Heidi Senger-Weiss im Gespräch
Lieber nach Bauchgefühl
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Gebrüder Weiss
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Heidi Senger-Weiss im Gespräch mit Frank Haas: über Verwurzelung und Offenheit, Instinkt und Verstand.
Gebrüder Weiss gilt als das älteste Transportunternehmen der Welt. Macht Sie diese Tradition persönlich stolz?
Natürlich. Es ist sehr ungewöhnlich, dass eine Generation nach der anderen in die Fußstapfen ihrer Vorgänger getreten ist und mit demselben Thema berufliche Erfüllung gefunden hat. Und wir sind nicht nur der Branche, sondern auch der Gegend verbunden: In 500 Jahren Unternehmensgeschichte hat sich der Stammsitz nur um 30 km verlagert. Wir haben in dieser Region unsere Kraft entwickelt und sind hier verwurzelt, zugleich aber offen nach außen.
Als Sie 1968 gemeinsam mit Ihrem Mann die operative Führung dieses Unternehmens übernommen haben, war das eine Zäsur. Zum ersten Mal stand eine Frau an der Spitze dieses sehr traditionsreichen Unternehmens, und das zu einer Zeit, als Frauen selbst für die Eröffnung eines Bankkontos noch das Einverständnis des Ehemannes brauchten.
Das mit dem Bankkonto hat mich weniger gestört, aber ich brauchte sogar das Einverständnis des Ehemanns, damit meine Kinder, die ich geboren habe, in meinen Pass eingetragen werden. So war die damalige Situation. Und hätte ich einen Bruder gehabt, wäre mein Leben anders verlaufen. Aber ich war das einzige Kind meines Vaters und der letzte Namensträger. Einen anderen Gesellschafter, der das Unternehmen als offene Handelsgesellschaft hätte führen können, gab es auch nicht. Und dann hat man es halt versucht mit diesem jungen Mädchen von 27 Jahren.
Wie wurde das bei den Mitarbeitern aufgenommen? Hat man Ihnen das zugetraut?
Die Mitarbeiter waren froh und dankbar, dass ich diese Aufgabe übernommen habe, denn sonst wäre das Unternehmen an irgendeinen Konzern verkauft worden. Sie haben mich von Beginn an immer unterstützt, auch wenn ich nicht immer für voll genommen wurde. Ist ja klar: Ich hatte keinerlei Erfahrung. Mein Vater ist mit 66 Jahren gestorben, und die verdienstvolle Führungsmannschaft von Gebrüder Weiss war so zwischen 63 und 70 Jahre alt, als mein Mann und ich begonnen haben. Wir haben als Erstes einen Generationenwechsel durchgeführt, und innerhalb von drei Jahren bestanden die Führungsetagen der Niederlassungen aus lauter 40- bis 45-Jährigen. Das hat Gebrüder Weiss sehr gutgetan (lacht).
Heidegunde Senger-Weiss wurde am 20. 05. 1941 in Wien geboren. Nach Volksschule und Realgymnasium in Bregenz studierte sie an der Wiener Hochschule für Welthandel. Nach einem Speditionspraktikum in der Schweiz, in Holland und in den USA stieg sie 1965 bei Gebrüder Weiss in Wien als Assistentin des Niederlassungsleiters ein. 1968 übernahm sie gemeinsam mit Paul Senger-Weiss die Gesamtverantwortung für Gebrüder Weiss mit 1.000 Mitarbeitern in Österreich und einer Niederlassung in Hamburg. 1969 traten beide die Geschäftsleitung an. Geburt der Kinder Wolfram (1971), Elisabeth (1972) und Heinz (1974). 2005 wechselte Heidi Senger-Weiss in den Aufsichtsrat und ist derzeit Aufsichtsratsvorsitzende. Die Söhne Wolfram und Heinz sind in den Vorstand nachgerückt.
Was hat Ihnen die Sicherheit gegeben, solche rigorosen Entscheidungen treffen zu können?
