Mit dem Lkw von West nach Ost
Von Istanbul nach Tiflis
Ausgaben
Text
Fotos
Rainer Groothuis
Tags
Kurz vor Kemalpaşa an der Europastraße 97 sitzt ein Mann auf einem Klappstuhl und sieht seiner Kuh beim Grasen zu. 1.380 Kilometer hinter Istanbul, 400 Kilometer vor Tiflis, 80 Meter neben dem Schwarzen Meer. Neben mir lenkt Hans Schlaffer, Trucker seit 27 Jahren, die 31 Tonnen Lkw, gezogen von 610 PS, versorgt von einem 1.150-Liter-Tank, Baujahr 2003. Wir sind mit dem altgedienten Elefanten unterwegs von Istanbul nach Tiflis, von der islamischen Türkei ins christliche Georgien, vom NATO-Partner in eine ehemalige Sowjetrepublik, von West nach Ost.
Bucklig Männlein
Drei Tage bevor der Aufstand in Istanbul beginnt, fahren wir los, und das sehr früh, gilt doch in Istanbul ein Fahrverbot für Lkws zwischen sechs und zehn Uhr. Um fünf schon überqueren wir den Bosporus, der in milchiges Frühlicht getaucht ist. Wir verlassen Europa und fahren Kilometer um Kilometer durch ein asiatisches Istanbul, das sich streckt, nicht enden will, vorbei an schmucklosen Trabantensiedlungen und Gewerbegebieten, in denen auch deutschbekannte Namen wie Bauknecht, Media Markt, Ikea präsent sind.
Dann, irgendwann, plötzlich grasen Pferde an der Autobahn, die Hänge sind tiefgrün – Istanbul ist zu Ende, das Land beginnt. Husarenknöpfchen, Mohn, Rittersporn, Lupinen wachsen neben der Straße Richtung Ankara. Oh, Lob dem Hochsitz!: Wer auf ein Meter achtzig Höhe sitzt, kann tief blicken. So schauen wir hinab auch in die Schluchten des bewaldeten Mittelgebirges Köroglu Dagliari, das bis zu 2.400 Meter hoch reicht und benannt ist nach dem türkischen Robin Hood des 16. Jahrhunderts. Über uns spannt sich ein weiter blauer Himmel – man könnte an Urlaub denken.
Es geht bergauf, bergab, die Autobahn zieht sich als grausilbernes Band durch eine wundervolle Landschaft. Schlaffer konzentriert sich. Bei 15% Neigung dürfen 31 Tonnen nicht außer Kontrolle geraten.
Von Weitem schon leuchten die Dächer der oft erst in den letzten Jahren erbauten Moscheen, weisen ihre Minarette wie rundgespitzte Finger auf Allahs Allmächtigkeit. Erdogan hat in den zehn Jahren seiner Regierung eine nie dagewesene ökonomische Dynamik freigesetzt, doch in der Provinz wird deutlich, was er auch wollte: die nationalstolze Re-Islamisierung der Türkei. Jede Siedlung präsentiert eine eigene Moschee. Diese ist selbst Zeugnis einer »neuen« Türkei: aus vorgefertigten Betonteilen baukastengleich zusammengesetzt, mal größer, mal kleiner, von traditionellem Handwerk kaum eine Spur.
Wir rollen mit dem Warenstrom über die Straße, links und rechts von uns rechen Bauern, hüten Hirten Schafe, führen Frauen Ziegen an Leinen, in den Dörfern grasen die Kühe schon einmal auf Fußballfeldern – und auf den Dächern strahlen Parabolantennen und Sonnenkollektoren in die aufsteigende Wärme.
Bei Gerede verlassen wir die Autobahn und fahren auf die Bundesstraße 100 Richtung Merzifon, die Landschaft wird karstig. Nur noch vereinzelt sind Bäume und Sträucher wie Pompoms hingetupft auf ockerfarbenen Boden, die Dörfer schrumpfen zu Ansiedlungen, die sich an die Straße lehnen. Für einen Abstecher ins nördlich liegende Safranbolu und seine bezaubernden Fachwerkhäuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert bleibt keine Zeit: Die Rallye Schlaffer ist immer auch eine gegen sich selbst und die Zeit.
