Richtiges timing

Jede Minute zählt

Von Mark Twain wird sinngemäss gern zitiert, man solle nicht auf morgen verschieben, was genauso gut auch übermorgen erledigt werden kann. Das mag für viele Berufe zutreffend sein – für manche aber ist das richtige Timing absolut entscheidend, und es zählen nicht nur die Minuten, sondern auch Sekunden.

(Bild: RallyZone)

Matthias Walkner
Motorradrennfahrer und Rallye-Weltmeister,
Salzburg, Österreich


Als Motocrossfahrer komme ich an unglaublich schöne und entlegene Orte, die zu Fuss oder mit dem Auto nicht erreichbar sind. Das macht meinen Beruf für mich einzigartig. Von den anderen Athleten bekomme ich beim Rennen wenig mit. Stattdessen ist die Zeit der Gegner, mit dem ich die ganze Strecke lang konfrontiert bin. Ich muss permanent navigieren, also den Weg etwa durch Wüsten finden, in denen es keine Strassen gibt, keine Schilder und nur wenige Orientierungspunkte. Bei der Rallye Dakar in Südamerika war ich an sechster Stelle, als ich zu einem ausgetrockneten Flussbett kam. Meiner Meinung nach ging es geradeaus weiter durch das etwa 1,3 Kilometer breite Flussbett. Die fünf Fahrer vor mir, darunter ein ortskundiger Argentinier, waren allerdings abgebogen und hatten eine andere Route gewählt. Mir war schnell klar, dass das ein ganz wichtiger Moment für mich ist. Mit der Fahrt durch den Fluss könnte ich 20 Minuten einsparen und vielleicht das Rennen gewinnen. Genauso war es möglich, dass ich noch weiter zurückfalle. Ich musste mich entscheiden – und zwar innerhalb von ein, zwei Sekunden. Ich bin das Risiko eingegangen und durch den Fluss gefahren. Die nächsten 1,5 Stunden wusste ich nicht, ob das falsch gewesen war. Ich hatte zwar schon das Gefühl, die richtige Strecke ausgewählt zu haben. Aber ich konnte nicht einschätzen, ob sich die anderen Fahrer ausser Sichtweite weit vor mir befanden. Erst als ich kurz vor dem Ziel in Córdoba durch ein weiteres trockenes Flussbett kam und keine Reifenspuren erkennen konnte, wusste ich: Ich bin ganz vorne. Ich habe die Rallye Dakar 2018 dann als erster Österreicher in der Kategorie Bike tatsächlich gewonnen. In 43 Stunden, sechs Minuten und einer Sekunde.

(Bild: Privat)

Uwe Heinze
Chauffeur,
Hannover, Deutschland


Man kann mich als Chauffeur bezeichnen, aber Künstlerbetreuer trifft es eigentlich besser. Denn ich begleite Dirigenten und Dirigentinnen, Solisten und Solistinnen und Sängerinnen und Sänger aus dem Bereich Klassik auf ihren Tourneen quer durch Europa. Neben dem Fahren kümmere ich mich um allerhand andere Kleinigkeiten und erfülle zum Beispiel Getränke- oder Essenswünsche. Auf der Rückbank meiner Limousine sassen bereits Berühmtheiten wie Andris Nelsons oder Anne-Sophie Mutter. Damit meine Gäste pünktlich bei ihren Terminen ankommen, muss ich die Zeit natürlich ganz genau kalkulieren. Fahre ich mit zu viel Puffer los, ist bei einer frühen Ankunft das Hotelzimmer noch nicht bezugsfertig, und es gibt unerwünschten Leerlauf. Kommen wir zu spät an, wartet möglicherweise ein ganzes Ensemble auf der Bühne zur Probe oder – noch schlimmer – ein Konzertsaal mit voll besetzten Publikumsrängen. Das hat Stresspotenzial, zumal die pünktliche Ankunft ganz klar in meinen Verantwortungsbereich fällt – selbst dann, wenn sich ein Künstler oder eine Künstlerin verspätet und sich dadurch die Abfahrt verzögert. Unabhängig von der Zeit passe ich meine Fahrtgeschwindigkeit immer dem jeweiligen Gast an – der eine liebt es schneller, der andere langsamer. In den 27 Jahren, in denen ich schon unterwegs bin, ist es mit dem Stau auf den Strassen immer schlimmer geworden. Wie neulich in Paris, da ging es nicht vor und nicht zurück. In solchen Momenten rufe ich den Tour-Manager an und kündige unsere Verspätung an. Das Wichtigste ist dabei für mich, die Ruhe zu bewahren. Sonst überträgt sich meine Nervosität auf den Gast – und das darf nicht passieren. Da ich viele Künstlerinnen und Künstler schon seit Jahren kenne, vertrauen sie mir. Und verzeihen auch mal eine kleine Unpünktlichkeit.

