Unterwegs mit einer Antonov

Der Land Rover der Lüfte

Fluggesellschaften unternehmen viel, um ihren Passagieren ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Dazu gehören gepflegte Maschinen, adrette FlugbegleiterInnen sowie perfekt choreografierte Sicherheitshinweise. Das Look & Feel an Bord lässt selten Zweifel an der Flugtauglichkeit des Geräts oder des Personals aufkommen. Doch nun stehe ich am Bukarester Flughafen vor einer Antonov AN-124 – und frage mich ungläubig: Das Ding kann fliegen?

Mit offenem Bug und Heck sieht das legendäre Fluggerät aus wie ein riesiges, gequetschtes Rohr mit einer unfassbar dünnen Membran. Die Farbe blättert ab, das Interieur ist abgewetzt. Alles liegt unverkleidet offen: Kabel, Leitungen und Dämmmaterial. Irgendwo im Frachtraum, neben der ukrainischen Flagge, klemmt das Bordwerkzeug: Hammer, Schraubendreher und diverse Schraubenschlüssel. Heimwerkerstandard. Ist das alles? Vertrauensstiftende Maßnahmen – Fehlanzeige.

Die Antonov AN-124, so lerne ich von einem erfahrenen Kollegen, wurde einst für das sowjetische Militär als Frachtflugzeug konzipiert und bis zur Jahrtausendwende gebaut. Nach dem Zerfall der UdSSR verkaufte die Sowjetarmee einige AN-124. Zivile Betreiber setzen die meisten Maschinen heute für weltweite Frachttransporte im Charterverkehr ein, wo die AN-124 aufgrund ihrer immensen Ladekapazität von bis zu 150 Tonnen Einzigartiges leistet. Weiterer Vorteil: Eine AN-124 bedarf keiner geteerten Landebahn. Eine ebene Fläche, beispielsweise in afrikanischen Steppen, genüge, so der Kollege. Nach vier Abstürzen in jüngster Vergangenheit – davon zwei beim Landeversuch in der Steppe – sind weltweit noch rund 40 Antonovs AN-124 im Einsatz. So genau wollte ich es gar nicht wissen.

Aber weil die Reise ja nicht nach Afrika geht, besteige ich an einem frühen Sonntagmorgen nach einigen Diskussionen mit den rumänischen Behörden (»This is not a boarding pass!«) das puristische Fluggerät. Im Laderaum überzeugen sich die Piloten von der korrekten Sicherung unseres Transportguts. Wir liefern ein komplettes Labor zur Ammoniakanalyse an eine katarische Düngemittelfabrik. Ich helfe der Crew beim Einladen des Proviants. In die Kabine führt eine abenteuerliche Hängeleiter. Auch hier mutet es museal-militärisch an, und Erinnerungen an bizarre Filme wie Jagd auf Roter Oktober und Dr. Strangelove – How I Learned to Love the Bomb werden wach.

Die »Flugbegleiter« ziehen ihre dunkelblauen Dienstanzüge aus, schlüpfen in bequeme Shorts und legen sich kommentarlos auf ihre spartanischen Pritschen. Bob, der Flight Manager und einzig Englischsprachige an Bord, verstaut schnell ein paar Souvenirs, darunter einen ferngesteuerten Kampfhubschrauber, und weist mir einen freien Sitz zu. Es folgt dann zumindest eine sehr knappe Einweisung in die Benutzung der Sauerstoffmaske.

Bei herkömmlichen Verkehrsflugzeugen, so Bob, habe man Sauerstoff, solange die Kartusche in der Maske reiche. Abhängig von Körpergröße und Atemfrequenz sei nach sieben und manchmal auch nach drei Minuten Schluss. In diesem Militärflugzeug sind wir aber praktischerweise direkt an das Sauerstoffsystem der Maschine angeschlossen, und ich könne bedenkenlos atmen, solange wir fliegen. »Endlich eine gute Nachricht«, denke ich.

Der letzte Druckverlust an Bord liege nun sechs Wochen zurück. Falls es wieder passiere, so Bob, solle ich mich an der Crew orientieren. Wenn sie herumrennen und an den Vorrichtungen an der Decke zerren, dann solle ich das einfach nachmachen. »Das ist wiederum nicht so beruhigend«, geht es mir durch den Kopf. Das Flugzeug startet seine Motoren, rollt an, hebt ab. Der Lärm an Bord ist gewaltig, und man bietet mir Ohrstöpsel an.

Die 14 Mann starke Besatzung dieser Antonov arbeitet jeweils über drei Monate am Stück. In dieser Zeit umrunden sie unzählige Male den Erdball und wickeln die unglaublichsten Transportaufträge ab: riesige Turbinen, ganze Lkw, militärisches Gerät. Auch die deutsche Bundeswehr setzt Antonovs beim Rückzug aus Afghanistan ein.