Hinter Ilgaz dann Reisfelder, in denen die Alten gebückt arbeiten, Reisfelder, in denen Störche und Reiher stehen, Frösche und Kröten in die Mittagshitze bölken. Von den Kuppen immer wieder der Blick über diese weite Landschaft, ihre bezaubernde Leere. Dünn besiedelt, geprägt von tiramisufarbenen Buckeln, deren Oberfläche zerfurcht ist wie die Rinde alter Olivenbäume. Und auch hier, wo der Warenstrom ein wenig tröpfelt, grüßt allüberall der türkische Halbmond – für mitteleuropäische Augen auf gigantischen Fahnen an übertrieben hohen Masten.
Nachdem wir im Irgendwo ein traumhaftes Lammköfte gegessen haben, erreichen wir schließlich Samsun, mit 570.000 Einwohnern die größte Stadt der türkischen Schwarzmeerküste.Samsun ist jetzt schon nicht schön, doch nun wird eine neue Straße aufgeständert – zwischen Meer und Stadtrand wird so der Blick verbaut, der Wind vom Meer den Lärm des vier- bis sechsspurigen Verkehrs in die Stadt tragen… Nach dreißig Minuten Kriechgang haben wir den Krach der Maschinen hinter uns, fahren auf der Bundesstraße 100 weiter, Ziel Trabzon.
Links das Schwarze Meer – auch hier sind die Möwen weiß und das Wasser bunt –, Pinien und Felder, rechts die Berge des bis zu 4.000 Meter ansteigenden Pontischen Gebirges Kuz ey Anadolu Daglari, die uns bis Georgien begleiten werden. Bis auf wenige Kilometer führt die Straße direkt am Meer entlang, durch Ünye und seinen kleinen Hafen, entlang des Boulevards von Fatsa, an dem Palmen stehen und Oleander blühen, durch Gülyali und Piraziz.
Gebrochen wird der Zauber allenthalben durch die Ansicht der Orte und ihrer Randbauten – dünne Betonskelette, die, mit Ziegelsteinen aufgefüllt, abschließend gestrichen werden, schon im Entstehen dem Verfall übergeben, oftmals nicht zu Ende gebaut: Das letzte Stockwerk hat kein Dach, die Betonsäulen ragen wie abgebrochen hinauf ins Nichts. Manchmal sind Stockwerke bewohnt, andere dazwischen nicht, sind hier auch die Fassaden nicht zugemauert.
Açkakale ist bezaubernd, petit Nice am Schwarzen Meer: Oleander, Palmen, Pinien, von Balkonen ranken Blumen, nach Schokolade schmeckt die Luft – eine Taube knallt gegen die Scheibe. Als 45 Minuten später eine zweite zerschellt, kommentiert Schlaffer: »Ah, geh.. Das ist Routine.«
Weiter, weiter, an Trabzon vorbei, weit ist es nicht mehr bis zur Grenze. Die Grenze, die Teil des Eisernen Vorhangs war, Front zwischen dem NATO-Partner Türkei und der UdSSR und ihrer Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien. Auf der türkischen Seite nehmen sich die Grenzer jene Zeit, die ein Trucker nicht hat. Wir werden aus der Reihe heraus- und zurückgewunken: Der Wagen soll geröntgt werden. Schlaffer fühlt sich als Österreicher willkürlich misshandelt und entspannt sich erst, als auch zwei türkische Trucks und ein aserbaidschanischer hinter uns in die Scannerschlange einbiegen. Die Zeit vergeht – während bei 28 Grad der kleine Grenzverkehr fließt, müssen die Elefanten warten. Hans Schlaffer sitzt an seinem Lenkrad wie ein missgelaunter Adler in seinem Horst und grimmt seinen natürlichen Feinden, den Zoll- und Grenzbeamten, den Polizisten aller Länder. Nach fast fünf Stunden sind wir durch und fahren im Schritttempo nach Georgien hinein.
Sprachen der Straßen
Georgien ist eingekeilt zwischen Kleinem und Großem Kaukasus im Süden und Norden, dem Schwarzen Meer im Westen und Aserbaidschan im Osten. Um die 4,7 Millionen Einwohner hat es, sucht seinen eigenen Weg zwischen West und Ost. Arm ist es, das Land. Und reich.
