich gebraucht werde, wohl mehr, als irgendwo sonst auf der Welt“, sagt Karden. Dann breite sich natürlich auch eine Gewissheit in einem aus, das richtige zu tun. Für solche Momente ist an jedem Tag im Einsatz Platz. Und wenn es erst am Abend geschieht, wenn alle erschöpft zusammensitzen– und sich das zufriedene Gefühl einstellt, an diesem Tag wieder einiges bewegt zu haben.


Dr. Christian Heinrich arbeitet als freier Journalist und schreibt neben Medizin auch über Wirtschaft und Gesellschaft, Reise und Zeitgeschehen.

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