(Bild: Privat)

Luisa Kalina
Teamleiterin Stückgut, Gebrüder Weiss
Passau, Deutschland


Wenn ich Frühschicht habe, startet mein Arbeitstag morgens um 7 Uhr. Ich beginne mit der Kontrolle der Sendungseinund -ausgänge des Vortages. Was ist angekommen, was ging raus? Hat alles reibungslos geklappt? Gleichzeitig muss ich den Sammelgutausgang für den laufenden Tag vorbereiten – was steht an, welche Sendungen müssen auf welchen Lkw geladen werden, reicht die geplante Ladekapazität aus? Währenddessen klingelt dauernd das Telefon, und zahlreiche E-Mails kommen rein, Anfragen, Auftragserfassungen, Reklamationen, Schadensbearbeitungen und auch interne Anfragen. Einkommende Terminsendungen muss ich im Laufe des Tages gleich auf die unterschiedlichen Linien, die wir bedienen, einteilen. Während so einer Schicht muss ich einfach funktionieren. Und die Herausforderungen sind täglich neu, kein Fall gleicht dem anderen. Eine typische Situation: Ein Fahrer soll bei Kunde A zur Beladung plötzlich länger warten als geplant. Dann schafft er es nicht mehr, Kunde B und C anzufahren. Da muss ich reagieren: Kann er währenddessen bei einem Kunden D laden? Oder rufe ich lieber bei Kunde A an und frage, ob die Beladung beschleunigt werden kann? Oder schicken wir einen anderen Fahrer auf der Heimfahrt bei A vorbei? Wenn es eine Terminsendung ist: Schafft es der Fahrer wieder pünktlich in die Niederlassung, um den Anschluss-Lkw noch zu erwischen? Wir leben im Zeitalter von Just-in-Time, alles muss so schnell wie möglich zugestellt werden. Man gewöhnt sich aber daran, blitzschnell zu reagieren, den Stress auszuhalten und die Ruhe zu bewahren. Schliesslich ist die Kundenzufriedenheit ein wichtiges Entscheidungskriterium, und auch die Wirtschaftlichkeit spielt natürlich eine Rolle. In meinem Job gibt es meist nicht die einzig richtige Lösung, sondern es geht darum, schnell und pragmatisch zu entscheiden. Und genau das schätze ich daran.

(Bild: Privat)

Claus Erhard
Umschlagsleiter, Gebrüder Weiss
Wolfurt, Österreich


Unter einem Umschlag stellen sich die meisten wohl eine Halle vor, in der sich Paletten und Produkte bis unter die Decke stapeln. In dem Lager, das mein Team und ich betreuen, wird hingegen Ware von einem Laster auf den nächsten verladen – alle möglichen Güter mit Ausnahme von Tieren und Sprengstoff. Morgens um 3 Uhr werden die ersten Lkw mit Waren an unserem Standort entladen, die dann von den Fahrerinnen und Fahrern innerhalb von Vorarlberg ausgeliefert werden. Gleichzeitig holen sie weitere Güter ab, die an Adressen in ganz Österreich sowie der Schweiz gehen. Sie treffen sich auf halbem Weg mit anderen Lkw, tauschen ihre beladenen Anhänger aus und kehren an das jeweilige Ausgangshaus zurück. Bis die letzten Lkw gegen 19 Uhr unser Gelände verlassen, ist alles ganz genau getaktet – manchmal auch noch darüber hinaus –, wie eine Choreografie. Die Lieferketten müssen reibungslos funktionieren, es kommt wirklich auf jede Minute an. Selbst wenn wir personell gut aufgestellt sind und ich umsichtig kalkuliere, kann immer etwas Unvorhersehbares passieren. Und das bringt dann im schlimmsten Fall die nachfolgenden Termine zum Einsturz, wie bei einem Domino-Spiel. Zum Beispiel, wenn ein Fahrer krank wird oder ein Stau besonders zäh ist. Das ist natürlich schon stressig. Ich versuche dann in Absprache mit dem jeweiligen Schichtleiter und Rollfuhrdisponenten vor Ort eine Lösung zu finden. Wir arbeiten nun einmal terminabhängig und wollen die vereinbarten Zeiten unbedingt einhalten.