Schlaffer hat in den Grenzwirren Hussein getroffen, einen Aserbaidschaner, der mit noch mehr Trickwasser gewaschen ist als Schlaffer selbst. Die Sprache der Straßen: das Trucker-Esperanto. Ein babelgleiches Kauderwelsch aus vielen Sprachen und Dialekten, gewürzt mit Aufmerksamkeit, Blickkontakt,Mimik und Gesten – die Herren verstehen sich. Hussein kennt, wie er sagt, die beste Strecke nach Tiflis – abgemacht, er führt vor uns her. So entstehen Konvois und flüchtige Partnerschaften. Kurz hinter der Grenze setzt sich Hussein vor uns. Noch 380 Kilometer.
Wir überqueren den Tschorochi. Der Himmel bleibt der gleiche, die Armut wird eine andere. Was wir bei der Fahrt durch die südlichen Vororte von Batumi, traditionelles Seebad am Schwarzen Meer, sehen müssen, verschlägt den Blick, verbietet das Fotografieren: Wir schauen in Garagen, in denen Männer im Halbdunkel sitzen vor getürmtem Müll, der irgendeinen Wert haben muss; verrostete Gerüste, die einst helfen sollten, etwas zu bauen, das man heute nicht mehr ahnen kann; Wellblechhütten zwischen maroden Silos, an denen die Wäsche im Staub der schlaglöchrigen Straßen trocknet – zuviel des Maroden, des Kaputten, zu dem das geputzte »Batumi Art Center« nicht passen will.
Hinter Batumi führt die Straße wieder am Meer entlang, gesäumt von Kiefern und Pinien, sonnenbeschienen. Hussein lenkt seinen Elefanten in eine Stichstraße, wendet, parkt. Hier Pause?, wo? Doch hinter Bäumen und Sträuchern steht eine … eine Bude, deren Fassade mit Bodenlaminat verkleidet ist. »I know it here, good place to have a coffee«, entscheidet der Aserbaidschaner und fällt auf die grob gezimmerte Holzbank vor der Hütte.
Zwei Frauen erscheinen, fragen nach den Wünschen der einzigen Gäste, tragen Kaffee und Tee auf, die »Chaka« und »werry gutt chicken«, während fünf weitere Damen, immer etwas und noch mehr überschminkt, von schlank bis sehr vollschlank, gekleidet zwischen Geschmack und seinem Gegenteil, eine nach der anderen sich am Tisch vorstellen: »Hello, I’m …«. Langsam, aber doch wird klar, dass es sich um ein »Restaurant« mit speziellem Angebot handelt. Aufdringlich sind die Frauen nicht, der potenzielle Freier muss selbst entscheiden, ob er die angebotene Spezialität annimmt. Auch Hussein ist enttäuscht, als wir nicht zugreifen – das schmälert seine Provision, die ihm die Hausdame schließlich zusteckt.
Noch ein Stück weiter geht es auf der »Europastraße 97«, vorbei an Datschen und Onkel-Wanja-Häuschen, die aufs Meer schauen und vom gierigen Zahn der Zeit erzählen. Hinter Kobuleti geht es dann fort vom Meer ins Landesinnere, die Straße wird zu einem Asphaltfladen, hingegossen über Schotter, der sich durch die dünne Straßendecke drückt. Vorbei an Menschen, die Schafe, Ziegen, kleine braune Rinder hüten, durch Dörfer, die keine Bürgersteige kennen und keine Beleuchtung, in denen Jugendliche auf Mauern hocken und auf die Zukunft warten. Und immer wieder diese großen Kreuze an der Straße. 85% der Georgier sind Christen, zählen sich zur Georgischen Orthodoxen Apostelkirche. Auch in Nigotti steht solch ein Kreuz, bestimmt drei Meter hoch, mit einer LED-Lichtschnur behangen, leuchtet es blau in den aufziehenden Abend.
120 Kilometer vor Tiflis braucht Hussein eine Pause, wir fahren auf den Parkplatz des »Zobul Euro Park«, werden durch die Küche, in der ein alter Mann Gemüse schneidet, in den »Gastraum« geführt: rotes Kunstleder auf den Bänken, türkische Diskowumme aus dem Ghettoblaster, Madonna ist unsere Tischdame, radebrecht von »welcome« und »whatjuwant«, trägt Tee auf. 30 ist sie, ein sehr kleiner, sehr rot geschminkter Spatzenmund –, sie hat eine 12-jährige Tochter. Wie könnte sie sonst Geld verdienen in dieser Gegend, in der nur nichts ist? Die Schattenwirtschaft, die dem Überleben gilt, muss gigantisch sein in Georgien. – Wieder fällt sie schmal aus, die Provision, als wir nach einer Stunde aufbrechen.
