Kolumne

Über das Laufen

Früher lief der Mensch, um seine Beute einzuholen und sich ernähren zu können. Hobbyläufer Alex Raack ist dankbar über die zivilisatorische Fortbildung seiner Spezies. Er rennt lieber, um seinen Kopf frei zu bekommen – für Texte wie diesen.

(Bild: Tom Barrett / unsplash)

Auch wenn dieser Text aus einer bequemen und weitestgehend regungslosen Sitzposition geschrieben ist: Wir Menschen sind zum Laufen geboren. Es hat durchaus seine Gründe, dass uns die Evolution einst aus dem Wasser, auf den Baum und schließlich auf den Boden der Tatsachen geholt hat. Ausgestattet mit einem kompakten Rumpf, zwei langen Armen und noch längeren Beinen. Dazu sind die Organe so vernünftig aufgeteilt, dass wir – zumindest in der Theorie – auch heute noch problemlos kilometerweit durch die Gegend laufen könnten, um, sagen wir, ein Mammut zu verfolgen, bis es keine Puste mehr hat oder von einer Klippe stürzt. Oder um es mit den Worten der Biologen Daniel Lieberman und Dennis Bramble zu sagen: „Fossilienbelege sprechen dafür, dass Dauerlaufen eine abgeleitete Fähigkeit der Spezies Homo ist, die vor zwei Millionen Jahren entstand und womöglich zur Evolution des menschlichen Körpers beitrug.“

„Born to run“ lautet der Titel des im Fachblatt Nature erschienenen Artikels der Wissenschaftler und manchmal sollte man sich daran erinnern, dass der menschliche Körper eben dafür entworfen wurde, über Stock und Stein zu laufen, statt unbewegt in einem Bürostuhl zu kauern oder ermattet auf einem Sofa zu liegen. Für mich persönlich ist der entscheidende Schritt oft schon mit exakt dieser Erkenntnis getan. Die (mindestens) zehntausend weiteren Schritte kommen von ganz alleine, wenn die Schuhe geschnürt, die Playlist ausgewählt und – in meinem Fall – der Hund an der Leine ist. Ich laufe gerne und regelmäßig. Keine übermäßig langen Distanzen und auch nur selten mit einer Startnummer versehen inmitten von hochmotivierten Hobbyläufern. Dafür meistens mit meinem vierbeinigen Begleiter, der, das muss ich zugeben, von der Evolution sogar noch mehr begünstigt wurde, als es darum ging, welche Spezies wie lange und wie schnell laufen kann.

Es gibt viele gute Gründe zu Laufen. Historisch gesehen, weil unsere Vorfahren so in der Lage waren, ihre Beute zu Tode zu hetzen und damit Essen auf den Tisch zu bringen. Ich bin recht dankbar dafür, dass mir dazu heute ein beschwingter Marsch zum Supermarkt reicht. Ein anderer Grund ist selbstverständlich das körperliche Wohlbefinden: Laufen ist gesund, Laufen macht schlank, Laufen macht schöne Waden. Vor allem aber, und das fasziniert mich persönlich so daran, ist die Rennerei äußerst wohltuend für eine ganz andere Körperregion. Der Sportpsychologe Professor Oliver Stoll, selbst passionierter Langstreckenläufer, sagt: „Ab einem bestimmten Punkt, der je nach Alter und Kondition von Mensch zu Mensch verschieden ist, muss das Gehirn mit dem Sauerstoff, der ihm zur Verfügung steht, stark haushalten, weil die meiste Energie im Körper in die Muskeln fließt. Haushalten heißt: Bestimmte Hirnareale bleiben aktiv, andere werden heruntergefahren.“

Das Tolle dabei ist: Unser Körper ist so genial konzipiert, dass die wichtigen Funktionen im Gehirn weiterhin auf Hochtouren laufen (Bewegungsmotorik, Sehen, Hören), während andere, in diesem Fall eher unwichtige Funktionen runtergedimmt werden wie eine Wohnzimmerlampe. So befindet sich zum Beispiel der Präfrontale Kortex während einer ausgiebigen Joggingrunde auf Sparflamme – hier sortieren und verarbeiten wir Informationen und beschäftigen uns mit Lösungsvorschlägen für die kleinen und großen Probleme des Alltags. Schlechte Nachrichten, negatives Feedback auf die letzte ATLAS-Kolumne, Beziehungsschwierigkeiten, Rechnungen, die bezahlt werden wollen – solche Sachen eben.

Ich muss zugeben: In meinem Oberstübchen ist sehr häufig und sehr intensiv Programm. Kaum aufgestanden, läuft das Gehirn auf vollen Touren, und deshalb greife ich dankbar nach den verschiedenen Möglichkeiten, um dieser Dauersendung auch mal in eine Pause zu gönnen. Alkohol ist übrigens auch deshalb so beliebt, weil er ebenfalls eine einschläfernde Wirkung auf unseren Präfrontalen Kortex hat. Nichts gegen ein beruhigendes Glas Wein nach Feierabend, aber die deutlich gesündere Variante sind eben zehn lange Kilometer durch den Wald, statt fünf Kurze in der Bar. Alkohol und Laufen haben noch eine Gemeinsamkeit: Zu viel davon schadet Körper und Geist und kann sogar zur Abhängigkeit führen. Dr. Tobias Freyer, Psychiater und Ärztlicher Direktor der Parkklinik Wiesbaden Schlangenbad, warnt: „Die meisten Breitensportler haben im Training keine qualifizierte Unterstützung.“ Wer sich überschätzt, laufe im Extremfall Gefahr in eine Depression zu rutschen oder von leistungssteigernden Substanzen süchtig zu werden.

Von derlei Überambitionen bin ich gottlob weit entfernt. Mir geht es vor allem darum, meinen Hintern nach Textarbeiten wie diesen zu bewegen und Seite an Seite mit meinem Labrador Meter abzureißen, bis die Waden zwicken, der Schweiß rinnt und das Kopfkino Pause macht. Ein weiterer positiver Nebeneffekt, den ich bei mir selbst bereits häufig beobachten durfte, ist ebenfalls wissenschaftlich nachgewiesen worden: Durch den rhythmischen Ablauf von Bewegungen über einen längeren Zeitraum hinweg werden im menschlichen Gehirn Verarbeitungsprozesse angeregt. Dreimal dürfen Sie raten, woher ich die Idee für diesen Artikel hatte.


Alex Raack ist freier Journalist.

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