Rüdiger Safranski im Gespräch

Wider die Konvention

Johann Wolfgang von Goethe ist der wohl prominenteste Kunde in der langen Firmengeschichte von Gebrüder Weiss. Rüdiger Safranksi hat mit seiner Biographie „Goethe. Das Kunstwerk des Lebens“ nicht nur die Reisen des Dichters, sondern die gesamte Bandbreite seiner Interessen und Tätigkeiten beleuchtet und zeigt, wie der Dichter sein Leben zum Kunstwerk veredelte.

Als Goethe 1788 von einer Italienreise zurückkehrte, hat er sich in Mailand dem „Lindauer Boten“ angeschlossen, der ihn über die Alpen führte. Auf diese Weise wurde Goethe Teil der Firmenidentität von Gebrüder Weiss. Kann man Goethe generell als mobilen Menschen bezeichnen?
Ja, auf jeden Fall. Goethe ist gerne gereist und er ist viel gereist, weit über 10.000 Kilometer. Gemessen an der Bewegungsform seiner Zeit, war er ein Vielreiser. Seltsamerweise konnte er in den wackligen Kutschen und auf den schlechten Wegen beim Fahren lesen. Und nicht nur das, er konnte unterwegs sogar schreiben. Die „Marienbader Elegien“ zum Beispiel, hat er noch in der Kutsche entworfen, als er von Marienbad zurück nach Weimar aufbrach.

Was hat ihn seinerzeit an Italien so interessiert
Italien war damals in Deutschland besonders für die Bildungsschicht das gelobte Land der Kunst – wegen der Malerei, wegen des berühmten südlichen Lichtes, aber auch der, wie man dachte, lockeren Sitten wegen. Außerdem war Italien das Land der Antike. Und unter den Gebildeten in Deutschland gab es eine große Ehrfurcht vor der antiken Kunst, der antiken Tragödie und den antiken Philosophen. Es kam aber noch etwas Persönliches hinzu: Sein Vater war in Italien gewesen und hatte auch ein Buch geschrieben, einen braven Reisebericht. Und dem kleinen Goethe, der alles sah, was der Vater aus Italien mitgebracht hatte, war schon früh klar, dass er auch dorthin musste. Er wollte den Vater aufholen und gewissermaßen auf Augenhöhe mit ihm sein. Es gibt sogar ein recht bekanntes Buch von Kurt Eissler, einem Psychoanalytiker und Freud-Schüler, der für dieses Motiv noch eine zusätzliche Begründung gefunden hat: Er behauptete, dass Goethe, indem er den Vater in Italien „eingeholt“ hat, überhaupt erst sexuell potent geworden sei. Aber das ist eine Spekulation und ich halte nicht viel davon. Ich erwähne das nur, weil die ganzen Überlegungen, warum Goethe nach Italien gefahren ist, mitunter sehr skurrile Blüten getrieben haben.

Die Reise nach Italien als Erfüllung eines langgehegten Traums?
Auch. Goethe entscheidet sich zudem für diese Reise in einer Krisensituation. Als er 1786 aufbrach, war er in Weimar bereits hoch aufgestiegen, ein hoher Beamter, direkt neben dem Herzog. In diese Geschäfte war er sehr eingespannt und er hatte Angst, dass seine poetische Ader austrocknet. Er fährt also auch nach Italien, um sich als Künstler wiederzufinden. Wenn Sie so wollen, war das eine wirklich existenzielle Reise, mit der er die Frage beantworten will: „Bin ich noch ein Autor oder bin ich ein ehemaliger Autor?“ Er nimmt einen Riesenstapel von Manuskripten in der Kutsche mit, um in Italien ordentlich zu schreiben und all seine angefangenen Werke endlich zu Ende zu bringen. Insofern ist es nicht einfach nur eine Vergnügungsreise, nicht einfach nur eine Reise zur Kunst, sondern auch eine Reise, um herauszubekommen, ob er noch ein Autor ist, der mit seinen Werken fertig wird.

