Wo Modellbau vom wahren Leben erzahlt

Universum in der Nussschale

Es war das kleine Modell einer Lok, das seinerzeit Wirkung entfaltete und Johann Wolfgang von Goethe dazu bewegte, sich zum Ende seines Lebens hin doch noch mit Eisenbahnen zu befassen. Diesem seinerzeit ganz neuen Verkehrsmittel stand er eigentlich höchst skeptisch gegenüber: "Es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen" so schreibt Goethe in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ über das „überhandnehmende Maschinenwesen“ in Gestalt der ersten Züge, kurz vor Beginn des Eisenbahnzeitalters. Die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie auf dem europäischen Festland 1835 von Nürnberg nach Fürth erlebte der Dichterfürst jedoch nicht mehr. Aber dank Freunden aus England, dem Mutterland der Eisenbahn, konnte er eine Miniaturausgabe der damals schnellsten Dampflok „The Rocket“ sein Eigen nennen.

Was für Goethe und das Maschinenwesen galt, trifft bis heute zu: Nicht selten erschließt sich die Wirklichkeit besonders gut über ein Modell - etwas im Kleinformat zu betrachten, das im Original unüberschaubar und unbeherrschbar sein mag, ist faszinierend und gelegentlich bestechend. Dennoch gilt der Modellbau so manchem nicht nur als traditionelle, sondern auch als leicht verstaubte und langweilige Freizeitbeschäftigung einer weniger – männlicher - Eigenbrötler. Kein Wunder also, dass zunächst niemand an den Erfolg von Frederik und Gerrit Braun glauben wollte, als diese planten, in Hamburg die größte Modelleisenbahn der Welt zu bauen. Dass sich die breite Masse für Miniaturdarstellungen dieser Art begeistern würde, konnte man sich im Jahr 2000, als die Idee geboren wurde, einfach nicht vorstellen. Für die Zwillinge Braun war diese Skepsis ein Ansporn. In 600.000 Arbeitsstunden entstand in einem denkmalgeschützten Bau in der Hamburger Speicherstadt eine Welt im Kleinformat, in der zwar auch Züge fahren, wo aber noch viel mehr passiert: „Unser Wunsch war es, eine Welt zu bauen, die gleichermaßen Männer, Frauen und Kinder zum Träumen und Staunen animiert“, beschreibt Gerrit Braun. Und das ist gelungen: Die tatsächlich größte Modelleisenbahn der Welt erstreckt sich mittlerweile schon über 1300 qm, im Dezember 2012 wurde der 10.000.000ste Besucher empfangen.

Große Liebe zum kleinen Detail
Indes: Size doesn’t matter. Es ist nicht nur die schiere Größe, mit der sich das Miniatur Wunderland von herkömmlichen Modellbauanlagen unterscheidet. Vielmehr liegt die wahre Besonderheit in der irrwitzigen Liebe zum Detail. Jeder der acht Abschnitte (die freilich miteinander verbunden sind) wird belebt durch zahllose Miniaturen des menschlichen Miteinanders. In den Alltagsszenen wird Romantik genauso inszeniert wie Sozialkritik, existiert Freizügigkeit neben Tradition, vermischt sich Wirklichkeit mit Fantasie. Einiges ist frei erfunden (etwa ein Tunnel mit Gleisen zwischen Hamburg und den USA), vieles aber hält einem Abgleich mit der Wirklichkeit stand: So folgen die rund 300 fahrenden Autos tatsächlich der Straßenverkehrsordnung – und wo sie zu schnell sind, werden sie geblitzt. Eine Tankstelle zeigt die realen tagesaktuellen Benzinpreise an und das Magnetsystem, mit dem die Schiffe im Skandinavien-Bereich anlegen, ist bei den echten Alsterdampfern in der Hansestadt abgeschaut. In der Schweiz spuckt eine Schokoladenfabrik essbare Lindt-Schokoladentäfelchen aus und natürlich wird es auch Tag und Nacht über der Modellbauanlage – nur etwas schneller als draußen vor der Tür: Jeweils 15 Minuten dauert es von einer simulierten Morgendämmerung zur nächsten, parallel dazu gehen 335.000 Lichter dynamisch ein und aus.

Und obschon Zahlen nicht entscheidend sind, sind sie doch beeindruckend: Über 900 Züge sind auf 4 km sichtbarer Strecke unterwegs - sowie auf 14 km Gleisen hinter und unter den Kulissen, wo sich neben der komplexen Technik zahlreiche Schattenstrecken und -bahnhöfe befinden. Digital gesteuert wird die Anlage von 46 Computern. 200 Kameras geben einen lückenlosen Überblick, mehrere Mitarbeiter überwachen den reibungslosen Ablauf und eilen notfalls an die Strecke, um fehlerhafte Weichenschaltungen zu korrigieren oder Staub zu entfernen. Insgesamt beschäftigt das Miniaturwunderland mittlerweile 300 Angestellte, mit einem Team von 40 Leuten wurde es einst eröffnet.

Für Sommer 2015 ist die Einweihung des Italien-Abschnittes geplant, Frankreich und voraussichtlich England werden folgen. Wie bei den vorangegangen Bauabschnitten bekommen die Modellbauer hierfür ein Skript und denken sich auf dieser Grundlage kleine Szenen aus, die Bauten und Landschaften beleben. Bisweilen schicken auch Besucher Ideen für Geschichten ein, die im Kleinformat erzählt werden können - so ist das Miniaturwunderland auch ein Kaleidoskop der Weltsichten. Bauwerke wie das Kolosseum entstehen anhand von Bildvorlagen, fertige Bausätze werden nicht verwendet. An Italien wird bereits seit Mai 2013 gearbeitet, 30.000 kleine Figuren werden dort ein Zuhause finden. Insgesamt wird dieser Abschnitt wohl 120.000 Arbeitsstunden verschlingen, oder, mit Goethe: „Es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam“. Aber Rom wurde ja auch nicht an einem Tag erbaut.


Miriam Holzapfel ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Redakteurin für den Atlas.

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