Luft und Liebe
Kaum ein Gericht aus Österreich ist so populär wie das Wiener Schnitzel. Und wer es liebt, weiß ganz genau, dass bei seiner Zubereitung ein paar Dinge unbedingt zu beachten sind. Die Sache mit der Luft zum Beispiel.
Ich bin Souffl eur. Es gab Zeiten, in denen ich so viele Wiener Schnitzel souffl ierte, dass ich das Gefühl hatte, ich habe das Wiener Schnitzel erfunden. Junge Hausbewohner ernährten sich damals noch nicht vegan, auch die Fleischindustrie wurde noch nicht mit derselben kritischen Distanz angesehen wie heute. Kalbfl eisch war ein Grundnahrungsmittel, und der Vorschlag, zum Abendessen ein Schnitzel herauszu backen, stieß jederzeit auf Gegenliebe und hatte keine Klimadiskussionen zur Folge. Habe ich jemals ein Rezept für das Wiener Schnitzel gebraucht? Ich denke nicht, jedenfalls nicht in der Phase, als ich das Schnitzel persönlich erfunden hatte.Zu Beginn schaute ich vielleicht einmal im ewigen Plachutta-Wagner mit dem euphemistischen Titel Die gute Küche nach, wo ich in vielen Jahren so ziemlich alles gefunden habe, was für mein Leben im Kochverschlag von Bedeutung war. Aber die Rezepte in der Guten Küche sind auch von einer so unverschämten Selbstverständlichkeit, dass man sich ihre Handgriffe schnell aneignet und anschließend vergisst, wer den Text dazu formuliert hat. Trotzdem müssen Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden. Es lohnt sich durchaus, manche vergangenen Moden zu betrachten oder ein Wiener Schnitzel zum Beispiel aus dem Kontext des Wienerischen zu befreien, es ist ja zum beliebten Exportartikel geworden. Metaphysisch beschreibt es das Wesen des Österreichischen – zuletzt zierte ein Schnitzel in der Form der österreichischen Landesgrenzen das Cover einer Monocle-Ausgabe über Österreich. Nicht einmal den obercoolen Dudes aus dem Lifestyle-Labor war das Klischee also zu abgeschmackt, unser Land ordentlich zu panieren, um damit gewisse Nationaleigenschaften zu symbolisieren. Nur eines dazu: Souffliert haben sie uns nicht vorschriftsgemäß … Es gibt in dieser Hinsicht jede Menge Missverständnisse. Zum Beispiel melden einige berühmte Lokale Mitteleuropas Anspruch darauf an, ein gutes, wenn nicht überhaupt „das beste“ Wiener Schnitzel zu servieren, wobei der Superlativ allein ja bereits eine unangenehme Geschmacksnote mitliefert, die das angestrebte Ergebnis beeinträchtigt. Was soll denn, bitte schön, das beste Wiener Schnitzel sein? Worauf zielt die zweite Steigerungsstufe? Auf die Beizen in unmittelbarer Nachbarschaft, in der Gasse, in der Stadt, auf der Welt (inklusive oder exklusive Wiens)? Auf die Grundprodukte, die Fertigkeiten des Kochs, die Präsentation des fertigen Gerichts? Dabei brauchen wir schnitzelmäßig nun wirklich keine Superlative.