Eigentlich ein sehr moderner Gedanke: ein Sabbatical, gewissermaßen. Und der Herzog hat sich sogar auf volle Lohnfortzahlung in Italien festlegen lassen, obwohl er von den Reiseplänen nicht begeistert war. Goethe aber bleibt erst viel länger als ursprünglich vereinbart, und will dann nach seiner Rückkehr auch noch eine Gehaltserhöhung. Lässt sich daraus ablesen, wie wichtig er am Hof in Weimar war?
Goethe geht hier durchaus ein beträchtliches Risiko ein. Er setzt so gut wie keinen in Kenntnis von seinen Plänen, noch nicht mal seine damalige Geliebte, die Frau von Stein. Dem Herzog sagt er im allerletzten Moment, dass er Urlaub braucht und in Richtung Süden fahren möchte. Mehr nicht. Und der Herzog gewährt ihm Urlaub. Goethe fährt inkognito nach Italien, damit er nicht zurückgerufen werden kann, und will auf jeden Fall erstmal nach Rom. Von dort schreibt er dem Herzog und bittet darum, ihn nicht fallen zu lassen, auch auf die Gefahr hin, dass der Herzog sagen kann: „So haben wir nicht gerechnet.“ Aber Goethe hat viel Glück gehabt im Leben, und hier eben auch. Denn wie reagiert der Herzog? Erst ärgert er sich. Aber Goethe hatte vor seiner Abreise für eine Vertretung gesorgt und dieser Kollege, der Voigt, macht die Arbeit vortrefflich - als Amtsmensch ist Goethe nämlich gut, aber nicht unersetzlich. Das sieht auch der Herzog. Und er merkt, dass Goethe für ihn nicht nur als Amtsmensch wichtig ist, sondern als Persönlichkeit, als Freund. Und so kommt es bei der Rückkehr nach 18, 19 Monaten zu Halbierung der Pflichten und zur Verdoppelung des Gehalts. Goethe hat sich in der Zwischenzeit neu erfinden können und ist im Übrigen auch wieder davon überzeugt, dass er doch ein Autor ist und nicht nur ein Geheimrat. Einige seiner Werke, die bis dahin nur als Fragmente existierten, hat er bei dieser Reise fertig gestellt. Er hat sich verliebt und erotisch auch sonst sicher noch so einiges erlebt, er hat eine wunderbare Landschaft gesehen, er hat die Antike kennengelernt und viele Künstler. Kurzum, seine Wünsche sind erfüllt gewesen.

Es wirkt so, als sei Goethe als Mensch ein Leben lang seiner ersten Italienreise treu geblieben. Hätte danach nicht ein neuer Traum an die Stelle Italiens treten können?
Ja, er hat lange davon gezehrt, danach aber immer wieder neue Reisen unternommen. Er ist nie nur in seinem kleinen Weimar geblieben, es zog ihn immer hinaus. Er kam aber auch immer gerne wieder zurück. Weil er sich immer wieder diese Ausbrüche erlaubt hat, war Weimar nie zu eng. Es war eine Lebenstechnik Goethes, Gegensätze in eine Balance zu bringen. Die Sesshaftigkeit und die Mobilität. Bloß nicht nur mobil, bloß nicht nur sesshaft, immer ein Wechsel. Dabei darf man nicht vergessen, dass das Reisen damals beschwerlich war. Diese Beschwerlichkeit hat Goethe bis ins hohe Alter auf sich genommen, er ist 1824 immerhin noch nach Marienbad gereist. Da war er schon 75, für die damalige Zeit war das uralt.

