Ein zweites Leben für ATLAS #05

Der Land Rover der Lüfte

Manchmal lohnt sich ein zweiter Blick: Für die 23. Ausgabe unseres Kundenmagazins ATLAS hauchen wir vergangenen Artikeln ein zweites Leben ein – durch veränderte Perspektiven, neue Entwicklungen und das Wissen von heute. Dieser Beitrag bezieht sich auf den Artikel "Der Land Rover der Lüfte" aus ATLAS #05, der hier in voller Länge nachgelesen werden kann.

Damals...

Die 14 Mann starke Besatzung dieser Antonov arbeitet jeweils über drei Monate am Stück. In dieser Zeit umrunden sie unzählige Male den Erdball und wickeln die unglaublichsten Transportaufträge ab: riesige Turbinen, ganze Lkw, militärisches Gerät. Auch die deutsche Bundeswehr setzt Antonovs beim Rückzug aus Afghanistan ein.

»We are stupidly in demand«, sagt Bob. Er wohnt in der Nähe von London-Stansted und arbeitet seit zwanzig Jahren für die ukrainische Fluggesellschaft. Es sei der ideale Job für ihn. »Because I have no boss up here«, sagt er sichtlich amüsiert. Sein Job sei es, alles zu regeln: Verhandlungen mit den örtlichen Behörden, Caterern und Hotels. Kontrollieren, buchen, zahlen – einfach alles. Auch das Festlegen der Flugroute scheint in Bobs Aufgabengebiet zu fallen. Er zeigt mir ein entsprechendes E-Mail. Auch wenn zwischen Bukarest und Katar das Gebiet des IS liege, müsse mich das nicht beunruhigen. Wir würden einen Umweg über die »safe parts« des Irak fliegen – und übrigens auch der Ukraine.

Die anderen Männer stammen entweder aus Russland oder aus der Ukraine. Sie sind sehr kräftig und alle kurzhaarig bis kahlköpfig. Ihre Arbeit findet vor allem am Boden beim Be- und Entladen statt. Sie sprechen praktisch nichts – auch nicht untereinander. Zu gerne würde ich wissen, wie der Krieg in der Heimat die Stimmung unter der Besatzung beeinflusst. Überhaupt möchte ich so viel fragen: Wie kann man sich für diesen Knochenjob begeistern? Von Zeitzone zu Zeitzone, von Land zu Land: Ist das die ultimative Freiheit? Ist ein Leben in der Normalität, sprich: am Boden, überhaupt noch vorstellbar? Wie ist es, wenn einen an jedem Flughafen der Welt Aero-Enthusiasten empfangen, um dieses seltene Flugzeug zu bestaunen? Und wie überhaupt trägt man die täglichen Konflikte aus, die es zwangsläufig geben muss, wenn man sich auf 15 Quadratmetern ein paar Liegen teilt?

Durch das nach oben klappbare Bugtor der Antonov können übergroße und schwere Güter direkt in den Frachtraum verladen werden

Bob ist der Einzige, den ich fragen kann. Aber der winkt jetzt ab. Ich solle mich um mein Catering kümmern. »Eat something«, befiehlt er. »Enjoy yourself!« Mein Lunchpaket, das er noch kurz vor Abflug organisierte, besteht aus einer Fisch- und Meeresfrüchteplatte, einer ebenso reichhaltigen Käseplatte, Fruchtsalat inklusive frischem Beerenobst, unzähligen belegten und nicht belegten Semmeln und Baguettes, diversen Croissants mit und ohne Füllung, vielen süßen Gebäckteilchen, einer Dose Cola, einer Dose Fanta, einem Liter Apfelsaft – sowie: einem in Aluminium eingeschweißten Mittagessen zum Erwärmen im Bordofen. Als Dessert ein großer bayerischer Fruchtjoghurt und eine Tafel Schokolade. Mehr als genug für die gesamte Crew, aber die ist ebenfalls reichlich versorgt.

Bob löscht das Licht in der Kabine. Er zieht Schuhe, Hose und Hemd aus und legt sich auf eine der alten Pritschen. Ich sitze für den Rest des sechsstündigen Fluges im Dunkeln. Ab und zu gehe ich nach hinten, wo neben der Toilette ein Klappstuhl an einem Guckloch steht. Tolle Aussicht auf ein verschneites Gebirge neben einem Meer. Wo sind wir? Bob kann ich jetzt leider nicht fragen.

Die Landung in Katar ist trotz Wüstensturm so sanft, dass ich sie überhaupt nicht spüre. Der beim Passagierflug leicht schmerzhafte, etappenweise Druckausgleich beim Sinkflug entfällt. Eine Antonov, denke ich, macht bei 30 Stundenkilometern auf dem Rollfeld das gleiche Getöse wie in der Luft. Die Besatzung macht sich sogleich an die Entladung. Bob, nach seinem Nickerchen deutlich erfrischt, stellt mir ein Dokument aus (»Declaration of Health«), das mir die Einreise erleichtern soll, falls das nicht funktioniere, könne ich ihn jederzeit anrufen. Bis morgen seien sie noch hier. Dann wird die Antonov zuverlässig wie ein robuster alter Land Rover weiter nach Dubai tuckern, wo der nächste Auftrag wartet.

Und ich würde auch ohne choreografierte Sicherheitshinweise tatsächlich wieder mitfliegen.

Im Notfall schnell zur Hand: ein Standardset Werkzeug und die ukrainische Flagge als Talisman

... heute

Im Jahr 2015 kooperierten russische und ukrainische Unternehmen wie Volga-Dnepr Airlines (Russland) und Antonov Airlines (Ukraine) in der internationalen Luftfracht noch eng miteinander – im Reisebericht von Frank Haas wird es ganz selbstverständlich erwähnt. Dass Flüge der Antonov AN-124 mit einer gemischten Crew besetzt sind, war damals noch gängige Praxis.

Heute ist das ausgeschlossen, russische Fluggesellschaften stehen auf westlichen Sanktionslisten. Die weltweit verfügbare Flotte von AN-124 ist mittlerweile stark reduziert. Volga-Dnepr hat einen Großteil ihrer Flüge eingestellt, die Antonov Airlines setzen ihre verbliebenen Maschinen gezielt für NATO- oder UN-Missionen und internationale Frachttransporte ein – mit rein ukrainischen Crews. Der Flug von Frank Haas mit der AN-124 bleibt ein Beispiel für eine vergangene Phase pragmatischer Zusammenarbeit – in einer Zeit, in der politische Gegensätze zwar existierten, aber nicht in Krieg umgeschlagen waren.

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