Es reicht doch schon, wenn ein Schnitzel, unsere liebste Wirtshausmahlzeit neben Pizza und Burger, nicht gedankenlos in die Fritteuse gehängt und in Gesellschaft von ein paar ebenso lieblos zubereiteten Fritten hinaus in die Gaststube geschickt wird. Denn das Schnitzel ist, auch wenn es da und dort wie gedankenloses Fast Food gehandhabt wird, ein geradezu delikates, fein austariertes Gericht, dessen Schönheit auf den ersten Blick besticht und dessen geschmackliche Zugänglichkeit für den großen Erfolg verantwortlich ist. Dafür aber bedarf es der Einhaltung von ein paar essenziellen Grundregeln. Erstens – das richtige Wiener Schnitzel wird aus Kalb- und nicht aus Schweinefl eisch gemacht. Der wichtigste Grund dafür ist die Textur. Während das dünn geschnittene und nochmals sanft plattierte Stück aus der Kalbsnuss beim Garen zart und saftig bleibt, nähert sich das Schweinsschnitzel oft jener Beschaffenheit von Dachpappe an, die wir von zahllosen Einzelexperimenten unseres niemals endenden Schnitzel-Gesamtfeldversuchs kennen. Außerdem interferiert zu starker Schweinefleischgeschmack mit dem mollig-eleganten Schnitzel-Erlebnis, das wir suchen. Zweitens – die Panade muss nicht nur verhüllen, sondern fein genug sein, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Das wiederum ist eine Frage des Paniermehls und dessen Kalibers. In der Schweiz zum Beispiel ist das Paniermehl oft zu grobschlächtig. Wenn einzelne Brösel einen Millimeter oder mehr Durchmesser haben, wird die Panade eher einer Waschbetonfläche gleichen, das Paniermehl muss also noch einmal durch die Küchenmaschine, bis die Brösel mehr nach Sandstrand aussehen als nach Flusskieseln. Drittens – niemals darf das Schnitzel zu groß sein. Auch wenn bei Figlmüller, dem selbst ernannten Schnitzelweltmeister aus Wien, die „Bröselteppiche“ (wie man anerkennend-despektierlich sagt) über den Tellerrand hängen: Die ideale Größe entspricht jener der Kalbsnuss, ist also nicht größer als maximal zehn mal fünfzehn Zentimeter. Viertens – Schnitzel werden in der Pfanne und nicht in der Fritteuse gebraten. Die Wahl des richtigen Fetts ist entscheidend. Im Original ist dafür Schweineschmalz vorgesehen, das etwa drei Zentimeter hoch in der Bratpfanne steht. Das Schmalz macht die Panade aus Mehl, Ei und Paniermehl angemessen kross und sorgt dafür, dass sich die obligaten Falten bilden: Erst wenn die Oberfläche des Schnitzels aussieht wie die Stirn eines besorgten Mopses, ist alles richtig gelaufen. Der Eigengeschmack des Schweinefetts spielt (einmal abgesehen vom Geruch in der Küche) für das Endprodukt kaum eine Rolle. Wem dieses Vorgehen zu archaisch scheint, der darf auf Bratbutter ausweichen, aber keinesfalls zu wenig davon verwenden: Das Schnitzel muss schwimmen.
Fünftens – kein Schnitzel darf triefend vor Fett serviert werden. Jedes einzelne Stück muss nach dem Braten sorgfältig mit Küchenpapier abgetupft werden. Faustregel: Man muss sich mit einer weißen Hose aufs Schnitzel setzen können, ohne dass es einen Fettfleck gibt. Womit wir bei den Beilagen wären. Es brauchte einen ausgewiesenen Sternekoch, um das Um und Auf der Wiener-Schnitzel-Produktion endlich angemessen in Worte zu fassen. In ihrem Buch East of Paris – The New Cuisines of Austria and the Danube Ecco fassen Mario Lohninger und David Bouley vom legendären New Yorker Restaurant „Danube“ die Schnitzel-Geschichte respektvoll, traditionsbewusst, aber mit dem Gefühl für die richtigen Details zusammen. Das beginnt mit den veredelten Beilagen – der Gurkensalat wird mit einer Marinade aus Sauerrahm, Crème fraîche, Champagneressig, Kümmel und Dill angemacht; der Kartoffelsalat mit La-Ratte-Erdäpfeln, Kümmel, Dijonsenf, Champagneressig, Rapsöl und hellem Kalbsfond. Aber auch beim Schnitzelrezept selbst rückt eine kulinarische Kulturtechnik in den Vordergrund. Die wichtigste Information jedoch schießt der Gastrounternehmer David Bouley in seinem Begleitwort nach: Der entscheidende Punkt bei der Herstellung des Schnitzels sei die Mechanik des Bratens. Es müsse genug Öl in der Pfanne sein, um im
Moment, wenn wir die Pfanne zu bewegen beginnen, wie eine Sturmflut über die Schnitzel hereinbrechen zu können. Diese Wellen finden sich später in der Textur der Panier wieder. Die Panier – und jetzt verwendet Bouley das erlösende Wort – müsse aufgehen wie ein „Soufflé“. Die richtige Methode, ein Schnitzel zu braten, ist also eher ein zartes Soufflieren als ein grobes Herausbacken. Darin besteht die Kunst. Ein Schnitzel kann auf unzählige Weisen falsch zubereitet werden – aber nur auf eine Weise richtig. Bouley flüstert es, ich stimme in sein Flüstern ein. Er ist mein Souffleur – und ich souffliere für immer weiter, als hätte ich’s erfunden.
Christian Seiler ist Journalist und Autor aus Österreich. Jahrelang hat er die Welt bereist, um Essen zu testen und Rezepte zu sammeln. In seinen Büchern erzählt er davon, etwa in Alles Gute. Die Welt als Speisekarte (2019).