Weimar war auch damals schon alles andere als eine Weltstadt. Welchen anderen Lebensmittelpunkt hätte Goethe sich vorstellen können?
Mehrmals hat ihn seine Heimatstadt Frankfurt angezogen und mehrmals hat er das letztlich ausgeschlagen. Die Frankfurter wollten ihn natürlich sehr gerne zum Ratsherren in ihrer schönen Stadt machen. Aber Goethe wollte auf diese Weise nicht in die eigene Vergangenheit zurückkehren. Eine andere Stadt, die er sehr schätzte, war Leipzig, als junger Mensch hatte er dort studiert. Eine prachtvolle, damals relativ junge Stadt, aufstrebend, Mittelpunkt der intellektuellen Szene, große Buchmesse. Das war schon sehr attraktiv. Und als er in Italien war, ging ihm durch den Kopf, in Rom zu bleiben. Dass er doch immer wieder nach Weimar zurückgekehrt ist, wunderte ihn selber. Aber er hat es eben vorgezogen, in einer kleinen Residenz das absolute Zentralgestirn zu sein.

Und dennoch hat man ihm dort nicht verziehen, dass er sich mit der nicht standesgemäßen Christiane Vulpius eingelassen hat. Er musste vorübergehend sogar vor die Tore der Stadt ziehen. Warum hat er sich das gefallen lassen?
Es wäre standesgemäß gewesen, dass der Geheimrat sich diese Frau als Mätresse hält. Aber dass er mit ihr einen Hausstand gründete, das war, gemessen an den damaligen Normen bei Hofe und im Bürgertum, absolut skandalös! Und ich finde es beeindruckend, wie Goethe sich nicht davon hat abbringen lassen. Er hat es einfach in Kauf genommen, aus dem gemieteten Haus am Frauenplan ausquartiert zu werden. Der Herzog sagte wahrscheinlich sinngemäß: „Ich habe eigentlich nichts dagegen, aber wir können das mit meinen ganzen Hofschranzen nicht machen, die sind auf 180, das geht nicht. Also raus ins Jägerhaus.“ War ja auch ein schönes Haus, aber eben nicht so zentral. Danach kamen die Feldzüge von 1792, wo er den Herzog in der Allianz gegen das revolutionäre Frankreich begleitet, und richtig ins Kriegsgetümmel hinein gerät. Als Schlachtenbummler, aber doch an vorderster Front und in gefährlichen Situationen. Dafür ist ihm der Herzog so dankbar, dass er ihm das Haus am Frauenplan zum Geschenk macht. Vor aller Augen zieht er also mit seiner Christiane wieder dort ein, mitten im Zentrum. Bis er sie dann ganz offiziell heiratet, vergehen aber noch mal etwas mehr als zehn Jahre.

Als Ehepaar sind sie dennoch nie im Mittelpunkt der Weimarer Gesellschaft angekommen. Christiane Vulpius blieb immer ein wenig außen vor.
Goethe hat Christiane Vulpius vor aller Augen geliebt, aber bei Hofe war sie nicht dabei. Diese Lebensform hat er nur für sich selbst durchgesetzt. Aus dem Briefwechsel zwischen den beiden geht aber hervor, dass sie damit kein Problem hatte. Erstens liebte sie ihren Goethe, und zum zweiten war sie erfüllt von dem, was er ihr alles gegeben hat. Und umgekehrt war sie auch für Goethe ein Glücksfall. Er fand bei ihr, was er gesucht hat. Sie war genau der Typ, für den er sich entscheiden konnte - lebensklug, vital, hübsch, erotisch, anhänglich. Wenn man die Briefe liest, hat man den Eindruck, das war ein recht glückliches Paar, jeder hatte da so seinen Part. Und doch hat Goethe sich manchmal geärgert, zum Beispiel in der Freundschaft mit Schiller...

...der ja selbst eine Adelige geheiratet hat...
...und von dem er erwartet hat, dass er sich der Christiane etwas mehr annimmt. Schiller verhielt sich da aber sehr konventionell. Der nahm die Christiane kaum wahr und blieb sehr steif und zurückhaltend. Das hat Goethe nicht gefallen. Er hätte sich mehr Offensivität gewünscht. Die Integration von Christiane in seine Welt klappte nicht sonderlich gut. Aber was gut klappte, war die Ehe selbst und die Beziehung, die die beiden untereinander hatten.

