Bernsteinweg
Das Gold des Nordens am Mittelmeer
Logistisches Denken, Investitionsgeschick und Risikobereitschaft sind für den heutigen Unternehmer gängiges Handwerkszeug. Neu aber sind diese Grundsätze des geschäftlichen Erfolgs bei weitem nicht. Schon in der Bronzezeit, circa 3.500 Jahre vor unserer Zeit, haben findige Menschen Handel getrieben und damit reichlich Profit gemacht. Und das über Entfernungen, die wir heute kaum erahnen können. Vor allem ein Material versprach im eher rohstoffarmen Nordeuropa eine große Gewinnspanne: Bernstein, das Gold des Nordens.
Das schriftlich überlieferte Wissen um den Bernstein und die großen Vorkommen im Norden ist alt. Aus der Zeit um 340 vor Christus stammt der Reisebericht des griechischen Gelehrten Phyteas, der auf dem Seeweg vermutlich zu verschiedenen Nordseeinseln fuhr und dort auch Bernstein fand. Er gibt als erster die wissenschaftliche Erklärung ab, dass es sich um ein Baumharz handelt und nennt den Bernstein Elektron. Unser Wort Elektrizität leitet sich davon ab, da der Bernstein die physikalische Eigenschaft besitzt, sich nach Reibung statisch aufzuladen und kleinste Partikel wie Staub und Flusen anzuziehen. In der griechischen Welt jedenfalls waren die schwimmenden und brennenden Steine als „Tränen der Götter“ tief in der Mythologie verankert und wurden in der Medizin als Heilmittel für allerlei Beschwerden eingesetzt. Auch heute noch gelten Bernsteinketten als schmerzlindernd und entzündungshemmend.
Aber die Nutzung von Bernstein ist viel älter. Schon in der jüngeren Steinzeit um 5.500 vor Christus wird er in Nordeuropa zu Amuletten und Perlen verarbeitet. Von dort entwickelt er sich zum Exportschlager: Ab der Bronzezeit, etwa 2.200 – 800 vor Christus, findet er sich wie an einer Perlenkette aufgereiht in Siedlungen, Gräbern und Opferdepots. Daraus ergibt sich eine Route, die von der baltischen Ostseeküste über Mitteldeutschland durch Bayern über die Alpenpässe, wie zum Beispiel den nach dem Bernstein benannten Brenner, bis nach Mykene im heutigen Griechenland führt. Von hier ging es per Schiff weiter nach Syrien oder Ägypten.
Nördlich der Alpen können anhand der Fundplätze mit Bernstein konkrete Handelsrouten rekonstruiert werden. Belege dafür sind etwa das mehrere hundert Kilogramm schwere Bernsteindepot von Wroclaw-Patrynice in Polen, mehrere Opferhorte in der Umgebung von Halle in Mitteldeutschland, das sogenannte Ingolstädter Collier aus 3.000 Bernsteinperlen oder auch die Bernsteinfunde aus der bronzezeitlichen Höhensiedlung bei Bernstorf in Bayern mit mykenischen Schriftzeichen und einer Gesichtsdarstellung.
Auch im Mittelmeerraum gibt es Anhaltspunkte für einen Handelsweg. Und wo immer Bernstein auftaucht, scheint er ein Luxusgut der Privilegierten und Superreichen zu sein. Es finden sich Ketten aus Bernstein in den berühmten Königsgräbern von Mykene; Bernsteinperlen waren neben Gütern aus Zypern, Syrien Ägypten und Griechenland an Bord eines reichen Handelsschiffes, das vor 3.300 Jahren vor der türkischen Küste bei Uluburun gesunken ist; aus einem Königsgrab bei Qatna in Syrien stammt ein Löwenkopf aus dem goldenen versteinerten Harz und im Grab des ägyptischen Pharaos Tutanchamun fanden sich Ohrringe mit Bernsteinperlen. Und Laboruntersuchungen haben ergeben: Bei fast allen diesen Funden handelt es sich um baltischen Bernstein von der Nord- und Ostsee!
Für die Route von Kaliningrad, wo die Hauptvorkommen von Bernstein liegen, nach Mykene, dem World-Trade-Center der Bronzezeit im Mittelmeerraum, liefert Google maps folgende Ergebnisse: Mit dem Auto oder dem LKW braucht man für die 2.765 km rund 28 Stunden. Zu Fuß wird die Route mit 2.333 km zwar kürzer, beansprucht aber mit 19 Tagen und 17 Stunden Dauermarsch wesentlich mehr Zeit. Allerdings warnt Google: „Seien Sie vorsichtig! – Auf dieser Route gibt es möglicherweise keine Bürgersteige oder Fußwege“. Wie muss das erst in vorgeschichtlicher Zeit ausgesehen haben?
Zwar gab es damals auch in Deutschland Verkehrswege, immer noch als tief in die Landschaft eingeschnittene Hohlwege erkennbar, auf denen langsame Ochsenkarren allerlei Güter durch die Gegend transportierten. Aber der Großteil der Händler wird zu Fuß unterwegs gewesen sein. Auch wenn größere Teilstrecken von einzelnen Personen oder Handelsgruppen überwunden worden sind, rechnet man in der Forschung heute eher mit einem Netzwerk von Handelsstützpunkten, an denen die Ware von Händler zu Händler verkauft wurde – und jedes Mal ein bisschen teurer wurde.
Als leicht transportables, profitbringendes Luxusgut war der Bernstein in dieser Frühzeit nur eines von vielen Gütern, die vom Norden in den Süden und auch in umgekehrter Richtung transportiert wurden. Mit den Personen, die solche Reisen antraten, wurden immer auch Nachrichten, naturwissenschaftliche Kenntnisse, religiöse Ansichten oder neue Techniken, also Ideen transportiert. Vor allem aber ging es wohl – neben Salz – um das seltene Zinn, das von einem der wenigen damals bekannten Vorkommen in Cornwall in England über verschiedene Routen bis Mykene und in den Mittelmeerraum abgesetzt wurde und dringend für die Herstellung der neuartigen und effektiven Bronzewaffen benötigt wurde.
Vielleicht liegt im Zugang zu den Zinnvorkommen im Norden sogar der Schlüssel für die Vormachtstellung Mykenes und seiner Verbündeten im Trojanischen Krieg. Zumindest bescherte es der Stadt den Reichtum, der noch heute an den imposanten Ruinen deutlich sichtbar ist.
Der Norden dagegen profitierte durch den Zustrom von Kupfer aus dem Voralpenraum und den Innovationsschub bei der Waffenherstellung: Die beiden Schwerter, die zusammen mit der Himmelsscheibe von Nebra in Sachsen-Anhalt gefunden wurden, sind südlichen Vorbildern nachempfunden und sicherten den mitteleuropäischen Herrschern ihre Macht. In ihren Gräbern findet sich übrigens auch Gold, das aus Lagerstätten in Nubien am Nil stammt.
Der goldgelbe Bernstein war der Motor der florierenden Konjunktur im frühen Europa der Bronzezeit. Und auch zu Zeiten des römischen Reiches 50 nach Christus war der Bernsteinhandel auf der bis dahin in Teilen befestigten und gut ausgebauten „Bernsteinstraße“ fest als Wirtschaftskorridor etabliert: So sandte der Kaiser Nero einen Ritter in die Gefilde an der Ostsee, um Bernstein zu besorgen, mit dem der berüchtigte Herrscher seine Gladiatorenspiele ausstatten ließ: Der Sand in der Arena bestand aus purem Bernsteinstaub.
Dr. Timo Ibsen, geboren 1972, ist Archäologe.