(Bild: Privat)

Anja Grewe
Konferenzdolmetscherin,
Hamburg, Deutschland


Als Konferenzdolmetscherin arbeite ich zu 90 Prozent simultan. Da findet die Verdolmetschung zeitgleich zum Gespräch statt, wir stehen also automatisch unter Zeitdruck. Wenn ich in der Kabine sitze und das Mikro angeht, schlägt mein Puls immer noch hoch. Dolmetschen ist ein Job mit viel Adrenalin. Es kommt auf eine unglaublich schnelle Auffassungsgabe an, ich muss gleichzeitig hören und sprechen. Natürlich bereite ich mich im Vorfeld ausführlich vor, lerne die Vokabeln und studiere Präsentationen, Redenotizen oder Videos zum Thema. Manchmal sind die Themen auch ganz speziell, da geht es dann einen Tag lang nur um diabetische Füsse zum Beispiel. Die Vorbereitungszeit macht einen Grossteil meiner Arbeit aus. Aber während der Konferenz muss ich ahnen, worauf die Sprechenden hinauswollen, ich sortiere die Sätze im Kopf vor. Da muss ich mich wahnsinnig gut konzentrieren. Weil es so anstrengend ist, arbeiten wir beim Simultandolmetschen immer mindestens zu zweit und wechseln uns alle 20 bis 30 Minuten ab. Und ich kann ja auch nicht alles wissen. Wenn plötzlich vom Thema abgeschweift wird und ich dann eine spezielle Vokabel nicht kenne oder sie mir auf Anhieb nicht einfällt, dann springt meine Partnerin ein und schlägt die Vokabel nach. Oder ich googel selber ganz schnell, wenn ich gerade eine Sinneinheit zu Ende verdolmetscht habe. Das kann man tatsächlich trainieren. Trotz des hohen Stresslevels macht mir mein Job richtig viel Spass. Die verschiedenen Einblicke in Branchen und Unternehmen, vor Ort mit den Teilnehmenden, das ist wie lebenslanges Lernen und superspannend. Im besten Fall ermögliche ich eine reibungslose Kommunikation zwischen den Menschen, und das macht mir Freude.

(Bild: Privat)

Leon Ebeling
Rettungssanitäter und angehender Notfallsanitäter,
Stuttgart, Deutschland


Mit Blaulicht zu einem Einsatz fahren dürfen wir nur, wenn der Patient oder die Patientin in einem kritischen Zustand ist. Das ist in Deutschland klar geregelt. Und es ist auch festgelegt, wann man spätestens dort sein muss, wo man auf uns wartet: Ab Eingang des Notrufsignals in der Leitstelle haben wir sechzig Sekunden Zeit, um im Rettungswagen den Einsatz zu übernehmen. Anschliessend müssen wir innerhalb von weiteren 14 Minuten beim Patienten oder bei der Patientin sein. Wenn viel los ist, bei Grossschadenslagen zum Beispiel, brauchen wir auch mal mehr als 15 Minuten, bis wir ankommen. Dann kann sich aber auch die Feuerwehr oder die Besatzung eines Krankentransportwagens um die Erstversorgung kümmern, sodass die Hilfsfrist eingehalten wird. Natürlich müssen wir uns in einem Notfall nicht an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, aber wir fahren trotzdem selten mehr als 20 km/h über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit, um weder jemanden im Strassenverkehr noch uns selbst zu gefährden. Und es ist nicht so, dass wir grundsätzlich zu jedem Einsatz durch die Stadt rasen. Es hängt vielmehr vom Einzelfall ab, wie sehr wir uns beeilen. Bei lebensbedrohlichen Zuständen wie einem Schlaganfall, einem Herzinfarkt oder aber bei einer notwendigen Reanimation muss selbstverständlich so rasch wie möglich gehandelt werden, und es zählt tatsächlich jede Sekunde. Generell gilt bei uns allerdings die Massgabe, dass wir im Einsatz zwar möglichst zügig, aber auch möglichst sicher vorgehen – und nicht möglichst schnell. Dafür muss jeder Handgriff sitzen und absolut konzentriert ausgeführt werden. Deswegen rennen wir zum Beispiel nicht, denn rennen heisst Hektik, und Hektik heisst Fehler machen. Ausserdem sind wir mit unseren Sicherheitsschuhen, den Rettungsrucksäcken und den Geräten wirklich voll beladen. Rennen wäre also gar nicht so leicht.

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