Als leuchtende Perlenschnur zieht sich die Autobahn die letzten 100 Kilometer Richtung Hauptstadt. In Tiflis angekommen, heißt es Auf Wiedersehen – Hans Schlaffer, der passionierte Kilometerfresser, wird alsbald abladen, aufladen, zurück nach Istanbul liefern, den bislang gefahrenen 4,5 Millionen Berufslebenskilometern einige hinzufügen. Ich bleibe.
Gäste, Freundschaft und das Leben
Der Fluss zieht durch seine Stadt und teilt sie. Der Mtkwari ist gesäumt von vollen Platanen, die an Straßen stehen, auf denen es kein Tempolimit gibt. Von zehn bis zwanzig Uhr fließt hier ein solcher Verkehr, dass die Hälfte der Einwohner im Auto sitzen muss, ständig von links nach rechts führt und zurück. Ohne Hupen geht nichts in diesem Geschwindigkeitskampf ums Vornesein, was immer dort sein mag.
Rachel Gratzfeld streitet für Georgien auf ihre Weise: Sie, die eigentlich in Zürich lebt und dort für den Klett Verlag arbeitet, ist auch Agentin für georgische Literatur, sucht Autoren mit ausländischen Verlagen zusammenzubringen, vermittelt Übersetzer, engagiert sich in der Übersetzerförderung – alles, was der Verbreitung der georgischen Literatur dienen kann. Die eher zurückhaltend wirkende Frau leuchtet, wenn sie von Georgien und seiner Sprache erzählt: »Die Menschen hier lieben es, Geschichten zu hören und zu lesen, Georgien hat eine wunderbare Erzähltradition, schon wegen der orientalischen Einflüsse.« Aktuell bemüht sich Georgien darum, Gastland der Frankfurter Buchmesse zu werden. Überhaupt ist das Land stolz auf seine Kultur, seine Theater- und Musiktradition, sein Kunsthandwerk.
Man sieht Mädchen mit und ohne Kopftücher, Burkas, orthodoxe Christen, Popen, Rotschöpfige, Dunkelhäutige mit den asiatischen oder orientalischen Gesichtszügen ihrer Vorfahren, selten einen Kaftan, Russen aus allen Regionen, Aserbaidschaner, Armenen, Aramäer – Tiflis war immer schon ein kultureller Tiegel. Vielleicht leben im Stadtgebiet 1,3 Millionen Menschen, mehr, weniger? Niemand weiß es. Die allermeisten von ihnen haben nichts, sehr wenige alles, die wenigen dazwischen etwas. Die UNO schätzt, dass etwa 70 % der Georgier kein geregeltes Einkommen im westlichen Sinne haben. Grundsicherungen wie Arbeitslosengeld oder Krankenversicherungen gibt es nicht, der Familienverband sorgt für die Existenz. Doch wenn Sie länger auf der Stelle stehen, wird man Sie ansprechen, Ihnen helfen, auch ungewollt, zurück in Ihr Hotel zu finden: Georgier schützen ihre Gäste, deshalb auch gibt es kein aggressives Betteln. Für Westeuropäer ist diese Gastfreundschaft so außergewöhnlich wie die gelebte Bedeutung von Tradition, Familie und Religion. Doch auch in Georgien lösen sich diese Werte langsam auf, ohne dass neue entstünden. Religion ist, wo die alte Ordnung ins Schwimmen kam, wohl eine Planke, an der die Menschen sich festhalten – es wundert nicht, dass der Einfluss der orthodoxen Kirche wieder zunimmt.