Es war einfach notwendig. Und jeder hat verstanden, dass jemand, wenn er 68 oder 70 ist, die Niederlassungsleitung in jüngere Hände legen sollte. Natürlich war nicht jeder happy darüber, aber im Wesentlichen haben wir bei der älteren Führungsmannschaft keinen großen Widerstand gefunden, auch weil wir uns dabei immer fair verhalten haben. Der Innovationsschub war gerade zu diesem Zeitpunkt wichtig, zum Beispiel der Aufbau direkter internationaler Lkw-Verkehre.
Inwiefern hat sich Ihre Art der Führung von der Ihres Vaters unterschieden?
Ich würde sagen: vollkommen. Ich bin Ende 1965 ins Unternehmen gekommen, zwei Jahre vor seinem Tod, und ich weiß, dass er damals schon müde und abgekämpft war. Er hat die Alleinverantwortung für das Unternehmen im Jahr 1921 im Alter von nur 19 Jahren übernommen. Das war eine wahnsinnig schwierige Zeit, und er hat das großartig gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir fast kein Kapital mehr hatten, hat er dann nochmals alles wieder aufgebaut. Wir konnten eine starke Basis mit einem Niederlassungsnetz über fast ganz Österreich übernehmen. Aber er wäre nicht noch ein weiteres Mal neu durchgestartet.
Hatten Sie andere Vorbilder oder moderne Theorien, an denen Sie sich orientiert haben?
Ich würde eher sagen, es war Instinkt und der Versuch, es so gut wie möglich zu machen. Ich habe zwar Welthandel studiert, aber diese ganzen Managementtheorien, die waren damals noch sehr vage. Es hat halt jeder seine Stärken und seine Schwächen. Ich behaupte, meine Stärke lag in der Motivation von Mitarbeitern. Ich konnte gut mit Menschen umgehen und sie für dieses Unternehmen gewinnen. Wir hatten dementsprechend wenig Fluktuation und viele begeisterte Mitarbeiter. Dagegen habe ich mir nie eingebildet, der bessere "Spediteur" zu sein. Die Leute, die die Spedition von der Pike auf gelernt haben, die waren alle viel besser, und das habe ich auch akzeptiert. Ich habe andere Dinge gemacht. Und ich hatte in meinem Mann einen tollen Partner, mit dem ich mich sehr gut ergänzt habe. Gemeinsam haben wir meistens die richtigen Entscheidungen getroffen. Alleine hätte ich das nicht geschafft.
War diese berufliche Partnerschaft für Ihr Privatleben manchmal auch belastend?
Jeder von uns hat sein Ressort gehabt, für das er hauptverantwortlich war. Sowohl in der Firma als auch zu Hause. Und wir haben uns gegenseitig vertreten, wenn einer ausgefallen ist. Ich habe ja in den ersten Jahren drei Kinder geboren, also hing viel von meinem Mann ab. Man kann sich als Mutter nicht alleine um die Familie kümmern, wenn man gleichzeitig ein Unternehmen führt. Wir haben uns also immer gegenseitig gebraucht und gegenseitig respektiert.
Mussten Sie nie Regeln für die Trennung von Beruflichem und Privatem aufstellen?
Wir haben uns bemüht, in Anwesenheit der Kinder vor allem eines nicht zu tun: die Probleme der Firma besprechen. Führungskräfte beschäftigen sich wenig mit den Dingen, die gut gehen. Die nimmt man mit Freude zur Kenntnis und hakt sie ab. Dagegen beschäftigt man sich permanent mit Problemen: "Da ist mir wieder der Kunde oder ein Partner abhandengekommen, dort hat mich die Konkurrenz unterboten, und jener Mitarbeiter hat gekündigt." Und dann wundern sie sich, wenn die nächste Generation sagt: "Nein, also den Laden will ich nicht übernehmen."