In Weimar hat diese Mesalliance sogar eine besondere kulturelle Entwicklung angestoßen. Johanna Schopenhauer zum Beispiel, die Mutter des Philosophen, hat ihren eigenen Salon gegründet und war damit nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil sie Christiane Vulpius neben Goethe mit eingeladen hat...
Sie sagte: „Wenn Goethe sich dieser Frau hingibt, dann kann ich ihr doch wohl auch eine Tasse Tee spendieren.“ Und lud sie ein.

Blieb das eine Ausnahme – oder kann man allmählich einen generellen Wandel der Wertehaltungen feststellen?
Na ja, es gab vor allem einfach auch einen Gewöhnungseffekt. Außerdem war die Christiane eine sprudelnde, hochvitale Frau, die suchte sich ihren eigenen Kreis, voller Schauspieler und anderer interessanter Menschen - man könnte darüber spekulieren, ob sie Goethe immer treu geblieben ist. Das war keine Frau, die zuhause rumsaß und wartete. Nein, die war gesellig, präsent und wollte nicht immer nur dem Goethe nachzockeln. Die hatte ihre eigenen Leute, trank auch ordentlich und tanzte gerne. Die brauchen wir nicht rückwirkend erlösen, die hat selber schon nach dem rechten geschaut.

War das Weimar dieser Zeit auch deshalb ein gutes Biotop für Goethe, weil es zwar kulturell attraktiv, zugleich aber überschaubar war und damit einen idealen Rahmen für ein maßvolles Leben bot?
Maß und Form sind sehr wichtig, ja. Ohne Maß geht es nicht, Wildwuchs war Goethe verhasst. Und zu viel Maß verkümmert. Er suchte fortwährend nach Anregungen - aber bitte nie zu viel! Eine große Stadt wie Berlin oder auch Paris, wo Napoleon ihm den roten Teppich ausgerollt hätte, wäre ihm viel zu unruhig gewesen, zu hysterisch. Und Weimar war zwar klein, aber keinesfalls hinterwäldlerisch. Goethe sorgte dafür, dass da kulturell einiges geschah, aber immer so, dass er es noch im Griff haben konnte. Er wollte sich nicht überschwemmen lassen und die Dinge immer in der Balance halten. Er wusste genau, manchmal fällt ihm beim Schreiben etwas ein - und manchmal nicht. Wenn er mit einer Sache nicht weiterkam, dann ließ er sie für eine Weile liegen, um nur nichts zu erzwingen oder zu verkrampfen. Er ließ die Dinge lieber kommen. Mal arbeitete er ein bisschen am Faust, mal pflegte er seine Gesteinssammlung und dann nahm er seine Naturforschungen wieder auf oder seine Ministergeschäfte. Ständig versuchte er, alles so zu arrangieren, dass jedes gut funktionieren kann. Und abends, wenn man seine Sache gemacht hatte, dann kam die Erholung und man ging ins Theater. Dieser Rhythmus hat ihm ein Höchstmaß an Lebendigkeit ermöglicht. Denn Goethe war nicht nur ein Macher, er war auch ein großer Lasser.


Frank Haas ist Leiter der Markenstrategie und Kommunikation bei Gebrüder Weiss und Chefredakteur des Atlas.

Rüdiger Safranski wurde 1945 geboren und studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte. Bekannt wurde Safranski durch seine Biografien über Arthur Schopenhauer und Martin Heidegger. Im Januar 2002 übernahm er zusammen mit Peter Sloterdijk die Moderation des "Philosophischen Quartetts" im ZDF. Rüdiger Safranski ist als einer der profiliertesten deutschen Denker Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und des Pen-Club Deutschland. (Bild: Peter-Andreas Hassiepen)

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