Die Gegenwart ist auch nicht einfach
Alexander Kharlamow treffe ich im »people’s«, einem dieser neuen Lifestyle-Lounge-Restaurants, die es so auch in Hamburg oder Wien gibt. Kharlamow – einer von vielen mit deutschen Vorfahren: beide Urgroßmütter Deutsche, Mutter Russin, Vater Georgier – ist Geschäftsführer bei Gebrüder Weiss, die alsbald ein Logistikterminal am Rand der Stadt eröffnen werden. 240 Arbeiter aus Bulgarien, Aserbaidschan, Georgien und der Türkei werden in zwei Schichten täglich an sieben Tagen die Woche in nur sechs Monaten dieses 10.000 Quadratmeter große Hightechcenter, »a church of markets«, gebaut haben. Mit Kharlamow begegne ich einem modernen Patrioten, der stolz ist auf das Erreichte. In den letzten Jahren sei die Korruption fast verschwunden, der Staat funktioniere besser, die Polizei sei beliebt, es gebe mehr Arbeit. Tatsächlich ist laut IWF das Pro-Kopf-Jahreseinkommen auf rund 3.500 US-Dollar gewachsen – das sind 7 % von dem, was Österreicher im Jahr verdienen. Georgien liegt damit auf Platz 114 der erfassten Länder, gefolgt von Swasiland. Die Exporte von Wein, Früchten, Mineralwasser und anderen Gütern aber nehmen zu, der Tourismus aus westlichen Ländern wächst. Der langsame Weg in eine eigene Zukunft sei gleichwohl schwierig, sagt Kharlamow, und hat Sorge, dass das Land sich wieder zu sehr dem Russland Putins nähert.
Tiflis ist ein Palimpsest, in seiner Geschichte vielfach überschrieben von Eroberern, Römern, Mongolen, Osmanen, 1924 von der Roten Armee. Immer wieder zerstört, immer wieder aufgebaut. Heute gibt es kaum ein Haus, das älter ist als 150 Jahre. Wenn es regnet, riecht es in den vielen Gassen, in denen seit der Zaren Zeiten nichts passiert ist, schwer nach dem Moder und Schimmel vom feuchten Holz der verfallenden Balkone, Türen, Fenster und Fassaden. Doch aus den Ruinen dringen Stimmen, klingt Musik und Streit – in diesen Trümmern leben Menschen. Hier ist Schluss mit jeder verklärendmelancholischen Poesie des Verfalls.
Was seit der Unabhängigkeit Georgiens im April 1991 neu oder umgebaut wurde, steht poststalinistisch oder angelehnt an die Glasstahlarchitektur des Westens oder charakterlos gegen das alte. Der Präsidentenpalast ist ein vielfaches größer als Schloss Bellevue, das Parlament ein übergroßer Säulenbau, das Wohnhaus eines Oligarchen eine imposante Mischung aus Versuchslabor, Autovertretung und Raketenbasis.
Familienhabe, Orden und andere Devotionalien aus alten Zeiten, georgische Schnitzkunst und Ikonen, dazwischen wenige gebrauchte Handys und viele Bücher: Flohmarkt am Mtkwari. Freundlich sind die Menschen und neugierig auf die Gäste aus anderen Ländern, sie stellen Fragen nach dem Woher und Wohin.
Tage in Tiflis, das seit 1936 Tbilissi heißt. Eine Stadt wie der Straßenköter, der in einem Café um die Tische wedelt: voller fetter Zecken, lange nicht gewaschen, die Seele wimmert aus erweichenden Augen, verspielt und ängstlich, ein anmutiges Tier mit weißer Blässe im schwarzen Fell. Die Stadt ist schön. Die Stadt ist Hölle. Tiflis – Eigenwerbung: »The city that loves you.« – ist abenteuerlich, bezaubernd, abgründig traurig, ist verkommen und modern, eigenwillig, arm, ärmer, reich, reicher.
Die »Reise« ist zu Ende. Hier das Turbowirtschaftsland, das in die EU will und angesichts seiner despotischen Regierung nicht dürfen sollte, dort das andere, das nach der Auflösung der UdSSR wirtschaftlich völlig zusammenbrach und sich langsam wieder aufrappelt. West, Ost, und sich doch ähnlich in den immer lauter werdenden politischen und kulturellen Widersprüchen: Die jeweils orthodox ausgelegte Religion prallt auf eine Wirtschaft, die keine Grenzen kennt, sich zumeist um Moral und Rücksicht wenig scheren will. Der neuen Städtergeneration, die ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, Toleranz, Weltoffenheit will, steht hier wie dort eine durch die Jahrhunderte geprägte bäuerliche Kultur entgegen. Die Menschen aber eint ihre Gastfreundschaft, die Länder die Schönheit ihrer Landschaften und das Meer, dessen Küste sie teilen.
Rainer Groothuis, geboren 1959 in Emden / Ostfriesland, ist Gesellschafter der Kommunikationsagentur Groothuis.