Zweite Chancen für Dinge, Menschen und Ideen
An alles sollten wir uns erinnern
Ein Gespräch mit dem österreichischen Schriftsteller und Erzähler Michael Köhlmeier über zweite Chancen für Dinge, Menschen und Ideen.
Fragen von Frank Haas, Miriam Holzapfel
Lieber Herr Köhlmeier, in Ihrem aktuellen Buch über die Gitarre nennen Sie viele Musiker. Gibt es einen, dem Sie unbedingt eine zweite Karriere wünschen würden – also einen Künstler, der (wieder) entdeckt oder neu gewürdigt werden sollte?
Allen Bluesmusikern aus den Zwanziger-, Dreißiger-, Vierziger-, Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts wünsche ich das: Robert Johnson, Sun House, Mississippi John Hurt, Lightnin’ Hopkins, Muddy Waters, John Lee Hooker und allen anderen. Aber auch Stevie Ray Vaugh. Und natürlich Jimi Hendrix. Ja, ich glaube, er ist zwar nicht vergessen, Gott bewahre, aber die Leute sollten immer wieder seine Musik hören. Wir haben Krieg heute. Hendrix hat uns ein Kriegsrequiem vorgeführt, wie es in der Gegenwart keines gibt – nämlich als er die amerikanische Hymne in Woodstock gespielt hat.
Sie selbst sind ein leidenschaftlicher Gitarrist. Was fasziniert Sie bis heute an diesem Instrument?
Mich faszinieren alle Instrumente. Da liegt Blech herum, und geschickte Hände und ein poetischer Geist machen eine Trompete daraus, und dann hören wir Miles Davis spielen. Das ist doch ein Wunder! Den Soundtrack zu Fahrstuhl zum Schafott. Ein Baum wächst hundert Jahre und mehr, dann wird er gefällt, und sein Stamm lagert eine Generation, und dann wird eine Gitarre daraus. Da muss man doch andächtig werden. Ich bin andächtig, wenn ich eine Martin-Gitarre oder eine Gibson in Händen halte, und entschuldige mich gleich bei ihnen, weil ich nicht so gut spielen kann, wie es das Instrument verdiente.
 