Was würde Ihr Vater wohl sagen, wenn er heute noch mal für einen Tag hierherkäme und sehen würde, was inzwischen alles passiert ist?
Na, wenn er das neue Headquarter hier sehen könnte, würde er sich sehr wundern…
Ich nehme an, er würde sich wie Sie an den grünen Möbeln stören, oder?
(Lacht.) Zum Beispiel. Das Orange haben wir ja ihm zu verdanken. Das war damals eine absolute Innovation, sonst waren alle Lkw mausgrau oder schwarz. Mein Vater war der Erste, der den Mut hatte, Lkw farbig anzumalen.
Aber war das nicht anfangs ein Versehen? Das war ja die Rostschutzfarbe.
Ja, das war die Rostschutzfarbe auf einem Lkw, der noch nicht fertig war, aber eingesetzt werden musste. Als mein Vater den gesehen hat, hat er gesagt: "Super, den sieht man ja von der Ferne schon! Diese Farbe nehmen wir für unsere Lkw." Damit es nicht gar so krass ist, hat man zunächst die grauen Planen beibehalten und es später mit blauen Planen versucht. Aber der Lkw war immer orange. Ja, das würde ihn sicher freuen, dass wir ansonsten nach wie vor das Orange hochhalten.
Gibt es umgekehrt ein Ereignis in der Firmengeschichte, bei dem Sie gerne dabei gewesen wären?
Ja, da gibt es sicherlich eine ganze Reihe, beispielsweise das Jahr 1781, als mein Vorfahre Johann Kasimir Weiss eingeladen worden ist, sich an der Fußacher Faktorei zu beteiligen, einer Vorgängerfirma der Spedition. DerBruder des Faktoreibesitzers hatte mit einem anderen Investment Konkurs gemacht, und es wurde wohl Kapital gebraucht. So war unsere Familie dann bereits mit 50 Prozent beteiligt. Der älteste Sohn, Josef Weiss, hat dann geschickt geheiratet und wurde der Schwiegersohn seines Partners. Auf diese Art und Weise sind dann 100 Prozent bei der Familie Weiss gelandet. Das war sicher eine spannende Zeit.
Und was würde die heutige Frau Senger-Weiss der Frau Senger-Weiss von 1968 raten?
Ehrlich gesagt: Ich hab damals gesundheitlich gelitten. Die Verantwortung, die da über mich hereingebrochen ist, ging ein bisschen über meine Kräfte.Der Heidi Weiss von damals würde ich deshalb zu etwas mehr Gelassenheit raten. Und auch zu der Bereitschaft, anzuerkennen, dass man Fehler machen darf. Das Wichtige ist nur, dass die Summe der Fehler deutlich kleiner ist als die Summe der richtigen Entscheidungen. Aber wenn man so neu anfängt, dann hat man eine wahnsinnige Angst davor, Fehler zu machen. Und das belastet.
Haben Sie bei Ihren Entscheidungen eher auf Ihren Kopf oder eher auf Ihren Bauch vertraut?
Ich bin eine Frau. Und Frauen sind stark emotional orientiert. Wenn ich gegen mein Gefühl entschieden habe, dann war das meistens falsch. Aber es gibt natürlich Menschen, die ihre Entscheidungen rein rational treffen.
Das Kerngeschäft Ihrer Ahnen, der Botendienst zwischen Lindau und Mailand, war sehr strapaziös und gefährlich. Hat sich daraus ein Verhaltenskodex entwickelt?