»We are stupidly in demand«, sagt Bob. Er wohnt in der Nähe von London-Stansted und arbeitet seit zwanzig Jahren für die ukrainische Fluggesellschaft. Es sei der ideale Job für ihn. »Because I have no boss up here«, sagt er sichtlich amüsiert. Sein Job sei es, alles zu regeln: Verhandlungen mit den örtlichen Behörden, Caterern und Hotels. Kontrollieren, buchen, zahlen – einfach alles. Auch das Festlegen der Flugroute scheint in Bobs Aufgabengebiet zu fallen. Er zeigt mir ein entsprechendes E-Mail. Auch wenn zwischen Bukarest und Katar das Gebiet des IS liege, müsse mich das nicht beunruhigen. Wir würden einen Umweg über die »safe parts« des Irak fliegen – und übrigens auch der Ukraine.

Im Notfall schnell zur Hand: ein Standardset Werkzeug und die ukrainische Flagge als Talisman.

Die anderen Männer stammen entweder aus Russland oder aus der Ukraine. Sie sind sehr kräftig und alle kurzhaarig bis kahlköpfig. Ihre Arbeit findet vor allem am Boden beim Be- und Entladen statt. Sie sprechen praktisch nichts – auch nicht untereinander. Zu gerne würde ich wissen, wie der Krieg in der Heimat die Stimmung unter der Besatzung beeinflusst. Überhaupt möchte ich so viel fragen: Wie kann man sich für diesen Knochenjob begeistern? Von Zeitzone zu Zeitzone, von Land zu Land: Ist das die ultimative Freiheit? Ist ein Leben in der Normalität, sprich: am Boden, überhaupt noch vorstellbar? Wie ist es, wenn einen an jedem Flughafen der Welt Aero-Enthusiasten empfangen, um dieses seltene Flugzeug zu bestaunen? Und wie überhaupt trägt man die täglichen Konflikte aus, die es zwangsläufig geben muss, wenn man sich auf 15 Quadratmetern ein paar Liegen teilt?

Bob ist der Einzige, den ich fragen kann. Aber der winkt jetzt ab. Ich solle mich um mein Catering kümmern. »Eat something«, befiehlt er. »Enjoy yourself!« Mein Lunchpaket, das er noch kurz vor Abflug organisierte, besteht aus einer Fisch- und Meeresfrüchteplatte, einer ebenso reichhaltigen Käseplatte, Fruchtsalat inklusive frischem Beerenobst, unzähligen belegten und nicht belegten Semmeln und Baguettes, diversen Croissants mit und ohne Füllung, vielen süßen Gebäckteilchen, einer Dose Cola, einer Dose Fanta, einem Liter Apfelsaft – sowie: einem in Aluminium eingeschweißten Mittagessen zum Erwärmen im Bordofen. Als Dessert ein großer bayerischer Fruchtjoghurt und eine Tafel Schokolade. Mehr als genug für die gesamte Crew, aber die ist ebenfalls reichlich versorgt.

Bob löscht das Licht in der Kabine. Er zieht Schuhe, Hose und Hemd aus und legt sich auf eine der alten Pritschen. Ich sitze für den Rest des sechsstündigen Fluges im Dunkeln. Ab und zu gehe ich nach hinten, wo neben der Toilette ein Klappstuhl an einem Guckloch steht. Tolle Aussicht auf ein verschneites Gebirge neben einem Meer. Wo sind wir? Bob kann ich jetzt leider nicht fragen.

Die Landung in Katar ist trotz Wüstensturm so sanft, dass ich sie überhaupt nicht spüre. Der beim Passagierflug leicht schmerzhafte, etappenweise Druckausgleich beim Sinkflug entfällt. Eine Antonov, denke ich, macht bei 30 Stundenkilometern auf dem Rollfeld das gleiche Getöse wie in der Luft. Die Besatzung macht sich sogleich an die Entladung. Bob, nach seinem Nickerchen deutlich erfrischt, stellt mir ein Dokument aus (»Declaration of Health«), das mir die Einreise erleichtern soll, falls das nicht funktioniere, könne ich ihn jederzeit anrufen. Bis morgen seien sie noch hier. Dann wird die Antonov zuverlässig wie ein robuster alter Land Rover weiter nach Dubai tuckern, wo der nächste Auftrag wartet.

Und ich würde auch ohne choreografierte Sicherheitshinweise tatsächlich wieder mitfliegen.


Frank Haas ist Leiter der Markenstrategie und Kommunikation bei Gebrüder Weiss und Chefredakteur des Atlas.

Ohne Lehne, ohne Gurt: Fensterplatz in der Antonov.
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