    Eric Clapton meinte einmal, Gitarre spielen sei leider nicht mehr „cool“ für junge Menschen. Haben Sie das Gefühl, dass die Gitarre unter jungen Leuten tatsächlich aus der Mode gekommen ist?
Wahrscheinlich ist es so. Ein Instrument zu lernen ist anstrengend und unbequem. Wer alles haben will, und zwar sofort und ohne dabei einen Finger zu krümmen, der muss halt unten stehen, wenn oben auf der Bühne Gitarre gespielt wird. Auf dem Handy herumtippen ... wie geist- und fantasielos ist das! Die bekommen dann KI-Musik vorgeworfen, und sie sind zufrieden damit. Öd! Es ist ein großes Glück, mit anderen zusammenzuspielen, einen gemeinsamen Sound zu finden, das ist alle Mühe wert. Kann es sein, dass eine Generation heranwächst, die keine Lust verspürt, Kunst zu machen, Künstler zu sein, Musiker, Maler, Dichter? Blödsein ist geil ... Bittschön, soll so sein, ein Hosenladen auf dem Rücken istnGeschmackssache. Meine Sache ist es nicht. Als ich achtzehn war, gab es allein in dem kleinen, provinzlerischen Hohenems (Stadt im österreichischen Bundesland Vorarlberg, Anm. der Red.) ein gutes halbes Dutzend Bands. So eine Lust, Musik nicht nur zu hören, sondern zu machen!
Gibt es eine Art „goldenes Zeitalter“ der Gitarre, das Sie gerne noch einmal erleben würden?
Die Sechzigerjahre und die Siebziger. Die Gitarre war ein Statement, ein künstlerisches und ein gesellschaftliches, sogar ein politisches ... siehe Jimi Hendrix und die Hymne.
Welche Musikrichtung hätte Ihrer Meinung nach ein Revival verdient?
Der Blues.
Woran liegt es, dass bestimmte Kulturschätze – sei es Musik, Literatur oder Kunst – einfach nicht gehoben werden und einer breiten Masse unzugänglich bleiben?
Nichts bleibt heute der breiten Masse unzugänglich. Gar nichts. Wenn einer etwas will, zack, schon wird er vollgestopft damit. In unseren Breiten hat jeder zur Bildung jeden nur erdenklichen Zugang. Ich kann mir für nix eine digitale Bibliothek anschaffen, davon hätte ich mich nicht einmal getraut zu träumen vor fünfzig Jahren. Wenn sich jemand nicht interessiert für Kunst, Musik, Literatur, Malerei, dann soll er es bleiben lassen. Es ist seine Entscheidung. Aber Gejammer will ich nicht hören.
Was sind für Sie die wesentlichen Zutaten, damit eine alte Geschichte oder ein altes Lied auch für eine neue Generation spannend bleibt?
Eine Geschichte, wenn sie uns nicht von uns heute erzählt, kann uns nicht bewegen. Ich meine, ich muss mir denken können, was der da oder die da erlebt, das könnte ich auch erleben. Wenn ich das denke, spielt es keine Rolle, wie alt die Geschichte ist. Bei Odysseus kann ich mir das denken. Manche alten Geschichten berühren uns nicht mehr, dann tauchen sie ab. Andere bleiben. Die Passionsgeschichte Christi zum Beispiel bleibt. Ein Mann, der aus politischen Gründen zu Tode kommt...
Gibt es Bücher oder Geschichten, von denen Sie sich wünschen würden, dass sie ein zweites Leben erhalten – und warum?
Viele Bücher. Aber wissen Sie ... da stehe ich von meinem Schreibtisch auf und gehe in meine Bibliothek und nehme mir das betreffende Buch aus dem Regal. Zum Beispiel von Franz Michael Felder „Aus meinem Leben“. Dieses Buch lege ich jedem ans Herz.
Welche Traditionen oder kulturellen Gepflogenheiten sollte man unbedingt wiederbeleben?
Höflichkeit.
Auf welchen Wiedergänger aus der Geschichte hätten Sie persönlich gut verzichten können?
Auf zwei. Den Diktator und den Arschkriecher. Beide gehören zusammen.
Was sollte endlich in der Versenkung verschwinden und hoffentlich niemals wiederkehren?
Rassismus, Fremdenhass, Vergeltungssucht.
Gibt es Fragen in der Menschheitsgeschichte, die wahrscheinlich nie ein für alle Mal beantwortet werden, egal, wie oft man sie stellt?
Ist es sinnvoll, eine Antwort auf eine Frage zu suchen, von der man weiß – weiß! –, dass sie nicht beantwortet werden kann?
Gibt es bestimmte Ereignisse in der Geschichte, an die man sich dringend wieder erinnern sollte?
Erinnern heißt, der Geschichte einen Sinn geben. An alles sollten wir uns erinnern. Unser Gedächtnis macht aus uns, was wir sind – unsere Taten und Worte, wer wir sind.
Lesen Sie selbst Bücher mehrmals oder schauen Sie Filme mehrmals? Falls ja, warum?
Ja, natürlich. Thomas Mann lese ich immer wieder. Gedichte. Filme sowieso. In den letzten Monaten habe ich mir „Es war einmal in Hollywood“ von Quentin Tarantino dreimal angesehen. Das Duo Brad Pitt und Leonardo DiCaprio! Große Kunst, größte Kunst!
Glauben Sie, dass Musik anders altert als Literatur? Wird Musik aus der Vergangenheit anders wiederentdeckt als alte Geschichten?
Ja, das glaube ich. Wenn Sie zum Beispiel den Sender Ö1 einschalten, können Sie viel Musik hören, die mindestens hundert Jahre alt ist. Wenn Sie in eine Buchhandlung gehen, finden Sie fast nur Literatur, die in den letzten zwei Jahren geschrieben wurde. Gedanken altern schneller als Gefühle. Vielleicht liegt es daran.

 
                     
                    