Mit Sicherheit. Unsere heutigen Werte leiten sich direkt daraus ab. Zum Beispiel die Risikobereitschaft. Mein Mann und ich sind im Oktober über die Schlüsselstelle der Mailänder Botenroute gewandert, von Thusis bis hinunter nach Isola. Dazwischen liegen drei Schluchten, die Via Mala, die Rofflaschlucht und das Cardinell. Und der 2.100 Meter hohe Splügenpass. Wir haben das in drei Tagen geschafft, der Mailänder Bote hat dafür nur zweieinhalb Tage gebraucht. Dabei hatten wir nichts zu tragen, wir hatten keine Maulesel zu führen, wir hatten wunderbares Wetter. Damals war das ein enormes Risiko und eine große Verantwortung: Die Boten mussten hohe Kautionen leisten, sie hatten die volle Verantwortung für ihre Waren. Wenn der Maulesel ausgerutscht und die Ladung in die Schlucht gefallen ist, dann sind sie oft hinuntergeklettert und haben versucht, das wieder heraufzuholen. Außerdem mussten sie auch Sprachen können, Schwyzerdütsch, Italienisch, sie mussten die Zollbestimmungen kennen, mussten geschickt sein und wissen, wie man abgefertigt wird. All das sind Dinge, mit denen wir auch heute noch konfrontiert sind.
Und trotz dieser Herausforderungen ist es bereits Ihren Vorfahren gelungen, die Erben jeweils zur Nachfolge zu bewegen. Was hat die Leute damals motiviert?
Der Beruf war doch auch toll! Der Bote kommt hinunter nach Mailand, der kommt in eine total andere Welt, aus diesem kleinen Dorf Fußach direkt in eine Weltstadt! Vielleicht bringt er Orangen mit, oder Seidenstoffe, er hört und sieht, was sich im Mittelmeerraum tut. Dann kehrt er zurück und erzählt am Stammtisch davon. Das ist doch hundertmal interessanter, als wenn ich meinen Bauernhof bewirtschafte und höchstens einmal eine Kuh ein neues Kalb bekommt. Nichts gegen einen Bauernhof, aber Bote zu sein war ein sehr spannender Beruf. Und diese Begeisterung für den Beruf der Mobilität hat sich fortgesetzt, die Nachkommen waren zunächst als Gehilfen dabei, später als Stellvertreter, und schließlich waren sie selbst verantwortlich.
Das heißt, im Grunde war das Gewerbe immer auch ein großes Abenteuer?
Ein Abenteuer auch, ja. Vor allem liegt unserer Familie aber die Freude an der Mobilität im Blut. Und dafür bedarf es auch einer Offenheit gegenüber anderen Kulturen. Bodenständigkeit ist gut, aber ein Fuhrwerker, der sich Mobilität auf seine Fahnen geschrieben hat, der muss zugleich weltoffen sein gegenüber anderen Einflüssen, anderen Kulturen, die er dann nach Hause mitbringt und dort erzählt: "Horch einmal, ich hab was Tolles erlebt!" Wo man bereit ist, andere zu respektieren, und nicht immer nur meint, dass man selber das Allerbeste tut, entstehen positive neue Impulse. Aber das hat jetzt wieder nichts mit Tradition zu tun.
Eigentlich schon.
Das Gefühl einer Verortung ist mir jedenfalls sehr wichtig. Zu wissen, wo gehöre ich hin, was ist meine Heimat. Und dann kann ich auch weltoffen und innovativ sein. Schauen Sie sich die großen und erfolgreichen Familienunternehmen in Vorarlberg an, die haben alle beides: Die sind am Ort verwurzelt, und gleichzeitig sind sie überall in der Welt aktiv. Und das ist eine Gabe, die wir auch bei Gebrüder Weiss immer gehabt haben und hoffentlich auch in Zukunft immer haben werden: dass wir uns auf unsere Wurzeln besinnen und gleichzeitig die Bereitschaft haben, neue Wege zu gehen. Natürlich darf kein Experiment so risikoreich sein, dass das Unternehmen als Ganzes gefährdet wird. Aber wir sollten mutig bleiben und offen für Neues. Auch wenn nicht sicher ist, dass jedes Experiment gelingt.
Frank Haas ist Leiter der Markenstrategie und Kommunikation bei Gebrüder Weiss und Chefredakteur des Atlas.